Machine Learning Status Quo

Wenn maschinelles Lernen zur Pflicht wird

12.08.2020
Von 
Bernd Reder ist freier Journalist und Autor mit den Schwerpunkten Technologien, Netzwerke und IT in München.
Deutsche Unternehmen sehen in maschinellem Lernen kein Spielzeug für technikverliebte „Nerds“, sondern ein Werkzeug für viele Anwendungsfelder. Lesen Sie, warum Machine Learning immer mehr zum Obligatorium wird.
Fast drei Viertel der Unternehmen beschäftigen sich laut einer Studie von IDG Research Services derzeit mit Machine Learning.
Fast drei Viertel der Unternehmen beschäftigen sich laut einer Studie von IDG Research Services derzeit mit Machine Learning.
Foto: cono0430 - shutterstock.com

Sei es in der Qualitätssicherung in Produktionsumgebungen, bei Chat-Bots, im Kundenservice oder bei der vorausschauenden Wartung von Maschinen und Anlagen (Predictive Maintenance): Unternehmen in Deutschland setzen maschinelles Lernen (ML) und seine Schwestertechnologie Künstliche Intelligenz (KI) mittlerweile in vielen Bereichen ein oder haben zumindest entsprechende Feldversuche gestartet. Das zeigt die Studie "Machine Learning 2020" von IDG Research Services.

Doch nicht nur die Vielfalt der "Use Cases" ist im Vergleich zu den vergangenen Jahren gestiegen, sondern auch die Zahl der Unternehmen, die maschinelles Lernen aktiv nutzen. "Die meisten Firmen in Deutschland haben die Relevanz von Machine Learning erkannt und setzen diese Technologie vermehrt ein", bestätigt Dr. Susan Wegner, Vice President Artificial Intelligence & Data Analytics des IT-Dienstleistungsunternehmens Lufthansa Industry Solutions (LHIND). "Das gilt derzeit vor allem für den Finanzbereich, um mit Machine Learning Kapitalflussanalysen für Prognosen zu optimieren." Auch im Cargo-Bereich registriert LHIND verstärkt Nachfragen. Dort lässt sich mit ML vorhersagen, wie viele Lieferungen in einem bestimmten Zeitfenster erfolgen. Diese Daten nutzen Firmen wiederum, um den Einsatz von Arbeitskräften zu planen und die Preisgestaltung zu optimieren.

Zur Studie "Machine Learning 2020"

Maschinelles Lernen im Trend - auch im Mittelstand

Laut der Studie von IDG Research Services beschäftigen sich derzeit fast drei Viertel der Unternehmen mit ML. Positiv ist, dass dies nicht nur für Großunternehmen gilt, so Dr. Reza Bakhtiari, Senior Data Scientist und Consultant bei A1 Digital Deutschland: "Natürlich sind große Konzerne tendenziell eher bereit in neue Technologien zu investieren. Aber wir sehen, dass auch zunehmend kleinere Unternehmen den Mehrwert von ML erkennen." Allerdings ist aus seiner Sicht Eile geboten. Wer sich erst in ein paar Jahren mit maschinellem Lernen und KI beschäftigen möchte, läuft Gefahr, den Anschluss zu verlieren.

Doch immerhin haben bereits rund 30 Prozent der mittelständischen Unternehmen mit 500 bis zu 1.000 Mitarbeitern mehrere ML-Technologien im Einsatz. Bei den Großunternehmen sind es mehr als 43 Prozent. Dagegen haben kleinere Mittelständler mit 50 bis unter 500 Beschäftigen noch einen erkennbaren Nachholbedarf: Nur zehn Prozent setzen bereits in größerem Umfang Machine-Learning-Lösungen ein. Dabei, so Reza Bakhtiari, lässt sich die Technologie in vielen Sparten von Unternehmen jeder Größe nutzbringend verwenden, "von der Logistik und dem Handel bis hin zu Baufirmen und Dienstleistern".

Mit das größte Potenzial sehen die Studienteilnehmer beim ML-Einsatz im Kundendienst.
Mit das größte Potenzial sehen die Studienteilnehmer beim ML-Einsatz im Kundendienst.
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Zu den Anwendungsfeldern, die sich für erste Anwendungen am besten eignen, zählen die personalisierte Kundenbetreuung und eine "360 Grad Customer View", so Susan Wegner von LHIND. Der Grund: "Die Marketingabteilungen haben oft eine starke Affinität zur Auswertung von Daten. Außerdem sind in diesem Bereich häufig Daten in der erforderlichen Qualität vorhanden." Diese Einschätzung teilen auch die Teilnehmer der Studie von IDG Research Services. Rund 38 Prozent sehen das größte Potenzial von Machine Learning und KI im Kundendienst, etwa 37 Prozent im Vertrieb und jeweils fast ein Viertel im Marketing und bei der Verbesserung der Kundenerfahrung.

"Machine Learning steht und fällt mit der Qualität der Daten"

Doch ein "Selbstläufer" sind ML-Projekte selbst in diesen Sparten nicht - eine Erfahrung, die sowohl LHIND als auch A1 Digital gemacht haben: Etliche Machine-Learning-Vorhaben bleiben in der Proof-of-Concept-Phase stecken. Dafür gibt es mehrere Gründe. "Vielen Unternehmen gelingt es noch nicht, funktionierende ML-Algorithmen produktiv zu nutzen, weil dafür andere Tools und Skills erforderlich sind", sagt beispielsweise Reza Bakhtiari von A1 Digital. Hinzu kommt nach Erfahrungen von Lufthansa Industry Solutions, dass etliche Anwender grundlegende Voraussetzungen außer Acht lassen, etwa "den ML-Entwicklungsprozess, die Datenbasis, die Technologieplattform und das Thema Data Governance", so Susan Wegner. Das bedeutet: Nutzer von maschinellem Lernen und KI müssen zunächst jede Menge Hausaufgaben erledigen, bevor sie mit einem entsprechenden Projekt starten. Ein zentraler Punkt ist vor allem die Menge und Qualität der Daten, die für das Training der entsprechenden Algorithmen erforderlich sind. "Machine Learning steht und fällt mit der Qualität der Daten. Daher müssen oft viel Zeit, Expertise und Geld in die Beschaffung und Aufbereitung von Daten gesteckt werden", sagt Reza Bakhtiari.

Erschwert werden solche Vorbereitungsarbeiten teilweise durch die vorhandene IT-Infrastruktur: "Insbesondere große, traditionelle Unternehmen stehen vor der Herausforderung, dass beispielsweise die Benutzerdaten auf verschiedene Legacy-Systeme verteilt, nicht alle direkt mit einem Benutzer verbunden sind oder sogar unterschiedliche Benutzerkennungen haben", erläutert Susan Wegner von LHIND. Außerdem müssen die gesetzlichen Datenschutzvorgaben berücksichtigt werden, vor allem bei personenbezogenen Daten. Dies kann dazu führen, dass ein Unternehmen je nach Datentyp unterschiedliche Lösungen implementieren muss. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass in der Studie von IDG Research Services der Punkt "Datenschutzvorgaben" mit 35 Prozent auf Platz zwei der Rangliste mit den größten Hürden bei der Anwendung von ML rangiert.

Zur Studie "Machine Learning 2020"

Worauf ML-Anwender in der Praxis achten sollten

Doch solche Herausforderungen lassen sich bewältigen. LHIND rät beispielsweise dazu, ein klares Governance-Modell einzuführen. Es regelt, wer der Produzent und der Eigentümer bestimmter Daten ist und wer die Rolle des Systemverantwortlichen übernimmt. Um Widerstände und Vorbehalte seitens der Mitarbeiter gegenüber Machine Learning und KI auszuräumen, sei zudem die Unterstützung entsprechender Projekte durch die Geschäftsführung und die Bereichsleiter unverzichtbar. Hilfestellung geben außerdem eine umfassende Aufklärung der Beschäftigten sowie regelmäßige Schulungen.

Unternehmen, die sich mit maschinellem Lernen beschäftigen, sollten außerdem Tools implementieren, die eine enge Zusammenarbeit zwischen Fachbereichen und Machine-Learning-Experten ermöglichen, rät Dr. Bakhtiari von A1 Digital. Außerdem sei es erforderlich, dass Workflows automatisiert werden, damit sich ML-Modelle im Produktiveinsatz verwenden lassen. Das bedeutet, dass es nicht damit getan ist, einfach ein paar Experten für maschinelles Lernen anzuheuern und diesen ML-Frameworks, Daten und die entsprechende IT-Hardware an die Hand zu geben. Offenkundig müssen Unternehmen in weiteren Bereichen Hand anlegen, etwa indem sie zuvor ihre Prozesse erfassen - Stichwort Process Mining - und diese automatisieren. Hier kommt mit Robotic Process Automation (RPA) eine weitere Technologie ins Spiel. Auch sie steht bei deutschen Firmen gegenwärtig hoch im Kurs, wie eine weitere Studie von IDG Research Services bestätigt ("Robotic Process Automation 2020").

Im Finanzbereich wird Machine Learning häufig genutzt, um Kapitalflussanalysen für Prognosen zu optimieren.
Im Finanzbereich wird Machine Learning häufig genutzt, um Kapitalflussanalysen für Prognosen zu optimieren.
Foto: Tendo - shutterstock.com

Machine Learning mit Need for Speed

Um den Einstieg in Machine Learning schneller und effizienter zu bewältigen, kommt zudem die Zusammenarbeit mit IT-Dienstleistern in Betracht. Das sieht auch ein beträchtlicher Teil der Anwenderunternehmen so: Nur etwa ein Drittel verzichtet darauf, externe Fachleute zurate zu ziehen. Die Mehrzahl greift bei Bedarf auf Unterstützung von außen zurück oder hat die Entwicklung und den Betrieb von ML-Lösungen ausgelagert. "Wir kommen insbesondere dann ins Spiel, wenn nachhaltige Machine-Learning-Lösungen gesucht werden und nicht nur ein spezifisches Produkt", erläutert Susan Wegner. LHIND konzentriert sich dabei auf geschäftsrelevante Lösungen, für die Betrieb und mögliche Weiterentwicklung auf längere Zeit gesichert sind - Stichwort Zukunftssicherheit.

A1 Digital wiederum stellt ein Komplettpaket zur Verfügung, "ein ML-as-a-Service- und Infrastructure-as-a-Service-Angebot in Kombination mit Support von unseren Data-Science-Experten", so Reza Bakhtiari. "Der Anwender kann sich somit auf seine Fachexpertise und die ,Business Insights' fokussieren, ohne Zeit und Ressourcen für Infrastruktur und den Aufbau und Betrieb einer Tool-Landschaft für Machine Learning zu verlieren."

Die Algorithmen kommen – so oder so!

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Es ist erfreulich, dass bereits eine erhebliche Zahl der deutschen Firmen Machine Learning auf der Agenda hat. Darin dürfte sich auch die Einschätzung von Geschäftsführern, Fachabteilungen und CIOs widerspiegeln, dass letztlich an dieser Technologie kein Weg vorbeiführt. Wer es jetzt versäumt, Erfahrungen mit ML zu sammeln und Anwendungsszenarien zu entwickeln, dürfte es schwerhaben, auf dem Markt zu bestehen. Das gilt für den Großteil der Branchen.

Daher sollten sich Anwender nicht von den Hürden abschrecken lassen, die bei Einführung einer neuen Technologie zu überwinden sind. Aber solche Anlaufprobleme gibt es immer, wenn sich neue Ansätze etablieren. Man denke nur an Virtualisierung und Cloud Computing. Besser ist, maschinelles Lernen und KI als Chance zu sehen, den eigenen wirtschaftlichen Erfolg zu sichern und neue Geschäftsfelder zu erschließen.

Zur Studie "Machine Learning 2020"

Die aktuelle Studie "Machine Learning 2020" gibt es jetzt auch im COMPUTERWOCHE Studienshop.
Die aktuelle Studie "Machine Learning 2020" gibt es jetzt auch im COMPUTERWOCHE Studienshop.
Foto: sdecoret / shutterstock.com

Studiensteckbrief

Herausgeber: COMPUTERWOCHE, CIO, TecChannel und ChannelPartner

Gold-Partner: Lufthansa Indutry Solutions

Silber-Partner: A1 Digital

Grundgesamtheit: Oberste (IT-)Verantwortliche von Unternehmen in der D-A-CH-Region: strategische (IT-)Entscheider im C-Level-Bereich und in den Fachbereichen (LoBs), IT-Entscheider und IT-Spezialisten aus dem IT-Bereich

Teilnehmergenerierung: Stichprobenziehung in der IT-Entscheider-Datenbank von IDG Business Media; persönliche E-Mail-Einladungen zur Umfrage

Gesamtstichprobe: 406 abgeschlossene und qualifizierte Interviews

Untersuchungszeitraum: 17. bis 25. Februar 2020

Methode: Online-Umfrage (CAWI)

Fragebogenentwicklung: IDG Research Services in Abstimmung mit den Studienpartnern

Durchführung: IDG Research Services