Portfoliobereinigung

So räumen IT-Architekten die Applikationslandschaft auf

04.03.2016
Von 


Marina Ribke ist unabhängige strategische Enterprise Architektin. Sie berät und unterstützt Menschen, die den Mut haben die Themen Digitale Business Transformation,  KompIexitätsreduktion, Flexibilisierung und Standardisierung in großen Unternehmen anzupacken.
Viele gewachsene Applikationsportfolios sind nicht mehr zeitgemäß für die digitale Transformation. Abhilfe schaffen Methoden der strategischen Unternehmensarchitektur.

IT-Landschaften sind dynamische Konstrukte. Ein neugegründetes Unternehmen folgt typischerweise zunächst einem einfachen Geschäftsmodell, für dessen Unterstützung eine IT-Landschaft aufgebaut wird. Im Laufe der Zeit wird dann das Geschäftsmodell ausgeweitet, neue Geschäftsfähigkeiten kommen hinzu. Die bestehende IT-Landschaft wird dabei meist aus technischer Sicht erweitert, um den zusätzlichen Anforderungen gerecht zu werden. Dabei werden die Anforderungen an die gesamte Architektur tendenziell zu wenig beachtet.

Architekturvision für die Digitalisierung
Architekturvision für die Digitalisierung
Foto: TZIDO SUN - Shutterstock.com

So entstehen IT-Landschaften, die als Geschäftsarchitektur-Monolithen mehrere Geschäftsfelder und -fähigkeiten unterstützen. Die einzelnen Fähigkeiten und Geschäftsfelder sind alle miteinander verbunden und nicht mehr einzeln führbar. Das Ergebnis ist eine hohe Gesamtkomplexität verbunden mit Inflexibilität, begrenzter Skalierbarkeit, sowie hohen Betriebs- und Änderungskosten. Tiefgreifende Änderungen am Geschäftsmodell, die die Digitalisierung in der Regel erfordert, sind betriebswirtschaftlich nicht mehr sinnvoll umsetzbar. Die IT-Landschaft und das Applikationsportfolio müssen strukturell bereinigt werden.

Angelehnt an der TOGAF Architecture Development Method (ADM - siehe Abbildung 1) der Open Group wird im Folgenden am Beispiel einer Bank ein systematisches Vorgehen zur Bereinigung des Applikationsportfolios aus geschäftsstrategischer Sicht dargestellt. Die IT-Landschaft und das Applikationsportfolio werden dabei an den neuen Anforderungen der Digitalisierung ausgerichtet.

Abbildung 1: TOGAF Architecture Development Method (ADM)
Abbildung 1: TOGAF Architecture Development Method (ADM)
Foto: The Open Group

Architekturvision für die Digitalisierung: Die Geschäftsstrategie

Das Beispiel geht davon aus, dass die Bank den Kunden strategisch in den Mittelpunkt stellen möchte. Sie will sich vom Markt differenzieren, in dem sie die Kundenbedürfnisse im Kontext von Finanzdienstleistungen besonders gut befriedigen möchte. Dabei will sich die Bank auf bestimmte Kundenprozesse spezialisieren, die sie als Dienstleistungsintegrator besser abzudecken glaubt als ihre Mitbewerber.

Zur Illustration dient ein Kundenprozess "Auto besitzen". Der Kundenprozess erstreckt sich von der Informations- über die Angebots-, Kauf- und Betriebsphase bis schließlich zur Verkaufs- und Neukaufphase. Die Bank möchte dem Kunden alle Dienstleistungen möglichst kanalübergreifend anbieten, um den Prozess Auto besitzen so komfortabel wie möglich zu gestalten. Dazu gehören im wesentlichen Autotests und -erfahrungen, bedarfsgerechte Automodelle und -konfigurationen, Finanzierungsprodukte, Versicherungen sowie Wartungsangebote und Mobilitätsdienstleistungen. Dabei möchte die Bank ausschließlich Finanzierungsprodukte selbst anbieten und die anderen Dienstleistungen vermitteln.

In Zeiten der Digitalisierung soll der Autokauf über verschiedene Kanäle hinweg möglich sein. Also aus einer Hand im Web, komplett im Autohaus oder hybrid in einem sinnvollen Mix beider Kanäle. Der Abschluss soll direkt möglich sein. Der Kunde erhält Lieferdatum und die Finanzierungszusage innerhalb weniger Sekunden mit Versicherungszusage. Einen kanalübergreifenden Kauf erlauben die Systeme der Bank heute nicht. Genauso wenig ist ein 24/7-Betrieb für das Internet möglich. Kreditzusagen dauern mehrere Tage. Die heutigen Systeme lassen solch ein Strategieszenario also nicht zu - weder bezüglich Verfügbarkeit, noch in der Skalierbarkeit und auch nicht in der Abdeckung der Dienstleistungen für die einzelnen Phasen der Kundenprozesse.

Die Bank hatte bisher keine kundenzentrierte, sondern eine länder- und produktorientierte Strategie, die historisch bedingt war. Sie begann mit Finanzierungen im Inland. Dann kamen Leasing und Versicherungsangebote hinzu. Parallel wurde begonnen autarke Filialen im europäischen Ausland aufzubauen.

Um das bestehende Applikationsportfolio aufzuräumen und auf die neue Strategie anzupassen, wird die Bank für Analyse und Planungszwecke verschiedene Bebauungspläne erstellen. Diese werden denselben Kartengrund mit einer y-Achse für strategische Geschäftsfelder und einer x-Achse für Geschäftsfähigkeiten haben. Um die Architekturvision zu erstellen, sind strategische Analysen der Geschäftsfelder, Geschäftsfähigkeiten und der Wertschöpfungsarchitektur Voraussetzung.

Strategische Geschäftsfelder

Für die Architekturvision sind im ersten Schritt die strategischen Geschäftsfelder klar abzugrenzen. Dabei werden Marktdimensionen in eine Reihenfolge gebracht, mit der man sich mit abnehmender Bedeutung differenzieren möchte:

Kunde > Produkt > Land > Kanal.

Durch die Fokussierung auf Kundenprozesse ist die erste Differenzierung die Dimension Kunde. Danach erfolgt eine Differenzierung über das passende Produktportfolio. Land und Kanal sollen möglichst standardisiert werden, mit Varianten in lokalen Compliance-Anforderungen. Diese Reihenfolge ist von hoher Bedeutung, da die Geschäftsfelder über die erste Dimension getrennt und über die nachfolgenden charakterisiert werden. Durch die Historie hatte die Bank bisher die strategische Reihenfolge:

Land > Produkt > Kunde > Kanal

Die Folge war, das IT-Systeme primär an Länder- und Produktbedürfnissen ausgerichtet wurden und mit geringer Priorität an Kundenbedürfnissen. Auf Basis der neu definierten Reihenfolge bildet die Bank zwei strategische Geschäftsfelder: Privatkunden und Geschäftskunden. Den Geschäftsfeldern ordnet sie die jeweiligen spezifischen Produktgruppen zu.

Die Geschäftsfelder definieren die y-Achse für mehrere Bebauungspläne, die die Bank im Folgenden erstellt. Abbildung 2 zeigt einen Kartengrund mit einer vereinfachten Darstellung von Geschäftsfeldern auf der y-Achse. Die Länder werden nur für Analysezwecke mit aufgenommen. Zukünftig soll darüber nicht mehr differenziert werden. Für die Sicht auf die Informationssysteme wird die Dimension aber wichtig sein, da sie bisher führend war. Da nach Kanälen nicht unterschieden werden soll (Omni-Channel-Strategie), erscheinen sie auch nicht auf dem Kartengrund.

Abbildung 2: Kartengrund mit den Dimensionen des Bebauungsplans
Abbildung 2: Kartengrund mit den Dimensionen des Bebauungsplans
Foto: Ribke Consulting

Geschäftsfähigkeiten

Auf der x-Achse definiert die Bank die wesentlichen Geschäftsfähigkeiten, die notwendig sind, um die Kundenprozesse zu unterstützen. Die Geschäftsfähigkeiten bilden die Leistungsgrundlage des gesamten Geschäftsmodells. Als Referenzgrundlage für ein eigenes Geschäftsfähigkeitenmodell verwendet die Bank den Banking-Framework BIAN Service Landscape 4.0 (Banking Industry Architecture Network - bian.org). Abbildung 2 zeigt auf der x-Achse ein vereinfachtes Geschäftsfähigkeitenmodell auf Basis des BIAN Standards.

Wertschöpfungsarchitektur

Als ersten Bebauungsplan erstellt die Bank die neue Wertschöpfungsarchitektur. Dabei werden auf dem Kartengrund die entscheidenden wertschöpfendenden Prozesse auf oberster Stufe eingezeichnet, die sogenannten Level-1-Prozesse. Die Level-1-Prozesse gruppieren Geschäftsfähigkeiten, die in einem engen Austausch stehen und im Wesentlichen qualitativ gleich ausgeprägt werden sollen. Die Bank trennt Marketing, Sales und Serviceprozesse funktional über die Geschäftsfelder hinweg, siehe Abbildung 3, da zum Beispiel ein Verkaufsprozess sich für Geschäftskunden grundlegend von dem für Privatkunden unterscheiden soll. Das klingt selbstverständlich, war es aber bisher in der dominierenden Länder-Produkt-Strategie nicht. Da die Dimension Kunde in der Reihenfolge bisher in der Länder-Produkt-Strategie zu wenig Gewicht hatte, wurden die Prozesse über die Kundengruppen hinweg nicht explizit unterschieden, sondern in ihren Ausprägungen vermischt.

In der Wertschöpfungsarchitektur stehen Geschäftsfähigkeiten innerhalb einer Domäne in enger Kommunikationsverbindung, wohingegen sie über die Domänengrenze hinweg weniger kommunizieren.

Abbildung 3: Die Architekturvision der Wertschöpfungsarchitektur
Abbildung 3: Die Architekturvision der Wertschöpfungsarchitektur
Foto: Ribke Consulting

Die über Level-1-Prozesse gruppierten Geschäftsfähigkeiten sollen Kundenprozesse flexibel abbilden. Sie unterliegen einer hohen Änderungsdynamik, da die Geschäftsfähigkeiten kontinuierlich die Bedürfnisse der Kunden besser abbilden sollen. Da sie marktdifferenzierend sind, sind sie das Rückgrat der Strategie. Marktdifferenzierende Prozesse färbt die Bank orange ein.

Für die Geschäftsfähigkeit "Product Specific Fulfillment" in der Domäne Product Operation schafft die Bank vier produktspezifische Prozesse für Kredit, Leasing, Flottenleasing und Versicherung. Die Produkte Kredit und Versicherung sollen sich für die Geschäftsfelder nicht unterschieden. Sie werden übergreifend identisch angeboten. Lediglich die Produkte Leasing und Flotten-Leasing benötigen geschäftsfeldspezifische Ausprägungen der Geschäftsfähigkeit. Prozesse der Domäne Product Operation färbt die Bank blau ein. Sie sollen hochgradig standardisiert und automatisiert ausgeprägt werden. Hier entscheiden hohe Verarbeitungsgeschwindigkeit, sowie geringe Prozess- und Betriebskosten. Die Produkte sind aus Sicht der Bank auf dem Markt homogen, das heißt sie unterscheiden sich nur durch Verfügbarkeit und Preis.

Die Wertschöpfungsarchitektur definiert den strategischen Rahmen für die Zielbebauung der Informationssysteme. Sie definiert die Systemgrenzen und gibt die wesentlichen strategischen Qualitätsanforderungen vor wie Veränderbarkeit, Automatisierbarkeit und Kosten.

Informationssystemarchitektur: Bestehende Informationssysteme

Um einen Überblick über die Leistungsfähigkeit des bestehenden Applikationsportfolios zu bekommen, zeichnet die Bank die bestehenden Informationssysteme in den Kartengrund ein. So bekommt sie ein Bild von der Ist-Applikationslandschaft (siehe Abbildung 4).

Abbildung 4: Ist-Applikationslandschaft vereinfacht
Abbildung 4: Ist-Applikationslandschaft vereinfacht
Foto: Ribke Consulting

Jede Applikation erhält eine eindeutige Identifikationsnummer, zum Beispiel "A001". Sie bekommt einen Karteneintrag für jede unterstützte Geschäftsfähigkeit je Land, Produkt und Kundengruppe. Dabei kann eine Applikation mehrfach erscheinen, wenn sie mehrere Produkte oder Kundengruppen unterstützt. Abbildung 4 ist eine vereinfachte Darstellung der Realität. Eine internationale Bank hat typischerweise mehrere hundert bis wenige tausend Applikationen im Einsatz.

An diesem Bild wird deutlich inwieweit die bisherige Länderstrategie die Systeme geformt hat. Die Applikationslandschaft ist horizontal nach Ländern ausgeprägt. Die Systeme beachten häufig nicht die Domänengrenzen und sind über alle Domänen hinweg häufig produktorientiert. Das Applikationsbeispiel A001 zeigt eine Kreditapplikation, die die Geschäftsfähigkeiten aus den Domänen Sales, Service und Product Operation unterstützt. Selbst Teile der Geschäftsfähigkeit "Payment" sind implementiert.