IPv6: Migrationsdruck nimmt langsam zu

23.01.2002
Von Martin Seiler

Im LAN-Bereich liegen nach Ansicht von Oliver Flüs, Leiter Netzwerkbetrieb und -anwendungen bei der Comconsult Beratung und Planung in Aachen, die Dinge anders. "Mit der Möglichkeit, private Adressen zu nutzen, ist das einzige Argument, das früher oder später zum Umstieg auf IPv6 gezwungen hätte, nämlich die knappen Adressen, hinfällig", resümiert der Consultant. Für Flüs muss deshalb ein interessanter Anreiz für den Einstieg in die 6er Technik aus einer anderen Richtung kommen. Ein Argument für den Wechsel könnte ein Problem sein, auf das Siemens-Mann Brandner hinweist: Mit den heute noch erhältlichen IP-Adressen kann nur schwer ein hierarchischer Adressbaum aufgebaut werden, da mit den Class-C-Nummern kein zusammenhängender Adressraum gebildet werden kann. Einig sind sich Flüs und Brandner aber, dass die Umstellung des Netzequipments bei der Migration nur die halbe Miete

ist und die eigentliche Arbeit für die Anwender auf der Applikationsseite lauert, oder um KKFnet-Vorstand Keilwerth zu zitieren: "Hier wartet eine Höllenarbeit." Weshalb wohl viele kleine und mittlere Unternehmen noch lange das für ihren Adressbedarf ausreichende IPv4 nutzen werden, während Carrier, Provider und globale Companies IPv6 migrieren dürften.

Produkte für IPv6

Während Strategen noch darüber orakeln, wann sich das Internet Protocol der nächsten Generation auf breiter Front durchsetzt, hat die Industrie größtenteils schon Fakten geschaffen. Zahlreiche Hardware- und Softwarehersteller liefern ihr Equipment oder die Betriebssysteme bereits mit IPv6-Funktionalität aus. Theoretisch hätten die meisten Anwender also bereits heute die Möglichkeit, erste Erfahrungen mit dem Protokoll zu sammeln, wenn sie die im Verborgenen schlummernden Produkt-Features nutzen würden. Seitens der Hardwarehersteller liefern Unternehmen wie 3Com, Cisco, Ericsson, Hitachi, Nokia, Nortel Networks oder Juniper, um nur einige der großen Player zu nennen, bereits seit längerem IPv6-fähige Produkte aus. Je nach Anbieter handelt es sich dabei nur um einzelne Geräte oder um eine komplette Familie, die das gleiche Hardware-Betriebssystem (etwa Ciscos IOS ab der Version 12.2) verwendet. Ein Blick auf die Endgeräte zeigt ferner, dass die oft geäußerte Befürchtung, eine IPv6-Einführung könnte dort an der fehlenden Unterstützung scheitern, kaum zutrifft. So gehört das neue Protokoll bei aktuellen OS-Versionen wie Mac OS X, Linux seit Kernel 2.1.8, Windows XP Professional oder HP UX11i zum guten Ton. Lediglich Anwender, die auf Netware setzen, suchen vergeblich nach einer Unterstützung. In der "Knowledge Base" von Novell ist lediglich der lapidare Hinweis zu finden, dass der eigene TCP/IP-Stack zurzeit IPv6 nicht unterstützt.

Das bereits heute breite Bekenntnis zur nächsten Internet-Protocol-Generation kann jedoch über eines nicht hinwegtäuschen: Die einzelnen Herstellerimplementierungen unterscheiden sich hinsichtlich der Funktionalität noch gravierend. Erschwerend kommt hinzu, dass einige Standardisierungsfragen im Zusammenhang mit IPv6 noch nicht gelöst sind, wie etwa die Realisierung von NFS in Unix Datacenter. Hier fehlt noch eine native Implementierung. Angesichts dieser Unzulänglichkeiten warnen Hersteller wie Microsoft ausdrücklich vor einem Einsatz ihrer Stacks in kommerziellen Umgebungen und betonen den Testcharakter der verfügbaren Versionen. Und genau diese Chance zum Testen sollten die Anwender nutzen, um unter Laborbedingungen bereits heute Erfahrungen zu sammeln. Unter Umständen hält nämlich die sechste Protokollgeneration in der Praxis schneller Einzug, als vielen IT-Managern lieb ist. Probleme machen

könnten dabei nicht in erster Linie Netzprodukte wie Router, die mittels Software-Update und Speicher-Upgrade aufgerüstet werden, als vielmehr Applikationen, die auf den IP-Sockets aufsetzen - in Zeiten der Web-Service-Manie sind davon selbst Applikationen wie SAP R/3 betroffen.