Experten diskutieren No-Code / Low-Code

Wo bleibt der Citizen Developer?

30.05.2023
Von 
Florian Stocker ist Inhaber der Kommunikationsagentur "Medienstürmer".
Deutsche Unternehmen tun sich mit Low-Code-Plattformen oft noch schwer - auch weil die Governance fehlt, die den "Citizen Developer" strategisch einbindet.
Entwicklungsplattformen mit geringem Code oder ganz ohne Code - Low-Code und No-Code versprechen schnelle Ergebnisse mit wenig Aufwand.
Entwicklungsplattformen mit geringem Code oder ganz ohne Code - Low-Code und No-Code versprechen schnelle Ergebnisse mit wenig Aufwand.
Foto: ArtemisDiana - shutterstock.com

Je nachdem, wen man gerade fragt, ist Low-Code entweder der letzte Schrei oder ein alter Hut. Denn obwohl der Begriff erst im Jahr 2014 offiziell vom Forrester-Analysten John Rymer formuliert wurde, ist die Nutzung von "visuellen, deklarativen Technologien", die an die Stelle klassischer Programmierung treten, schon seit den 1990er Jahren in Grundzügen vorhanden. Von einem wirklichen Siegeszug kann man - zumindest international - aber erst seit einigen Jahren sprechen. Mittlerweile existieren um die 500 Low-Code- oder No-Code-Plattformen - allerdings mit großer Mehrheit in den USA. Ähnlich wie das Angebot scheint auch die Akzeptanz dieser Plattformen verteilt - so zumindest der Eindruck einer COMPUTERWOCHE-Expertenrunde zu diesem Thema.

Vor allem die deutsche Unternehmen scheinen sich demnach nach wie vor schwer zu tun mit der "codearmen" Entwicklung, was vor allem am eigenen Perfektionismus liegt. Die Grenzen zwischen "German Engineering" und "German Overengineering" sind leider oft fließend, wie Niels de Bruijn vom IT-Dienstleister MT GmbH aus eigener Erfahrung weiß: "In anderen Märkten - persönlich kann ich zum Beispiel von den USA und den Niederlanden sprechen - wird gerne einmal 'losgeschossen', während die Deutschen jahrelang die Kanone ausrichten, um dann besonders präzise zu treffen. Wenn man dann nicht getroffen hat, hört man hierzulande nicht auf, sondern schießt noch 100 mal nach."

"Fail fast" statt "Too big to Fail"

Low-Code-Projekte zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass Entwicklungen in sehr kurzer Zeit mit einem Bruchteil des Budgets realisiert werden können. Als bevorzugter Vergleich dient oft das ERP-System, bei dem die Unterschiede zwischen "Low" und "Pro" besonders deutlich werden.

"Obwohl die Größe und Reputation einer Lösung bei der Entscheidung für den passenden Ansatz eine große Rolle spielen, bleibt die Schnelligkeit das überzeugendste Argument für Low-Code-Plattformen", sagt Anis Rahimic von Lufthansa Industry Solutions. "Das, was früher Monate in Anspruch genommen hat, kann mit dieser Technologie bereits in wenigen Tagen bis zum ersten Prototypen umgesetzt werden." Diesen großen Budgetunterschied sieht auch Alexey Shmelkin von Adesso: "Während Sie in großen ERP-Projekten nach mehreren Jahren und zweistelligen Millionenbeträgen nicht mal das Pflichtenheft fertig haben, bekommen Sie bei der Low-Code-Variante schon eine fertige Applikation für wenige Hunderttausend Euro."

Schnelle Ergebnisse statt minutiöse Individualentwicklung, auf diesen Grundkonflikt wird das Thema häufiger reduziert - doch wer auf Low-Code setzt, braucht auch die passende Mentalität dazu, um nicht in seinen Erwartungen enttäuscht zu werden. Denn das Scheitern gehört bei Low-Code-Projekten dazu - oder es muss dazugehören - und zu oft nehmen Entscheidungsträger eine gescheiterte Lösung zum Anlass, den eingeschlagenen Weg wieder zu verlassen. Die Unternehmenskultur muss sich also dahingehend ändern, dass sie das Prinzip "Fail Fast" in den Entwicklungsalltag integriert.

Aufs Scheitern flexibel reagieren

"Kommt Low-Code zum Einsatz, hat es geringere Auswirkungen, falls etwas nicht direkt funktionieren sollte, weil die Investitionen viel geringer sind", sagt auch Lars Funke von KI Reply. "Wir bauen schließlich kein Auto, sondern eine zielgerichtete Anwendung, auf deren Scheitern sich flexibel reagieren lässt."

Da der Fail-Fast-Ansatz nicht überall eine gangbare Alternative ist - insbesondere in Kernanwendungen und sicherheitskritischen Bereichen - sehen auch die Low-Code-Befürworter die Zukunft in einer IT der zwei Geschwindigkeiten, in der die IT-Abteilung eine "stabile" IT aus individuellem Code verantwortet, die Fachabteilungen aber mit "schneller" IT unter Nutzung von Low-Code selbst Anwendungen entwickeln. Diese Realität ist weitgehend anerkannt; die Diskussion dreht sich lediglich darum, wie weitreichend die jeweiligen Ansätze im Unternehmen sein werden.

Eine Schlüsselrolle bei der Beantwortung dieser Frage spielt der "Citizen Developer". Damit sind technisch versierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Fachbereichs gemeint, die unter Nutzung von Low-Code-Plattformen selbst Anwendungen produzieren. Allein das Stichwort "technisch versiert" liefert aber schon einen Hinweis, dass einige Unternehmen es bei der Umsetzung dieses Konzepts leichter haben als andere, wie auch Tino Fliege von Outsystems bestätigt: "Es gibt je nach Branche sehr unterschiedliche Ausprägungen von Citizen Devs. In technologiegetriebenen Firmen sitzen oft Ingenieure, die ein gewisses IT-Grundverständnis mitbringen, während Sie in einer Versicherung eher auf den klassischen Excel-User treffen."

Schatten-IT handhabbar machen

Es kommt jetzt also auf genau die Mitarbeiter an, die früher der IT graue Haare bereiteten: die Bastler, die Ungeduldigen, die Improvisierer. Menschen, die zum Datenaustausch lieber auch einmal auf einen unautorisierten Filesharer setzten oder die fünfte Messaging-Lösung nutzten, weil die firmeneigenen Plattformen doch irgendwie zu langsam oder zu unpraktikabel waren. Kurz: die Schatten-IT, die aus Sicht der Low-Code-Experten einen viel zu schlechten Ruf hat. "Beim Thema Low-Code denken viele zuerst an Citizen Developer in den Fachbereichen - als bessere Tools für die Schatten-IT. Kein Wunder, denn die Schatten-IT war der erste Markt für Low-Code-Plattformen", sagt Karsten Noack, der mit Scopeland in den 1990er Jahren eine der ersten Low-Code-Plattformen entwickelte und mit der Low-Code Association e.V. auch die erste Interessenvertretung der Branche geschaffen hat. Das Konzept Citizen Dev geht aber für ihn weit über die Grenzen von Schatten-IT hinaus: "Tatsächlich adressiert Low-Code die Gesamtheit der kundenspezifischen Softwareentwicklung."

Low-Code erfolgreich implementieren heißt also, den Citizen Developer in die Governance zu integrieren und damit Compliance und Kreativität zu verbinden. Doch den Unternehmen fehle bislang ein Konzept, wie das gelingen könnte. Cosima von Kries vom Automatisierungsplattformanbieter Nintex schlägt deswegen vor, das Thema Low-Code in einem eigenen Center of Excellence zu verankern, um die Anschlussfähigkeit an die anderen Funktionsbereiche zu erhalten: "Ich gehe davon aus, dass es sich künftig in Richtung COE entwickeln wird, in dem IT, Fachbereich und Themen wie Governance und Security zusammenkommen."

Studie "No-Code / Low-Code 2023": Sie können sich noch beteiligen!

Zum Thema No-Code / Low-Code führt die COMPUTERWOCHE derzeit eine Multi-Client-Studie unter IT-Verantwortlichen durch. Haben Sie Fragen zu dieser Studie oder wollen Sie Partner werden, helfen Ihnen Regina Hermann (rhermann@idg.de, Telefon: 089 36086 161) und Manuela Rädler (mraedler@idg.de, Telefon: 089 36086 271) gerne weiter. Informationen zur Studie finden Sie auch hier zum Download (PDF).

Es fehlt die "angemessene" Governance

Vorher steht für die Expertinnen und Experten aber noch Aufklärungsarbeit an. Unternehmen wissen zwar mittlerweile, was sie sich unter Low-Code vorstellen können, eine konkrete Vorstellung von einer angemessenen Governance fehlt allerdings noch flächendeckend. Um diese organisatorische Professionalisierung voranzutreiben, sind Vereinigungen wie die Low Code Association angetreten.

"Dass Low-Code auch Governance braucht, ist klar", stellt Alexey Shmelkin fest. "Wir müssen aber auch öffentlichkeitswirksam definieren, was das in diesem Kontext wirklich bedeutet. Es geht um die Gestaltung eines Frameworks, das den Citizen Developer in die Gesamt-IT integriert, ohne eine Schatten-IT zu befördern. Langfristig ist die Organisation in einem Center of Excellence eine gute Idee."

Und Michael Kiefer von Unit4 ergänzt: "Low Code ist nicht Freestyle. Es braucht mindestens genauso gewissenhafte Governance wie klassische Anwendungsentwicklung."

Künstliche Intelligenz schafft weitere Dynamik

Die rasanten Fortschritte auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz (KI) in den vergangenen Monaten haben außerdem das Potenzial, noch einmal eine ganz neue Dynamik in die Debatte zu bringen. Citizen Developer haben mit KI-Tools ein weiteres Werkzeug an der Hand, Code zu generieren, ohne einen Entwickler konsultieren zu müssen.

Die Komplexität wird weiter reduziert, was wiederum zu mehr Enablement führt, wie Cosima von Kries abschließend feststellt: "Generative AI ist gerade das Topthema - weil es den bisher unvermeidlichen Knowledge Gap schließt. Bisher mussten sich auch erfahrene Low-Code-Spezialistinnen erstmal in die jeweilige Technologie einarbeiten. Auf künstlicher Intelligenz basierende Lösungsvorschläge schaffen mehr Möglichkeiten, direkt loszulegen. Langfristig werden wir also einen KI-gestützten Excellence-Ansatz in den Unternehmen sehen."

Informationen zu den Partner-Paketen der Studie 'No-Code / Low-Code 2023'