Studie Machine Learning 2021

ML und KI machen in Deutschland Boden gut

08.09.2021
Von 
Bernd Reder ist freier Journalist und Autor mit den Schwerpunkten Technologien, Netzwerke und IT in München.
Zwei Drittel der Unternehmen in Deutschland setzen KI- und Machine-Learning-Lösungen ein – ein Beleg dafür, dass die Firmen den potenziellen Nutzen dieser Technologien sehen. Zu den größten Herausforderungen zählt dabei der "Faktor Mensch".
Im Zuge der Digitalisierung nimmt das Thema KI/ML in deutschen Unternehmen Fahrt auf.
Im Zuge der Digitalisierung nimmt das Thema KI/ML in deutschen Unternehmen Fahrt auf.
Foto: metamorworks - shutterstock.com

Die Diskussion darüber, wie es in Deutschland um die Digitalisierung bestellt ist, hat während der Corona-Pandemie an Schärfe gewonnen. Kein Wunder, wenn beispielsweise im Gesundheitswesen auch heute noch ohne Fax nichts geht. Oder wenn Behördenmitarbeiter ins Home-Office geschickt wurden, aber dort ihre Aufgaben nicht erledigen konnten. Einfach deshalb, weil Geschäftsprozesse in vielen öffentlichen Einrichtungen noch auf Papierdokumenten beruhen, die Mitarbeiter nur vor Ort in der Behörde bearbeiten können.

Daher ist es erfreulich, dass deutsche Unternehmen verstärkt auf zwei Zukunftstechnologien setzen, die auch bei der Digitalisierung eine zentrale Rolle spielen: Machine Learning (ML) und künstliche Intelligenz (KI). Immerhin fast zwei Drittel der Firmen setzen bereits Machine Learning ein oder sind dabei, entsprechende Lösungen einzuführen. Das belegt die Studie "Machine Learning 2021" von IDG Research Services. Die Zahl der "KI- und ML-Verweigerer" ist im Vergleich zum Vorjahr von elf auf acht Prozent zurückgegangen.

Fast zwei Drittel der Unternehmen in Deutschland nutzen bereits Machine-Learning-Lösungen oder sind dabei, diese Technologie einzuführen.
Fast zwei Drittel der Unternehmen in Deutschland nutzen bereits Machine-Learning-Lösungen oder sind dabei, diese Technologie einzuführen.
Foto: IDG Research Services: Daniela Petrini

Dass Geschäftsführer, CIOs und Fachbereichsleiter den Stellenwert der beiden Ansätze erkannt haben, unterstreicht ein weiteres Resultat der Untersuchung: Rund 86 Prozent der befragten Unternehmen haben ein eigenes Budget für KI- und ML-Projekte ausgewiesen. Das gilt gleichermaßen für Großunternehmen mit mehr als 10.000 Mitarbeitern, den gehobenen Mittelstand und kleinere Firmen. Auch die Corona-Pandemie hat die Investitionen in Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen nicht beeinträchtigt. Im Gegenteil: Rund ein Fünftel der Unternehmen hat die Ausgaben in diesen Bereichen stark erhöht. Die Zahl der Projekte stieg ebenfalls um 18 Prozent.

Höhere Produktivität und niedrigere Kosten

Dass Geschäftsführer und Bereichsleiter Geld für KI und Machine Learning lockermachen, dürfte an der hohen Erfolgsquote solcher Projekte liegen. Denn über 60 Prozent der Unternehmen erzielten damit spätestens nach drei Monaten einen messbaren Mehrwert. Doch betrachtet man die Maßzahlen, anhand derer diese Erfolge bewertet werden, ergibt sich ein differenzierteres Bild. Denn die drei wichtigsten Kriterien sind Steigerungen der Produktivität und Effektivität sowie Kostensenkungen.

Auf den hinteren Plätzen rangieren Faktoren wie ein höherer Innovationsgrad oder dass mithilfe von KI und maschinellem Lernen neue Produkte und Services entstanden. Das gilt vor allem für kleinere und mittelständische Firmen. An die 40 Prozent der Großunternehmen bewerten dagegen den Erfolg eines KI- und ML-Projekts primär anhand einer Zunahme ihrer Innovationskraft.

Der Erfolg eines ML-Projekts wird primär anhand klassischer Parameter wie höherer Produktivität und Kostensenkungen ermittelt.
Der Erfolg eines ML-Projekts wird primär anhand klassischer Parameter wie höherer Produktivität und Kostensenkungen ermittelt.
Foto: IDG Research Services: Daniela Petrini

Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass vor allem für den Mittelstand strategische Aspekte beim Einsatz beider Technologien noch eine geringere Rolle spielen - etwa die Option, in neue Markt- und Produktsegmente vorzustoßen. Sie bevorzugen es, zunächst "niedrig hängende Früchte" zu ernten, etwa Kostensenkungen durch eine stärkere Rationalisierung von Arbeitsabläufen durch KI und maschinelles Lernen.

Es wäre jedoch verfehlt, diesen Ansatz abzuqualifizieren. Denn ganz ohne Risiko ist das Engagement im Bereich KI und Machine Learning nicht. Laut der Studie von IDG Research Services haben immerhin zehn Prozent der befragten Unternehmen das vorhandene Budget für KI und ML wieder gestrichen. Grund dafür dürfte sein, dass entsprechende Projekte nicht den gewünschten Erfolg brachten. Daher raten auch Experten von Anbietern solcher Lösungen, etwa Nvidia, Microsoft oder Lufthansa Industry Solutions, dazu, zunächst mit weniger ambitionierten Projekten zu starten und erst einmal Erfahrungen mit diesen Technologien zu sammeln.

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Neue Produkte und Prozessautomatisierung

Doch unter dem Strich überwiegen die positiven Signale. So haben 63 Prozent der Unternehmen ein Geschäftsmodell entwickelt, um mithilfe von KI und maschinellem Lernen neue Produkte zu entwickeln. Und die Hälfte sieht in beiden Ansätzen ein Mittel, um eine indirekte Wertschöpfung zu erzielen, etwa indem interne Prozesse optimiert und automatisiert werden.

Speziell beim letztgenannten Punkt, der Prozessautomatisierung, hat sich im Vergleich zu den vergangenen Jahren ein Wandel eingestellt. Die Furcht, dass Algorithmen gewissermaßen das Kommando über Geschäftsaktivitäten übernehmen, tritt allmählich in den Hintergrund. Es setzt sich offenkundig die Erkenntnis durch, dass gerade vor dem Hintergrund der Digitalisierung Reaktionsschnelligkeit und Agilität des Unternehmens erhöht werden müssen. In diesem Punkt können Künstliche Intelligenz und Machine Learning einen wichtigen Beitrag leisten.

Ein Beispiel sind KI-basierte Kundeninformationssysteme, die nach dem Self-Service-Prinzip arbeiten. Chatbots beantworten beispielsweise Fragen von Kunden (30 Prozent der Use Cases). Und an die 37 Prozent der Anwendungsfälle zielen darauf ab, die Bearbeitung von Vorgängen (etwa von Schadensmeldungen) zu automatisieren. In diesem Kontext spielen KI-Technologien wie die Verarbeitung natürlicher Sprache (Natural Language Processing) eine zentrale Rolle.

Das wichtigste Einsatzfeld ist jedoch - wie in den Jahren zuvor - die IT (76 Prozent). Der Grund ist, dass sich die immer komplexeren IT- und Cloud-Umgebungen nicht mehr im "Handbetrieb" verwalten und vor Cyberangriffen schützen lassen. Machine-Learning-Algorithmen sind beispielsweise in der Lage, schneller und präziser als Administratoren erste Anzeichen solcher Attacken zu identifizieren und automatisch Gegenmaßnahmen einzuleiten.

Ein zweites wichtiges Anwendungsfeld sind Produktionsumgebungen. Dort kommen KI- und Machine-Learning-Lösungen bei der Qualitätssicherung in der Produktion sowie in Forschung und Entwicklung (je 54 Prozent) und der Logistik (53 Prozent) zum Zug.

Anwender wollen Algorithmen verstehen

Ein vorbehaltloses Vertrauen in KI- und Machine-Learning-Algorithmen ist trotzdem nicht vorhanden. So ist für mehr als ein Drittel der Befragten ein wichtiger Punkt bei der Auswahl einer Machine-Learning-Software, dass deren Ergebnisse für den Nutzer nachvollziehbar sind. Dieser Punkt rangiert in der Rangliste der wichtigsten Auswahlkriterien auf dem zweiten Platz, nach den Kosten.

Doch diese Nachvollziehbarkeit dürfte in absehbarer Zeit an Grenzen stoßen, vor allem bei KI-Anwendungen. Denn Fachleute räumen ein, dass beispielsweise die Entscheidungen von neuronalen Netzen für Menschen nicht mehr nachvollziehbar sind, zumindest nicht in vollem Umfang. Somit ist zwischen den Nutzern von KI- beziehungsweise ML-Anwendungen und den zugrunde liegenden Algorithmen mittelfristig eine neue Art von Vertrauensbasis erforderlich.

Es fehlen KI- und ML-Experten

In der Praxis haben User von KI und ML derzeit allerdings weniger mit solchen "philosophischen" Herausforderungen zu kämpfen als mit eher trivialen Problemen. Zu den größten zählt, wie bereits 2020, der Mangel an Fachleuten: An die 37 Prozent der Unternehmen gaben an, dass auf dem Arbeitsmarkt nicht genügend KI- und Machine-Learning-Spezialisten zu finden sind. Dadurch verzögern sich Projekte oder können überhaupt nicht in Angriff genommen werden.

Vor allem Großunternehmen mit mehr als 10.000 Beschäftigten (43 Prozent), die ansonsten gerade für Nachwuchskräfte und "High Potentials" eine interessante Alternative zu kleineren Firmen sind, klagen über einen Mangel an Fachkräften. Das ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass in Großfirmen eine größere Zahl von KI- und ML-Projekten durchgeführt wird als in kleineren Unternehmen. Daher ist der Bedarf an Spezialisten höher.

Eine Option, um das fehlende Fachwissen zu kompensieren, besteht darin, den eigenen Mitarbeitern Kenntnisse in KI und Machine Learning zu vermitteln. Die Studie ergab, dass vor allem in den IT-Abteilungen (50 Prozent) ein erheblicher Bedarf an Weiterbildung besteht. Fast ein Viertel der Befragten sieht in allen Unternehmensbereichen Know-how-Defizite. Eine unternehmensinterne Aus- und Weiterbildung kann solche Lücken schließen. Das setzt allerdings voraus, dass die Unternehmen entsprechende Programme aufsetzen und ihren Mitarbeitern die Zeit geben, an solche Maßnahmen teilzunehmen.

Zu wenige Fachleute und mangelndes Know-how sind derzeit die größten Problempunkte bei der Umsetzung von ML-Projekten.
Zu wenige Fachleute und mangelndes Know-how sind derzeit die größten Problempunkte bei der Umsetzung von ML-Projekten.
Foto: IDG Research Services: Daniela Petrini

Den Faktor Mensch berücksichtigen

Wichtig ist laut Studie außerdem, dass sich Weiterbildung nicht auf das Vermitteln von Fachkenntnissen beschränkt. Den Mitarbeitern sollte klar werden, dass KI und maschinelles Lernen keine "Job-Killer" sind, sondern die Wettbewerbsfähigkeit ihres Arbeitgebers stärken können. Das ist offenkundig vielen Mitarbeitern nicht bewusst. Ein Drittel der befragten Führungskräfte gab an, dass die fehlende Akzeptanz von KI und ML seitens der Beschäftigten eine große Herausforderung darstellt.

Das heißt, den Fachabteilungen solche Lösungen "vor die Nase zu setzen", ist kontraproduktiv. Eine solche Vorgehensweise wird mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass entsprechende Projekte nicht den gewünschten Nutzen bringen. Vielmehr ist ein ganzheitlicher Ansatz erforderlich. Er sollte sowohl auf die Technologien als auch auf die Menschen abgestimmt sein, die damit umgehen. Kurzum: Auch die Unternehmenskultur muss auf den Prüfstand. Und das dürfte für etliche Firmen eine mindestens ebenso große Herausforderung darstellen wie die technischen Aspekte von KI- und Machine-Learning-Lösungen.

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Foto: IDG Research Services: Daniela Petrini

Studiensteckbrief

Herausgeber: COMPUTERWOCHE, CIO, TecChannel und ChannelPartner

Platin-Partner: Lufthansa Industry Solutions GmbH & Co. KG; Microsoft Deutschland GmbH

Gold-Partner: INFORM GmbH

Grundgesamtheit: Oberste (IT-)Verantwortliche von Unternehmen in der D-A-CH-Region: strategische (IT-)Entscheider im C-Level-Bereich und in den Fachbereichen (LoBs), IT-Entscheider und IT-Spezialisten aus dem IT-Bereich

Teilnehmergenerierung: Stichprobenziehung in der IT-Entscheider-Datenbank von IDG Business Media sowie zur Erfüllung von Quotenvorgaben über externe Online-Access-Panels; persönliche E-Mail-Einladungen zur Umfrage

Gesamtstichprobe: 367 abgeschlossene und qualifizierte Interviews

Untersuchungszeitraum: 26. April bis 03. Mai 2021

Methode: Online-Umfrage (CAWI)

Fragebogenentwicklung: IDG Research Services in Abstimmung mit den Studienpartnern

Durchführung: IDG Research Services