Computerwoche-Round-Table „Cloud ERP“

ERP ist tot – lang lebe Cloud ERP

24.06.2020
Von 
Dr. Andreas Schaffry ist freiberuflicher IT-Fachjournalist und von 2006 bis 2015 für die CIO.de-Redaktion tätig. Die inhaltlichen Schwerpunkte seiner Berichterstattung liegen in den Bereichen ERP, Business Intelligence, CRM und SCM mit Schwerpunkt auf SAP und in der Darstellung aktueller IT-Trends wie SaaS, Cloud Computing oder Enterprise Mobility. Er schreibt insbesondere über die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen IT und Business und die damit verbundenen Transformationsprozesse in Unternehmen.
ERP aus der Cloud wird für viele Unternehmen immer interessanter. Gerade wenn es um die digitale Transformation geht, braucht es Agilität und Flexibilität. Wie das ERP-Betriebsmodell der Zukunft aussehen kann, haben die Teilnehmer des von der COMPUTERWOCHE organisierten Round Table "Cloud ERP" diskutiert.
Ob die Cloud wirklich den Königsweg für den künftigen ERP-Betrieb bietet, ist noch nicht endgültig ausgemacht. Neue Optionen bietet das neue Betriebsmodell jedoch allemal.
Ob die Cloud wirklich den Königsweg für den künftigen ERP-Betrieb bietet, ist noch nicht endgültig ausgemacht. Neue Optionen bietet das neue Betriebsmodell jedoch allemal.
Foto: tomertu - shutterstock.com

Einigkeit herrschte bei den Teilnehmern des Roundtable darüber, dass ERP-Systemen auch im Zeitalter von Machine Learning (ML) und Künstlicher Intelligenz (KI) eine Schlüsselrolle bei der Unternehmensplanung und -steuerung zukommt. Laut Frank Braun, Head of Global Marketing, CSB-System AG, "ist ERP weiterhin der zentrale Daten-Hub in Unternehmen".

Auch für Karsten Heise, Services Engagement Manager ERP bei Unit4, steht außer Frage, dass das klassische ERP-System auch in Zukunft bestehen bleiben wird. Es müsse aber flexibler, anpassungsfähiger und offener werden. Dietmar Winterleitner, Geschäftsführer Österreich bei Cosmo Consult, prognostizierte für ERP eine Entwicklung von der Daten- zur Prozessdrehscheibe.

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Wann ist ERP ein Cloud ERP?

Doch welche Rolle spielt dabei die Cloud, und was ist Cloud ERP? "Beim Cloud ERP handelt es sich um eine native Software-as-Service-Lösung, nicht bloß um ein gehostetes ERP-System", verdeutlichte Horst Lambauer, Senior Director Cloud ERP bei der All for One Group. Bereitgestellt wird ERP als SaaS entweder in Form einer Single- oder einer Multi-Tenant-Lösung.

Bei der multimandantenfähigen Variante betreibt der Anbieter ein weitgehend standardisiertes ERP-System für alle Kunden vollständig aus einer Public-Cloud-Infrastruktur heraus. Die Anwender beziehen die benötigten Funktionen als Dienstleistung aus dem Internet, ohne sich um Betrieb und Administration kümmern zu müssen. Allerdings "bezahlen" sie diesen Komfort mit Einschränkungen bei der Anpassungsfähigkeit der Lösung. Deutlich mehr Flexibilität in Bezug auf individuelle Modifikationen bietet eine Single-Tenant-Lösung, eine maßgeschneiderte Systemlandschaft auf Basis einer Cloud-Infrastruktur.

ERP-Einführung - in Monaten statt Jahren

Für Florian Häußler, CEO bei Innovabee, stellen vor allem die vordefinierten und vollständig dokumentierten End-to-End-Prozesse einen wesentlichen Vorzug eines cloud-basierten ERP-Systems dar. "Das beschleunigt Einführungsprojekte dramatisch. So lassen sich beispielsweise SAP-Einführungsprojekte in vier bis acht Monaten durchführen statt, wie bei vergleichbaren On-Premises-Einführungsprojekten, in ein bis zwei Jahren." Besonders für Unternehmen, die schnell wachsen oder durch einen Carve-out entstanden sind und in sehr kurzer Zeit ein ERP-System benötigen, ist das ein kritischer Aspekt. Auch Workshops gestalten sich bei Cloud ERP-Projekten erfahrungsgemäß deutlich einfacher und lassen sich weitgehend remote durchführen - gerade in Zeiten der Corona-Pandemie ein großer Vorteil.

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Doch was sind das für Firmen, die sich für Cloud ERP als Alternative zum On-Premises-Betrieb interessieren? "In erster Linie ist Cloud ERP für kleinere mittelständische Firmen und schnell wachsende Start-ups eine attraktive Option", weiß Christian Leopoldseder, Geschäftsführer Österreich bei Asseco Solutions. Im klassischen Mittelstand beobachtet er gegenwärtig dagegen wenig Bereitschaft, die Kerngeschäftsprozesse in die Cloud zu verlagern. Ganz ähnlich schätzt Tim Langenstein, Geschäftsführer bei e.bootis, die Situation ein. "Bei unseren mittelständischen Kunden ist die Zurückhaltung noch groß, ihr ERP-Kernsystem jetzt oder in naher Zukunft durch Cloud ERP zu ersetzen. Allenfalls einzelne Prozesse werden bereits in Form eines Cloud-Service genutzt." Nach den Erfahrungen von Innovabee-Chef Häußler gilt es hier jedoch zu differenzieren: Inhabergeführte Mittelständler, die den Generationswechsel schon vollzogen haben, sind oft recht interessiert am Thema Cloud ERP, weil die jüngere Generation mit Cloud-Apps und -Applikationen durchaus vertraut ist.

Kosten-Nutzen-Relation muss stimmen

Der Knackpunkt für die Entscheidung für oder gegen die Cloud ist jedoch der Kosten-Nutzen-Faktor. "Wer den Entschluss fasst, ein Cloud ERP zu nutzen, der erwartet einen schnellen Return on Investment (ROI) und zugleich einen konkreten Nutzen: größere Agilität oder mehr Raum für wertschöpfende Tätigkeiten durch eine Standardisierung und Automatisierung der Prozesse", erklärt Volkmar Fölsch, Industry Solution Executive Oracle Cloud Applications bei Oracle. Jens Krüger, CTO EMEA bei Workday, gibt zu bedenken, dass der Anstoß dafür, Prozesse in die Cloud zu verlagern, unter Berücksichtigung aller Nutzenaspekte und einer ROI-Betrachtung stets vom Business ausgehen muss.

Vor allem im Mittelstand wachse die Bereitschaft, Cloud ERP zu nutzen, sobald es das Geschäftsmodell erfordert, bekräftigt Lambauer von der All in One Group. Ein Mittelständler, der in neue Märkte expandiert, sei es durch eigene Werke, Vertriebsgesellschaften oder Zukauf, muss versuchen, seine Geschäftsprozesse standortübergreifend zu harmonisieren. Doch der Roll-out eines vorhandenen ERP-Systems mit seinen definierten Prozessen vor allem in kleinere Gesellschaften ist zu komplex, zu aufwendig und zu teuer. An eine ERP-Cloud-Software lassen sich kleine Auslandsstandorte aber unkompliziert anbinden und mit den nötigen Funktionen versorgen, sodass Prozesse standortübergreifend vereinheitlicht und compliance-konform durchgeführt werden können. Dazu muss das Cloud ERP mit der zentralen On-Premises-Installation verknüpft sein und bidirektional mit ihr Daten austauschen.

Studie "Cloud ERP": Sie können sich noch beteiligen!

Zum Thema Cloud ERP führt die COMPUTERWOCHE derzeit eine Multi-Client-Studie unter IT-Entscheidern durch. Haben Sie Fragen zu dieser Studie oder wollen Sie Partner werden, helfen Ihnen Frau Regina Hermann (rhermann@idgbusiness.de, Telefon: 089 36086 384) und Frau Nicole Bruder (nbruder@idg.de, Telefon: 089 360 86 137) gerne weiter. Informationen zur Cybersecurity-Studie finden Sie auch hier zum Download (PDF).

ERP als Hybrid-IT-Plattform

Dieses Beispiel beweist: Die Zeiten zentraler, monolithischer ERP-Systeme sind vorbei, der Trend geht zu offenen, hybriden ERP- und Prozessplattformen. Bestimmte Kernprozesse werden "on premises" im ERP betrieben, das sich bei Bedarf durch standardisierte Cloud-Angebote, maßgeschneiderte Cloud-Applikationen und mobile Services von einer Cloud-Plattform nahtlos erweitern lässt. "Es gibt somit ein stabiles und schlankes ERP-Kernsystem, das mit einem cloud-basierten und flexiblen Innovationssystem gekoppelt ist", so Lambauer.

Das setzt jedoch voraus, dass es sich um eine offene ERP-Plattform handelt, die sich mit den Cloud-Lösungen und -Plattformen anderer Hersteller vernetzen lässt und reibungslos mit ihnen kommuniziert. So wird auch der klassische Best-of-Breed-Ansatz durch die Hintertür wieder zu neuem Leben erweckt. Mit der so entstandenen hybriden IT-Landschaft wird zugleich der Grundstein gelegt für eine "IT der zwei Geschwindigkeiten", Gartner bezeichnet dies als "bimodale IT", die Unternehmen zu der Agilität und Flexibilität verhilft, die ihnen der digitale Wandel abverlangt.

Umgekehrt entsteht eine hybride ERP-Landschaft auch dort, wo die Zentrale mit einer Cloud-Lösung arbeitet, der Roll-out in einzelne Standorte aber "on premises" erfolgen muss, weil diese nicht über die erforderliche Internetbandbreite verfügen. Ist bereits ein Cloud ERP im Einsatz, dessen Kernprozesse durch eine Cloud-CRM- und eine Cloud-BI-Anwendung sowie durch Cloud-Apps erweitert werden, sei es für die Daten- und Prozessintegration ein großer Vorteil, wenn sämtliche Applikationen auf einer einzigen Cloud-Plattform basieren und darauf betrieben werden. "Genauso wichtig ist, dass alle Cloud-Applikationen dem Endanwender ein einziges, einheitliches Front-End und damit eine optimale User Experience bieten", ergänzt Oracle-Manager Fölsch.

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Stiefkind Bezahlmodelle

Großer Nachholbedarf herrscht in Bezug auf die Bezahlmodelle. Auch bei der Nutzung von Cloud-Lösungen dominiert das klassische Subskriptionsmodell, zum Teil erweitert durch individuelle Metriken. "Die Bezahlung nach dem Pay-per-Use-Konzept, zum Beispiel die Abrechnung nach der Anzahl der Transaktionen in einem Lager, ist noch kaum verbreitet. Die Unternehmen sind noch nicht bereit dafür", so Leopoldseder von Asseco Solutions. "Außerdem gilt es bei Pay-per-Use den Spagat zu schaffen zwischen dem, was einkalkuliert wird, und dem, was nicht einkalkuliert wird. Die Preisgestaltung - das gilt übrigens für jedes Preismodell - muss vollständig transparent sein", ergänzt Lambauer.

Uneins waren sich die Teilnehmer des Roundtable, ob Cloud ERP das Mittel der Wahl ist, wenn es um die Standardisierung der Geschäftsprozesse geht. Für Langenstein von e.bootis ist Prozessstandardisierung kein Cloud-Thema: "Unsere Kunden aus dem Handel decken in der Regel 80 bis 90 Prozent ihrer Geschäftsanforderungen mit ERP-Standardfunktionen ab. Der Rest sind oft individuelle Prozesse, aus denen die Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil ziehen und die, würde man sie standardisieren, zu Nachteilen führen würde."

Umgekehrt wird die Entscheidung gegen Cloud ERP oft mit dem hohen Standardisierungsgrad der Prozesse und der fehlenden Möglichkeit für individuelle Anpassungen begründet. Dem widerspricht Workday-Manager Krüger: "Die neue Generation von Cloud ERP-Systemen bietet out of the box mehrere Hundert Standardprozesse, aber sie lässt sich auch flexibel an individuelle Anforderungen anpassen. Die Konfiguration unterscheidet sich jedoch grundlegend von der eines On-Premises-ERP, denn die Entwicklung von Funktionserweiterungen oder neuen Apps erfolgt auf Basis derselben Cloud-Services, auf denen auch die Kernanwendungen des Cloud ERP basieren."

Ein Blick in die ERP-Zukunft

Als Ergebnis der Diskussion lässt sich sagen, dass viele Firmen SaaS-Cloud-Lösungen für das Kundenmanagement (CRM) oder für bestimmte HR-Prozesse ganz selbstverständlich und schon lange nutzen. Beim Cloud ERP liegt die Hemmschwelle deutlich höher, doch es gewinnt an Bedeutung, unter anderem im Hinblick auf die Anforderungen, die mit der Vernetzung von Geschäftsprozessen im Zuge des digitalen Wandels einhergehen. Eine Cloud-only-Strategie für ERP ist außer für Start-ups und schnell wachsende Firmen zum gegenwärtigen Zeitpunkt für die meisten Unternehmen (noch) keine Option. Sie bevorzugen ein hybrides Betriebsmodell, das On-Premises-Lösungen und Cloud-Angebote kombiniert.

Rundum Einigkeit herrschte darüber, dass integrierte ERP-Systeme weiterhin das Herzstück bei der Abwicklung kritischer Kernprozesse bilden werden. Zudem sei das ERP, anders als von Auguren vorhergesagt, noch lange nicht tot, sondern, im Gegenteil, quicklebendig.