Enterprise Resource Planning

ERP auf dem Weg zum digitalen Prozess- und Daten-Hub

21.08.2019
Von 
Martin Bayer ist Chefredakteur von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO. Spezialgebiet Business-Software: Business Intelligence, Big Data, CRM, ECM und ERP.
Mit der Digitalisierung müssen sich auch die ERP-Systeme verändern. Doch während die Anbieter mit Hochdruck an neuen Lösungen arbeiten, tun sich viele Anwender schwer damit, ihre ERP-Monolithen zu modernisieren oder abzulösen.

Und er bewegt sich doch - der Markt für Enterprice Resource Planning (ERP). Lange Zeit schienen Anwendungen für Finanzbuchhaltung, Auftragsbearbeitung, Produktionsplanung und Materialwirtschaft immun gegen die Auswirkungen der Digitalisierung. Während die Cloud und neue Technologien die Flanken der IT-Infrastrukturen aufwirbelten, residierten die ERP-Monolithen fest verankert im Backend-Kern vieler Unternehmen - scheinbar unantastbar, das Fundament eines stabilen und sicheren IT-Betriebs.

Im Markt für Enterprise-Resource-Planning-Lösungen (ERP) könnte es stürmisch werden.
Im Markt für Enterprise-Resource-Planning-Lösungen (ERP) könnte es stürmisch werden.
Foto: Romolo Tavani - shutterstock.com

Doch das scheint sich nun zu wandeln. Die ERP-Landschaft werde sich deutlich verändern, sagt Frank Termer, Bereichsleiter Software beim Bitkom. "ERP-Systeme als der digitale Prozess- und Datenhub in Unternehmen werden immer stärker mit KI-Technologien angereichert." Durch die Einbindung von IoT-Plattformen werde sich der ERP-Markt zudem weiter öffnen. Termer sieht KI als Schlüsseltechnologie für die zweite Welle der Digitalisierung in den Anwenderunternehmen.

Das dürfte die ERP-Geschäfte weiter am Laufen halten. 2018 war der globale ERP-Markt knapp 35 Milliarden Dollar schwer, berichtete Gartner Anfang Juli. Gegenüber dem Vorjahr bedeutet das ein Wachstum von zehn Prozent. 2017 hatte der Markt um elf Prozent auf gut 31 Milliarden Dollar zulegen können. Die Gartner-Analysten sprechen angesichts dieser Zahlen von einer soliden Entwicklung im globalen ERP-Geschäft.

ERP-Markt bleibt fragmentiert

Insgesamt präsentiert sich der weltweite ERP-Markt allerdings als sehr fragmentiert. Die drei führenden Anbieter SAP, Oracle und Workday vereinnahmen etwa 40 Prozent des Marktes für sich, die Top five mit Sage und Infor kommen auf gut die Hälfte. Damit hat sich an den Kräfteverhältnissen seit Jahren kaum etwas geändert. Auch 2013 kamen die fünf führenden Anbieter SAP, Oracle, Sage, Infor und Microsoft ebenfalls auf einen Marktanteil von etwas mehr als die Hälfte.

Auch wenn die Marktverhältnisse fest zementiert scheinen und ein eher statisches Bild vermitteln, verändert sich die Art und Weise, wie ERP angeboten und konsumiert wird. "Die Ära des Enterprise Resource Planning (ERP) ist vorbei", sagte kürzlich Duncan Jones, Vice President und Principal Analyst von Forrester Research. Die Idee einer einzelnen integrierten Suite, die sämtliche Prozesse in einem Unternehmen über alle Fachabteilungen hinweg abdeckt, trägt nicht mehr. Heute sei mehr Agilität und Flexibilität gefragt. Die Verantwortlichen für Application Development & Delivery (AD&D) würden nach offenen und smarten SaaS-Plattformen Ausschau halten.

Lesen Sie mehr zum Thema ERP:

Innerhalb dieser Plattformen gebe es verschiedene Ausprägungen und Stärken, berichtet der Forrester-Analyst. Einige Provider würden sich beispielsweise darauf konzentrieren, Zusatzfunktionen für künstliche Intelligenz und Robotic Process Automation (RPA) anzubieten. Andere hätten sich darauf verlegt, vertikale Branchenausprägungen auszubauen, beispielsweise für das produzierende Gewerbe, Service-Anbieter oder den Handel.

Offene Plattformen statt ERP-Monolithen

Die kommenden SaaS-Plattformen sind Jones zufolge offener als die alten ERP-Monolithen. Microservice-Architekturen sowie vorkonfigurierte Standardschnittstellen zu anderen Plattformen erleichterten die Integration verschiedener Services. Darüber hinaus würden sich rund um diese Plattformen Ökosysteme herausbilden, aus denen Anwender Zusatzservices wie zum Beispiel Analytics-Funktionen oder industriespezifische Anwendungen in ihre Softwareinfrastrukturen einklinken könnten.

Diese plattform-orientierten Ansätze bringen die Herstellerlandschaft in Bewegung. "Anbieter modernisieren ihre Produkte in Richtung Cloud-Fähigkeit", sagt Frank Niemann, Vice President Enterprise Apps & Related Services bei teknowlogy PAC. Neben der Cloud-Unterstützung gehe es um Aspekte wie Integrationstechnik, moderne Programmierumgebungen, Datenanalyse und KI sowie eine fokussiertere Branchenunterstützung und neue Einführungsmethoden für eine raschere Implementierung auch mit Hilfe agiler Methoden.

ERP-Anbieter schließen sich zusammen

Übernahmen, Fusionen und der Einstieg von Investoren halten Niemann zufolge die Anbieter auf Trab. Sie wollen die eigenen Produkte weiterentwickeln und damit das nationale wie internationale Wachstum ankurbeln. Im Februar 2019 führten die vier mittelständischen Softwarehersteller cimdata Software, Logis, oxaion und Syncos ihre Angebote rund um ERP, Manufacturing Execution Systems (MES) und Computer-aided Quality (CAQ) unter der Dachmarke Modula zusammen. "Gemeinsam haben wir mehr Ressourcen und ein weitaus höheres Entwicklungsbudget, so dass wir zukünftig auf Technologietrends viel schneller reagieren können", sagte Marcel Schober, Geschäftsführer Produkt und Technologie bei Modula.

Man wolle die digitale Transformation mittelstandsgerecht verwirklichen, so Modula-Geschäftsführer Volker Schindel. "Wir entwickeln mit dem Mittelstand Digitalisierungskonzepte, die sonst den Global Playern vorbehalten blieben." Das Portfolio gehe weit über das klassische ERP hinaus und umfasse mittlerweile über 40 Module, darunter Funktionen für einen Enterprise Digital Workplace und Big Data Analytics. Cloud-native Technologien, Microservices auf Basis des Open-Source-Systems Kubernetes sowie KI-Funktionen und ein integriertes Business Process Management (BPM) sollen künftig Bestandteile der orchestrierten Lösungen sein.

Investoren wittern gute Geschäfte

Auch die abas Software AG hat Konsequenzen gezogen und ist bei Forterra untergeschlüpft. Zu Forterra gehören unter anderem die schwedischen ERP-Hersteller Jeeves und Garp, die französischen Anbieter Sylob, Clipper und Helios sowie BPSC aus Polen und die schweizerische Proconcept. Der Zusammenschluss verschiedener ERP-Firmen wird von Battery Ventures unterstützt. Für die Forterra-Verantwortlichen geht es allerdings nicht darum, ein gemeinsames ERP-Portfolio zu schmieden. Im Gegenteil: Das Unternehmen ist kein internationaler Softwareanbieter, der Produkte miteinander verschmilzt oder eine einzige Flaggschifflösung propagiert, heißt es auf der Website. Im Gegenteil. Man setze sich für eine breite Palette von Lösungen für eine Vielzahl von Märkten ein.

Die abas-Verantwortlichen hoffen, unter dem Dach von Fonterra den bereits begonnenen Ausbau ihres Cloud-Portfolios schneller vorantreiben zu können. Außerdem soll das Ökosystem rund um das Kern-ERP-Produkt wachsen. Dafür wolle man Ressourcen, Fachwissen und das Kapital der neuen Gruppe nutzen. "Die Digitalisierung und das Internet der Dinge verändern sowohl die Geschäftsmodelle als auch viele Prozesse unserer Kunden auf beispiellos disruptive Weise", sagte Baris Ergun, CEO bei abas. Man habe bereits die technologischen Grundlagen sowie das Ökosystem geschaffen, um dem steigenden Bedarf an IoT-fähigen Wertschöpfungsketten und zunehmender Mobilität der User gerecht zu werden.

Die Digitalisierung und das INternet der Dinge verändern sowohl die Geschäftsmodelle als auch viele Prozesse unserer Kunden auf beispiellos disruptive Weise, sagt Baris Ergun, CEO der abas Software AG.
Die Digitalisierung und das INternet der Dinge verändern sowohl die Geschäftsmodelle als auch viele Prozesse unserer Kunden auf beispiellos disruptive Weise, sagt Baris Ergun, CEO der abas Software AG.
Foto: Abas AG

Ebenfalls Ende Juni hat die etwa 45 Milliarden Dollar schwere Investmentgesellschaft EQT Partners, Eigentümerin des ERP-Anbieters IFS, die Akquisition von Acumatica, einem Spezialisten für Cloud-ERP, bekannt gegeben. Jonas Persson von EQT, der nach Abschluss der Transaktion den Vorsitz für beide Unternehmen übernehmen soll, will gegen Anbieter wie SAP, Oracle, Microsoft, Infor und Sage antreten. Wie die Zusammenarbeit beider Anbieter künftig aussehen wird, ist noch nicht klar ersichtlich.

"IFS und Acumatica können von den Ressourcen, Fähigkeiten und Strategien des jeweils anderen profitieren, genießen aber dennoch volle Autonomie", sagte IFS-CEO Darren Roos. "Ich sehe beide Unternehmen letztlich als zwei Verbündete." Jon Roskill, CEO von Acumatica, ergänzte: "In Kombination mit den Fähigkeiten von IFS ist Acumatica in der Lage, in neue Märkte zu expandieren und unseren schnell wachsenden internationalen Kunden echte globale Unterstützung zu bieten."

Die Unternehmen könnten sich tatsächlich ergänzen, konstatierte Mickey North Rizza, Program Vice President Enterprise Applications bei IDC. "IFS kann die Fähigkeit von Acumatica zur Internationalisierung und Expansion in Schlüsselindustrien stärken, während Acumatica IFS mit erweiterter Funktionalität in den Bereichen Business Intelligence, Analytics und umfassender Erfahrung bei der Bereitstellung eines Cloud-basierten Angebots unterstützen kann." Im Magic Quadrant für Cloud-ERP vom August 2018 kam Acumatica allerdings nicht über den Status eines Nischenanbieters hinaus - gleich neben Business byDesign von SAP. Die Analysten lobten zwar die moderne Architektur des ERP-Systems sowie dessen Kernfunktionalität. Allerdings gebe es in Sachen Branchenausprägung und Internationalisierung noch Luft nach oben.

Modernisierungsbedarf ist hoch

Insgesamt lässt das Interesse der Investoren am Thema ERP den Schluss zu, dass sich die Investitionen lohnen. Tatsächlich gebe es auf Seiten der Anwenderunternehmen einen hohen Modernisierungsbedarf, obwohl der Markt an sich sehr reif sei, stellt teknowlogy-PAC-Analyst Niemann fest. Firmen benötigten moderne Software, die sich leichter und kostengünstiger betreiben und anpassen lässt, neue Prozessanforderungen unterstützt sowie für eine bessere Unternehmenssteuerung (Prozesse, Finanzen, Datenanalyse, etc.) sorgt.

Den deutschen Markt für ERP-Software im Mittelstand (Firmen bis 1500 Mitarbeiter) schätzt teknowlogy PAC für das laufende Jahr auf rund zwei Milliarden Euro - darin enthalten sind Softwarelizenzen und Wartung sowie SaaS-Lösungen. In den nächsten Jahren könnten die Geschäfte um durchschnittlich etwa acht Prozent jährlich wachsen. Den SaaS-ERP-Markt hierzulande taxieren die Analysten 2019 auf über 600 Millionen Euro. Die Geschäfte in diesem Segment wachsen zweistellig und damit viel schneller als der Gesamtmarkt. Insbesondere kleinere Firmen, die oft noch keine integrierte ERP-Software nutzen, würden auf SaaS-basierte ERP-Lösungen setzen.

Never touch the Dinosaur

Turbulenzen am Anbietermarkt stehen verunsicherte Kunden gegenüber. "ERP-Projekte werden vielfach nur halbherzig angegangen", konstatiert Michael Gottwald, Geschäftsführer des Beratungs- und Marktforschungsinstitut Softselect. Gründe dafür seien eingeschränkte Ressourcen, Schwächen im Projekt-Management und mangelnde Rückendeckung von Seiten der Geschäftsleitung.

Dabei biete die ERP-Ablösung zumeist große Vorteile hinsichtlich Effizienz und Optimierung der Geschäftsabläufe. Dieses Potenzial ließen Softselect zufolge viele Betriebe ungenutzt. Nicht selten liefen ERP-Anwendungen 20 Jahre oder länger. Getreu dem Motto "Never touch a running system" scheuten die Verantwortlichen davor zurück, ihren in die Jahre gekommenen "Dinosaurier" durch ein Neu-System zu ersetzen.

Das ist allerdings auch alles andere als trivial. Die Liste der Anforderungen an ein modernes ERP-System gerade mit Hinblick auf Industrie 4.0 ist lang, heißt es in der aktuellen Studie "ERP in der Praxis" der Trovarit AG. Das reiche vom Verwalten und Verarbeiten der stetig wachsenden Datenflüsse über immer höhere Ansprüche hinsichtlich Geschwindigkeit und Latenzzeiten bis hin zur Sicherung der Daten und Prozesse. Allerdings machen auch die Trovarit-Analysten keinen Hehl daraus, dass die digitale Vernetzung von IT-Systemlandschaften einen zentralen Taktgeber braucht - ein modernes ERP-System.

Anwender verfolgen ERP-Taktik der kleinen Schritte

Immerhin wollen 45 Prozent der rund 2200 befragten Anwenderunternehmen in ihr ERP investieren. Eine Neuinstallation kommt allerdings nur für wenige in Frage. Die meisten Betriebe können sich nur zu einer Erweiterung beziehungsweise Teilmodernisierung ihrer bestehenden Lösungen durchringen. Abgesehen von der eigentlichen Auswahl und den Kosten, welche die Anschaffung eines neuen Systems mit sich bringt, müssen Mitarbeiter geschult werden, teilweise ein Doppelbetrieb aufrechterhalten und neue Prozesse im Unternehmen verankert werden. Diesen Aufwand nehmen Unternehmen nur in Kauf, wenn sie sich von der Implementierung einen wesentlichen Vorteil versprechen.

Die von Trovarit befragten Anwender stufen KI und ML als wenig relevante ERP-Trends ein.
Die von Trovarit befragten Anwender stufen KI und ML als wenig relevante ERP-Trends ein.
Foto: Trovarit

Trovarit zufolge stehen klassische Business-Ziele wie das Optimieren, Automatisieren und Integrieren von Prozessen sowie nicht zuletzt ein schnellerer Zugriff auf bessere Informationen bei ERP-Projekten klar im Vordergrund. Allerdings sei in den vergangenen Jahren eine Akzentverschiebung in Richtung eines systematischen Prozessmanagements als wichtige Anforderung an das ERP zu beobachten gewesen. Auch die Bedeutung des Themas Industrie 4.0 steigt stark an, landet allerdings bei der Frage nach den wichtigsten ERP-Trends nur im hinteren Mittelfeld. Es dominieren weiter die Klassiker Daten- und Informationssicherheit, Data Management und Compliance. Schlusslichter im Trend-Ranking bilden aus Anwendersicht die Themen Plattform-Wirtschaft, Augmented, Mixed und Virtual Reality sowie Machine Learning und KI.

Fazit: Selbststeuernde Systeme liegen in weiter Ferne

Der ERP-Markt bewegt sich - aber nur langsam. Nach wie vor tun sich die Anwenderunternehmen schwer damit, ihre bewährten ERP-Landschaften umzubauen und neue Technologien zu implementieren. Die Anbieter entwickeln ihre Software weiter in Richtung intelligenter ERP-Lösungen, müssen aber aufpassen, ihre Kunden nicht zu überfordern und den Anschluss zu verpassen. Der Aufwand für die Einführung neuer Techniken wie beispielsweise KI ist nicht zu unterschätzen.

So mahnt denn auch Bitkom-ERP-Experte Termer zu Geduld. Hinsichtlich KI sei aktuell das Angebot der ERP-Anbieter noch überschaubar und die Zahl der Use Cases auf Kundenseite eher klein. Zwar sei absehbar, dass KI künftig tief in den Kernprozessen der Betriebe verankert sein werde, aber: "Von einem selbststeuernden ERP-System, das eigenständig komplexe Unternehmensprozesse managt, sind wir noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte entfernt."