Checkliste für Digitalinitiativen

Ist Ihre Digitalstrategie noch auf Kurs?

15.01.2024
Von   IDG ExpertenNetzwerk
Jan Rodig leitet das Kompetenzfeld Digital Performance & Analytics bei der Unternehmensberatung Struktur Management Partner. Er ist Experte für die Konzeption und Umsetzung von Digitalstrategien, für digitale Geschäftsmodelle und Digitalorganisationen. Herr Rodig ist Co-Autor mehrerer IoT-Fachbücher, Mitglied der BMWi-Initiative Plattform Industrie 4.0 und war bis 2019 CEO eines von ihm mitgegründeten IoT-Softwaredienstleisters.
Die folgende Checkliste hilft Unternehmen dabei, die Zukunftsfähigkeit ihrer Digitalaktivitäten zu überprüfen und daraus wirksame Handlungsempfehlungen abzuleiten.
Während sich eine rollende Billardkugel nicht mehr korrigieren lässt, kann man strategische Projekte auch nach dem Anstoß noch in die richtige Richtung lenken.
Während sich eine rollende Billardkugel nicht mehr korrigieren lässt, kann man strategische Projekte auch nach dem Anstoß noch in die richtige Richtung lenken.
Foto: Spencer Hopkins - shutterstock.com

Geopolitische Unsicherheiten rauben aktuell vielen Führungskräften den Schlaf. Kein Wunder, dass überall fieberhaft nach Einsparpotenzialen gesucht wird. Doch jede Herausforderung birgt auch Chancen: Jetzt ist eine gute Gelegenheit, marktorientierte Digitaleinheiten und -initiativen einem nüchternen, wertorientierten Review zu unterziehen.

Checkliste: 9 Fragen zur Zukunftsfähigkeit Ihrer Digitaleinheiten

Die folgenden neun Fragen helfen bei dieser Bestandsaufnahme. Sie orientieren sich an den Erfolgsfaktoren marktorientierter Digitalaktivitäten und sind grundsätzlich auf alle Spielarten davon (IoT-Einheit, SaaS-Lösung, E-Commerce-Geschäftsbereich, D2C-Unit oder Innovations-Team) anwendbar. So können Sie schnell und pragmatisch für sich prüfen, wo die größten Potenziale und sinnvollsten Ansatzpunkte für einen Turnaround Ihrer Digitalaktivitäten liegen.

Es empfiehlt sich, die Fragen entlang ihrer Reihenfolge durchzugehen, da sie teilweise sachlogisch aufeinander aufbauen. Übrigens: Die meisten Turnarounds beginnen mit einem strategischen "Nein".

  1. Strategischer Fit: Zahlt die Digitalinitiative auf die Unternehmens- beziehungsweise Geschäftsstrategie ein? In wirtschaftlich starken Jahren haben viele Unternehmen leichtfertig "funny money"-Digitalprojekte ohne fundierte Analyse und durchdachtes Konzept gestartet. Haben diese keine klare strategische Daseinsberechtigung, empfiehlt es sich, sie schnellstmöglich zu beenden, wenn die Ressourcen knapp werden. Neben einer Schließung sollte dabei immer auch ein Verkauf geprüft werden. Häufig sind andere Unternehmen – oft auch aus anderen Branchen – bereit, die geschaffenen Assets wie beispielsweise Technologien, Daten, eingespielte Digital-Teams oder Kundenbeziehungen zu erwerben.

  2. Datengetriebenes Vorgehen: Werden wichtige Entscheidungen auf Basis valider Daten getroffen? Entscheidungen in der Digitalstrategie sollten konsequent als Hypothesentests begriffen und priorisiert werden – vom zu lösenden Kundenproblem über Lösungsansätze, Features und Pricing bis hin zu Gestaltungsdetails. Wird bereits so gearbeitet? Falls nein: Bewerten Sie datengetrieben die Erfolgsaussichten des Projektes systematisch entlang der kritischsten Kernhypothesen.

  3. Kunden-Mehrwert: Löst Ihr Angebot ein für viele Kunden relevantes Problem, für das eine ausreichende Zahlungsbereitschaft besteht? Einen echten Mehrwert für die Zielgruppe identifiziert man über ein tiefes Verständnis der Pain Points entlang der Customer Journey. Auch der Kontext, in dem der Kunde agiert, ist wertvoll. Wichtig dabei ist: Ohne saubere Methodik gibt es keine statistisch validen Ergebnisse. Das kann passieren, wenn zu wenige, beziehungsweise die falschen Menschen befragt werden oder die Fragestellungen unklar sind. Eine wackelige Datenbasis führt dann zu teuren Fehlentscheidungen. Oder das User Research wird komplett übersprungen und die Lösungen werden stattdessen technologiegetrieben entwickelt.

  4. Wettbewerbsposition: Hat Ihr digitales Angebot eine realistische Chance im Wettbewerb? Digitale Lösungen können schnell skalieren. Das erfordert neben den bereits genannten Aspekten einen klaren USP, eine kluge Positionierung und ausreichend Ressourcen. Was häufig vergessen wird: Ist die Technologie entwickelt, gilt es, schnell viele Kunden zu akquirieren, wodurch Kosten entstehen. Bei Plattformgeschäftsmodellen fehlt gerade im Mittelstand häufig die kritische Masse, um ein schlagkräftiges digitales Ökosystem aufzubauen und zügig zu skalieren. Ebenfalls oft unterschätzt: Wächst das Angebot eventuell schneller als die boomende Nachfrage?

  5. Technologie: Setzen Sie auf den richtigen Technologie-Stack? Ob E-Commerce, Software as a Service oder Internet of Things – für viele Unternehmen sind Digitalinitiativen technologisches Neuland. Im E-Commerce beispielsweise ist das Frontend nur die Spitze des Eisbergs, doch bereits durch das richtig Shopsystem lässt sich mitunter in wenigen Jahren ein siebenstelliger Betrag sparen. Die Komplexität liegt im Backend, welches auch die Prozesskosten determiniert. Ein anderes Beispiel: Ein IoT MVP ist oft schnell und ohne großen Aufwand erstellt. Doch an der sicheren, stabilen und wirtschaftlichen Skalierung können Unternehmen scheitern und Fehlentscheidungen sind hier teuer.

  6. Fähigkeiten: Haben Sie die kritischen digitalen Fähigkeiten an Bord? Digitalexperten fehlen - auch im Mittelstand - an allen Ecken und Enden. Häufig sind digitale Kompetenzen auch in Beirat, Geschäftsführung und sogar Leitung digitaler Geschäftsbereiche rar gesät. Doch ohne überzeugende Strategie-, Governance- und Personalentscheidungen suchen die operativen Experten schnell das Weite. Unternehmen sollten daher Antworten auf folgende Fragen parat haben: Welche Fähigkeiten sind kritisch für den digitalen Erfolg? Was davon kann das bestehende Team lernen? Wen muss die Firma rekrutieren? Welche Aufgaben sollten an externe Partner ausgelagert werden? In welchem Bereich sollte zugekauft werden (M&A)?

  7. Organisation & Kulturwandel: Haben die Digitalexperten in Ihrem Unternehmen die richtigen Rahmenbedingungen, um erfolgreich zu sein? Die Entscheidung über die richtige organisatorische Aufhängung von Digitalteams steht häufig am Beginn einer Digitalstrategie. Diese hängt vom individuellen strategischen Fokus der Digitalaktivitäten und deren Entwicklungsphase ab. Das dickste Brett ist hierbei der Kulturwandel. Setzen Sie noch auf hippe Locations, bunte Bälle und energische Appelle? Oder haben Sie Strukturen, Entscheidungsprozesse und Incentivierungssysteme bereits mutig angepasst?

  8. Operative Exzellenz: Wie erfolgreich setzen Sie Ihre digitalen Strategien und Konzepte um? Erfolg in Digitalisierungsprojekten erfordert konsequentes Change Management, ausreichendes Budget sowie eine effektive Steuerung. Hierzu gehört zum Beispiel eine End-to-End-Transparenz über die gesamte digitale Wertschöpfungskette. Am Beispiel E-Commerce stellen sich dazu folgende Fragen: Mit welchen Kampagnen, über welche Kanäle, mit welchen Landingpages haben Sie Kunden zu welchen Kosten und mit welchem Lifetime Value akquiriert? Mit einer solchen Datenbasis lassen sich deutlich effektivere Entscheidungen treffen – und auch delegieren.

  9. Finanzplanung: Haben Sie ein realistisches Bild der zukünftigen Kosten und Erlöspotenziale Ihrer Digitalaktivitäten? Oberflächlich betrachtet sehen manche Digitalprojekte nach „ist ja nur eine App“ aus, und die wahren Kosten können dabei leicht unterschätzt werden. Teure ERP-Anpassungen, neue Backend-Systeme, erforderliche Schnittstellen, mühsame Datenbereinigung oder Investitionen in Cybersecurity sind nur einige der Kostentreiber. Noch schwieriger ist die Topline. Haben Sie die entsprechenden Annahmen im Modell bereits komplett variabilisiert, die kritischen Parameter plausibilisiert und mit Szenarien unterlegt? CFOs mit tiefer Digitalexpertise (Digital CFO) sind dabei Gold wert.

So ordnen Sie die Ergebnisse ein

Je weiter oben eine Frage in der Checkliste steht, desto grundlegender die Herausforderung und desto größer sind die Business-Case-Risiken im Falle eines "Nein". Beispiel: Hat eine Lösung keinen Kundenmehrwert (Punkt 3), muss sie in der Regel grundlegend neu gedacht werden. Wird nicht einmal ein relevantes Kundenproblem adressiert, heißt es sogar komplett "zurück auf Los".

Fehlt es hingegen "nur" an Digitalexperten (Punkt 6), kann man Engpässe zur Not temporär mit Freelancern überbrücken und parallel geeignete Weiterbildungsmaßnahmen für die eigenen Mitarbeitenden auf den Weg bringen. Doch auch weiter unten in der Liste stehende Punkte lassen sich oftmals nicht im Handumdrehen lösen. Ein Kulturwandel (Punkt 7) beispielsweise kann schmerzhaft sein und dauert oft viele Jahre.

Das jeweilige Ergebnis der Checkliste ist im Kontext der Unternehmens-, beziehungsweise Geschäftsstrategie, der Marktsituation und der individuellen Ressourcenausstattung zu betrachten. Je größer die strategischen Handlungsbedarfe und finanziellen Ressourcen, desto eher kann ein Projekt auch mit mehreren „Neins“ weitergeführt werden. Dann gilt es, zügig einen digitalen Turnaround einzuleiten und dabei auch die bewährten Werkzeuge aus dem klassischen Turnaround-Management zum Einsatz zu bringen. Dazu gehören unter anderem ein professionelles Stakeholder-Management, ein kluges Change-Management und ein konsequentes Umsetzungsmanagement. (bw)