Zu hohe Erwartungen

Die KI-Rakete hebt nicht ab

16.12.2020
Von 
Heinrich Vaske ist Editorial Director a.D. von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO.
Der Markt für Künstliche Intelligenz (KI) wird in den kommenden Jahren nicht die Dynamik entfalten, die ihm vielfach vorhergesagt wird. Das behaupten zumindest die Analysten von Forrester Research.
Künstliche Intelligenz - Rakete ohne Schubkraft? Lesen Sie, warum sich der Markt für Künstliche Intelligenz möglicherweise nicht so dynamisch entwickeln wird, wie vorhergesagt.
Künstliche Intelligenz - Rakete ohne Schubkraft? Lesen Sie, warum sich der Markt für Künstliche Intelligenz möglicherweise nicht so dynamisch entwickeln wird, wie vorhergesagt.
Foto: TanyaJoy - shutterstock.com

Ihre Kernbotschaft haben die Marktforscher im Titel ihrer neuen Studie verpackt: "The AI Software Market Will Grow To 37 Billion Dollar Globally By 2025" - das sei immer noch eine Menge, aber doch weit entfernt von den oft prognostizierten 100 oder 200 Milliarden Dollar Wachstum, schreiben die Principal Analysts Andrew Bartels und Mike Gualtieri. Das Autorenduo nennt für seine verhaltene Prognose zwei Gründe:

  1. Viele KI-Entwicklungen können nicht monetarisiert werden. Sie dienen einfach nur dazu, bestehende Geschäftsanwendungen auszubauen und zu verbessern.

  2. Anwenderunternehmen, die KI-Anwendungen für den Eigenbedarf entwickeln, werden damit in der Regel keinen oder höchstens indirekten Umsatz generieren.

Laut Forrester hat sich die KI-Geschäftsentwicklung im ablaufenden Pandemiejahr verlangsamt - so wie das Software-Business insgesamt. Bis 2023 werde die Nachfrage wieder kräftiger ansteigen, ehe danach die Dynamik abermals rückläufig sei. KI werde zunehmend von anderen Softwareprodukten absorbiert und spiele als Differentiator zwischen den Produkten verschiedener Anbieter keine große Rolle mehr. Erlöse mit Anwendungen und Tools, für die "KI-Inside" eine Weile als Verkaufsargument nützlich gewesen sei, sollen dann sogar sinken. KI wird Commodity.

KI wird Commodity

All das ändert aber laut Forrester nichts daran, dass KI eine technische Grundlage künftiger Softwareprodukte bilden wird. All jene Softwarehersteller, die heute den Ton angeben, dürften in absehbarer Zeit KI unter der Haube haben, so dass Kunden kaum noch veranlasst sein werden, zu "intelligenteren" Lösungen anderer Anbieter zu wechseln. Dort wo heute KI-Plattformen und -Lösungen gekauft werden, greifen die Anwender laut Forrester dann wieder zu ihren klassischen Anwendungen, die aufgrund von "Embedded KI" leistungsfähiger sind. Forrester unterscheidet im Markt für KI-Software- und -Plattformen vier Segmente.

Maker-Plattformen

Dieses Segment umfasst Anbieter, die Tools und Plattformen bereitstellen, mit denen KI-Teams hochgradig angepasste KI-Lösungen für nahezu jeden Anwendungsfall erstellen können. Dazu gehören zu allererst die Cloud-Hyperscaler Amazon, Microsoft, Google und Alibaba. Hinzu kommen Spezialanbieter wie Cloudera, Dataiku, DataRobot, Domino Data Lab, dotData, Google, H2O.ai, IBM, MathWorks, Microsoft, RapidMiner, SAS und TIBCO. Letztere bieten auf ihren Plattformen besondere Tools etwa für Data Engineering, Modellentwicklung oder Anwendungsintegration und -Bereitstellung. Die Anbieter in diesem Segment greifen oft auf Innovationen der Open-Source-Community zurück.

Die Hyperscaler profitieren im KI-Plattformgeschäft von den gleichen Effekten wie bei Infrastructure as a Service (IaaS): massive Skalierung und Kostenvorteile. Außerdem können Kunden deren KI-Produkte relativ einfach mit Anwendungen integrieren, die bereits auf deren großen IaaS-Plattformen laufen. Genauso naheliegend ist die Verknüpfung mit den vorhandenen Platform-as-a-Service-(PaaS-)Angeboten für die Softwareentwicklung.

Die spezialisierten KI-Maker-Plattformen indes können Lösungen gezielt auf Branchen, Länder oder Marktsegmente zuschneiden. Mit der Zeit dürften aber die Hyperscaler ihre Größenvorteile und Ressourcen ausspielen, was den Markt für KI-Maker-Plattformen erheblich ausdünnen wird.

KI-Facilitator-Plattformen

Hier geht es primär um die Umsetzung branchenspezifischer oder hochfokussierter horizontaler Anwendungsfälle. Beispiel wäre etwa eine Plattform, die Bilderkennung für Lösungen zur Qualitätskontrolle unterstützt, oder ein Angebot, das hilft, natürlichsprachliche virtuelle Assistenten zu entwickeln. Anbieter in diesem Segment bieten oft auch Tools an, die Business-Anwender - ambitionierte Laien also - verwenden können, um KI-Lösungen umzusetzen. Dabei stellen sie keine vollständigen KI-Anwendungen bereit, sondern kleine, individuell zugeschnittene KI-Lösungen für ganz bestimmte Use Cases.

Zu dieser Herstellerkategorie gehören Computer-Vision-Spezialisten wie Chooch AI, Deepomatic, Hive oder Neurala. Hinzu kommen Experten für Sprachanalyse, darunter Calabrio, Clarabridge, Cogito, Speechmatics und Uniphore. Auch Plattformen für maschinelles Lernen sowie Datenkataloge wie sie Alation, Collibra und Reltio bieten, gehören in diese Kategorie. Gefragt sind ferner Standortlokalisierungs-Apps wie Foursquare und Mapbox sowie Konversationstools wie die von Amelia (ehemals IPsoft), Avaamo, Interactions und Omilia.

Noch sind die KI-Anwendungsfälle zu speziell, als dass sich die Anbieter der ersten Gruppe (KI-Maker-Plattformen) in diesen Markt hineinbegeben würden. Das verschafft den Betreibern Spielraum für Geschäfte mit Endkunden und zunehmend auch mit anderen Software-Anbietern. Deshalb glaubt Forrester, dass die Facilitator-Plattformen bis 2025 auf ein Volumen von fast acht Milliarden US-Dollar anwachsen werden.

Irgendwann werden sich den Analysten zufolge aber die Kunden abwenden und in Sachen KI an den Angeboten ihrer Haus-und-Hoflieferanten wenden, deren Lösungen immer besser würden. In der Zwischenzeit sollen dann auch die Hyperscaler in dieses Marktsegment eingedrungen sein, da sich das Wachstum ihres Kernmarktes für allgemeine KI-Tools verlangsamt haben wird.

KI-zentrische Anwendungen und Middleware Tools

Es gibt Geschäftsanwendungen, die vollständig auf KI-Technologie angewiesen sind und nur auf dieser Basis entwickelt werden konnten. Man denke etwa an Videoüberwachungssysteme, die auf Deep-Learning-Modellen für die Gesichtserkennung aufsetzen, oder an Machine-Learning-Algorithmen zum Erkennen von Unterbrechungen in der Lieferkette. Auch computergesteuerte Diagnosen auf der Basis intelligent ausgewerteter Röntgenaufnahmen funktionieren so.

Weitere Beispiele sind fortgeschrittene Betrugserkennung, wie sie Lösungen von Featurespace oder Feedz.ai ermöglichen, oder medizinische Diagnosen (Health Catalyst, IBM Watson Health, Welltok), Kontaktanalysen (Kira Systems), Kundenanalysen (Acoustic, Manthan) oder kognitive Suche (Attivio, Coveo, Lucidworks).

Anwendungen und Middleware Tools mit KI-Unterstützung

Dieses letzte Segment umfasst Anbieter, die bestehende Anwendungen gezielt mit KI-Funktionen aufwerten, um sich zu differenzieren und einen Premium-Preis verlangen zu können. Forrester nennt als Beispiele Anbieter von Customer-Experience-Lösungen wie Clarabridge, Sicherheitsanbieter wie SentinelOne, BI-Spezialisten wie ThoughtSpot, Kundendaten-Plattformen wie BlueConic, Testautomatisierungs-Tools wie Eggplant (gehört zu Keysight), Functionize und mabl sowie Digital-Experience-Plattformen wie Acquia.

Einen Aufpreis für zusätzliche KI-Funktionalität zu verlangen, wird laut Forrester aber auf Dauer schwierig. Die Kunden werden davon ausgehen, dass solche Features irgendwann zum Standard gehören und mit der Anschaffung warten, bis es so weit ist. Besser sollten da schon KI-zentrische Anwendungen (Kategorie 3) funktionieren: Hier handelt es sich nicht um verbesserte, sondern um ganz neue Lösungen. Allerdings glaubt Forrester, dass ihre Funktionalität irgendwann von breiter aufgestellten Business-Anwendungen absorbiert werden wird, so dass zum Beispiel KI-basierte medizinische Diagnoseanwendungen Bestandteil von größeren Healthcare-Suites werden. Nicht auszuschließen also, dass einige der Spezialanbieter schon bald aufgekauft werden.

Umverteilung im Softwaremarkt

Der im Jahr 2025 auf 37 Milliarden Dollar taxierte KI-Marktwert weist laut Forrester eine Besonderheit auf: Es werden die Softwarehäuser selbst sein, die einen erheblichen Teil dieses Volumens unter sich ausmachen. Die Analysten schätzen, dass beispielsweise Anbieter von Datenbanksystemen, Integrations-Tools oder BI-/Analytics-Anwendungen rund zehn Prozent ihrer Erlöse mit Kunden aus der Software-Industrie machen. Bei KI-Software soll dieser Anteil der Einnahmen bei rund einem Drittel liegen.

Das Fazit aus den Marktforschungen lautet: KI wird in Zukunft dazu verwendet, bestehende Anwendungen zu optimieren. Sie wird in den meisten Geschäftsanwendungen Einzug halten und dort zur Norm werden. Natürlich wird es auch reine KI-Anwendungen oder mittels KI aufgehübschte und dadurch verteuerte Anwendungen geben, aber deren Umsatz werde nicht einmal drei Prozent des gesamten Markts für Applikationen erreichen, Tendenz: ab 2023 sinkend. KI-Plattformen werden insgesamt Teil eines immer breiteren Middleware-Marktes und stehen dort eingereiht neben Datenbank- und Speicher-Management-Systemen, Integrationssoftware, Security-Angeboten und Entwicklungsplattformen.

Für Endanwender mit First-Mover-Ambitionen stellt sich die Frage nach dem Umgang mit KI. Forrester sieht einen Zwiespalt zwischen "Build" oder "Buy":

  • Wenn schnell auf unternehmens- oder marktspezifische Marktgelegenheiten reagiert oder ein Wettbewerbsvorteil erzielt worden soll, empfehlen die Analysten den Build-Ansatz. Dieser Gruppe könnten aber gelegentlich auch KI-zentrische Applikationen oder Standardanwendungen mit einem kostenpflichtigen KI-basierten Mehrwert helfen - das Rad neu zu erfinden gebe selten Sinn.

  • Der Buy-Ansatz sei der praktikablere, aber auch nur dann, wenn Unternehmen ihre Hausaufgaben in Sachen Datenqualität und -Management erledigt hätten.

Machine Learning basiere auf fortgeschrittenem Datenmanagement, es brauche also saubere Betriebs-, Kunden- und Marktdaten. Wer optimale Ergebnisse will, ist auf dauerhaft optimale Trainingsdaten angewiesen, anhand derer KI-Anwendungen immer wieder aufs Neue trainiert werden können. Daran sollten Unternehmen denken und in manchen Fällen vielleicht einen Anbieter wählen, der seine Algorithmen bereits erfolgreich mit den Daten anderer Kunden trainiert hat.