KI im Recruiting

Überlassen Sie in der Talentsuche nichts dem Zufall

30.07.2023
Von 
Dr. Annika von Mutius ist Co-Founder & Co-CEO von Empion, dem ersten KI-basierten automatisierten Headhunting-System, das Bewerbende und Unternehmen auf Basis von Werten, Skills und Persönlichkeitsmerkmalen matcht. Von Mutius studierte an der WHU und promovierte zu Individualisierungs-Modellen in der Mathematik. Sie arbeitete vor ihrer eigenen Unternehmensgründung für ein Robotics Startup im Silicon Valley und wurde kürzlich in die Forbes 30 Under 30 Europe Liste in der Kategorie Technologie aufgenommen.
Unternehmen setzen noch immer auf die Stellenanzeige. Ein Fehler, denn mit künstlicher Intelligenz ist die Kandidatensuche effizienter und billiger.
Im Recruiting kann künstliche Intelligenz helfen, Zielgruppen präziser zu adressieren und die besten Jobkandidaten effizienter auszuwählen.
Im Recruiting kann künstliche Intelligenz helfen, Zielgruppen präziser zu adressieren und die besten Jobkandidaten effizienter auszuwählen.
Foto: Alexander Limbach - shutterstock.com

Die Stellenanzeige ist ein Paradoxon. Sie ist nach wie vor eine der Top-Recruiting-Kanäle, gleichwohl sie veraltet, ungenau und unflexibel ist. Ein Beispiel: Für eine Business Development-Stelle in Berlin gibt es auf den klassischen Jobportalen 7000 Angebote. Heute können sich Bewerbende den Job aussuchen und niemand hat die Bereitschaft, einen solchen Massenmarkt zu durchforsten. Außerdem werden potenzielle Bewerbende hier nicht fündig. Der Grund: Die wesentlichen Zufriedenheitsfaktoren im Job sind rein wertebasiert, nämlich: Wertschätzung, Weiterentwicklung oder die Beziehung zu den Kollegen. Diese und viele andere Faktoren werden in klassischen Stellenanzeigen nicht bedacht. Die Folge sind Mitarbeitende, die nicht zum Unternehmen passen, und Unternehmen, die nicht zu den Mitarbeitenden passen.

Gerade vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels ist dieses Thema besonders brisant: Bis 2030 werden in Deutschland sechs bis acht Millionen Fachkräfte fehlen, dies ergab eine Studie der Boston Consulting Group. Eine aktuelle Studie von Leapsome kommt zu dem Ergebnis, dass vier von fünf befragten Mitarbeitenden innerhalb des kommenden Jahres planen, den Arbeitsplatz zu wechseln. Fast die Hälfte der Befragten möchte dies sogar schon innerhalb der kommenden sechs Monate tun. Zu ähnlichen Resultaten gelangen auch Umfragen von LinkedIn und Monster. Unternehmen sollten deshalb mehr Wert auf das Thema Recruiting legen, um die passenden Talente zu finden. Zum einen, damit sie nicht gleich wieder kündigen. Zum anderen, weil es, wie die oben erwähnte Leapsome-Studie zeigt, bald viele Talente gibt, die auf den Arbeitsmarkt gespült werden. Sie zu finden und zu binden, ist jedoch die große Herausforderung.

Recruiting hängt oft von Zufällen ab

Sollte Recruiting dem Zufall überlassen sein? Frei nach dem Motto: Es wird schon jemand Passendes unter den Bewerbenden sein. Und wenn nicht, schalten wir eben die nächste Stellenanzeige. So wie es mir vor einigen Jahren passierte, als ich einen wirklich großartigen Job in San Francisco bei einem jungen Startup fand. Ich brachte die erforderlichen Fähigkeiten, Persönlichkeit und Flexibilität mit, um in einem jungen Startup zu arbeiten - und die Unternehmenskultur passte zu mir: mein Traumjob. Dass ich diesen Job fand, war jedoch reiner Zufall. Ich habe mich damals für die Arbeit in einem Deep-Tech-Unternehmen interessiert und dazu mit einem Professor gesprochen. Dieser brachte mich dann über einen Investor mit meinem künftigen Arbeitgeber zusammen und so startete der Bewerbungsprozess. Mathematisch gesehen ergibt das jedoch keinen Sinn. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich diesen Arbeitgeber fand und dann auch noch dazu passte, war statistisch gesehen verschwindend gering. Es war Zufall. Doch so läuft es im Recruiting immer wieder.

Personalwesen braucht mehr künstliche Intelligenz

Laut ChatGPT sind die Top fünf Recruiting-Kanäle schnell klar: Stellenanzeigen gehören dazu. Ganz oben mit dabei sind übrigens auch Mitarbeiterempfehlungen. Andere Kanäle sind Social Media, Karrieremessen und Websites der Unternehmen. Dies sind aber Kanäle, die zu einem großen Teil wenig bis gar keine Technologie einsetzen - geschweige denn künstliche Intelligenz (KI). Und das, obwohl uns Technologien eigentlich überall begegnen - sei es in unserer Freizeit, beim Streaming von Filmen oder beim Trading von Aktien.

KI hat in die meisten Branchen Einzug gehalten. Einige sind dabei bravouröse Spitzenreiter, wie beispielsweise der Fintech-Sektor mit einer KI Adoption Rate von deutlich über 50 Prozent. Technologien sind in der Lage, präzise Risikoprofile zu analysieren und ermöglichen beispielsweise im Trading von Aktien schon heute sehr kompetitive Ergebnisse. Die Adoption Rate in der HR-Branche dagegen liegt dort, wo der Fintech-Sektor bereits vor fast sieben Jahren war. Das ist kaum zu glauben, wenn wir doch bedenken, dass Human Resources der Hebel hinter aller Produktivität und allem Wirtschaftswachstum ist. Wie kann es sein, dass die HR-Branche so weit hinter anderen rangiert?

Effizienzsteigerung durch KI im Recruiting

Stellenanzeigen sollten einer KI-basierten individuellen Jobsuche weichen, die Dimensionen wie Unternehmenskultur, Skills und Persönlichkeitsmerkmale berücksichtigt. Wir müssen die individuelle Jobsuche auf einem Niveau zugänglich machen, das wir ansonsten nur aus dem Bereich der Executive Search kennen. Das kann effizient nur durch den Einsatz von KI funktionieren.

Die Effizienzsteigerungen durch KI im Recruiting können wir bereits mit starken Fallstudien belegen. Nehmen wir ein Berliner Unternehmen mit rund 100 Mitarbeitenden. Dieses generiert Bewerbende üblicherweise über einen klassischen Channel-Mix, das heißt Stellenausschreibungen, Mitarbeiterempfehlungen oder die eigene Karriereseite. Im Fall der offenen Position eines Marketing-Managers erreicht das Unternehmen eine Reichweite von insgesamt 15.000 Impressions und generiert daraus 200 Bewerbungen. Das klingt zunächst gut, tatsächlich können von diesen 200 Bewerbungen jedoch nur 20, also zehn Prozent, in den Interviewprozess geladen werden, um daraus eine Einstellung zu realisieren. Mit insgesamt 7300 Euro Cost per Hire und 67 Tagen Time to Hire war der Prozess aber zumindest erfolgreich.

Durch die Nutzung von KI wandeln sich diese KPIs trotzdem deutlich. Im ersten Schritt wird durch inhaltliche Reichweite - spricht durch den Einsatz von Unternehmenskultur und Werten als Differenzierungskriterium - eine deutlich größere Reichweite erzielt (> 5 Millionen Impressions), um dann durch KI-basierte Vorqualifizierung nur zwölf Bewerbende zu generieren, wovon jedoch die Hälfte für den Bewerbungsprozess qualifiziert sind und eine Einstellung zustande kommt. Hier entstehen nur etwa 50 Prozent der Einstellungskosten mit einer beinahe unschlagbaren Time to Hire von 22 Tagen.

Natürlich ist das nur ein Beispiel und ein sehr Erfolgreiches noch dazu. Es bildet jedoch den direkten ökonomische Wert von KI im Recruiting überzeugend ab. Dabei sind die Cost per Hire sicher nur ein Tropfen auf den heißen Stein; wissen wir doch, wie massiv sich das Nicht- oder Falschbesetzen von Positionen auf die Performance eines Unternehmens auswirkt. Selbst wenn KI im Durchschnitt nur 50 Prozent der Effizienzen aus dem Fallbeispiel realisiert, gäbe es einen deutlichen wirtschaftlichen Gewinn.

Was Unternehmen im Recruiting selbst verbessern können

Selbstverständlich können Unternehmen auch selbstständig, also ohne externe Dienstleister, vieles umsetzen, um ihre Reichweite zu vergrößern.

1. Stoppt die Stellenanzeige:

Natürlich können Unternehmen nicht sogleich vollkommen auf Stellenanzeigen verzichten, aber sie sollten damit beginnen, die Recruiting-Prozesse umzudenken.

- Skill-basierteJobSpecification: Abschlüsse sind weitaus weniger relevant als Fähigkeiten. Die Beschreibung eines Stellenprofils sollte sich vollkommen auf die Aufgaben und die erforderlichen Fähigkeiten konzentrieren. Wer also einen neuen Vertriebsleiter sucht, sollte nicht über den erforderlichen Universitätsabschluss nachdenken, sondern über die relevanten Fähigkeiten. In diesem Fall zum Beispiel, welche Fähigkeiten erforderlich sind, um innerhalb von zwölf Monaten mit dem Einstellen von X Account Executives auf Umsatz X zu wachsen.

- Persönlichkeit: Neben den Skills ist auch die Persönlichkeit ein Kernelement, um das gesuchte Profil zu verstehen. Ohne das Bewusstsein über die gesuchte Persönlichkeit besteht kaum eine Chance, den idealen Kandidaten zu finden.

- Kanäle: Viele Unternehmen arbeiten nach wie vor nach dem Prinzip, eine Stellenausschreibung auf generischen Stellenportalen zu teilen. Die Realität ist, dass das nicht funktioniert, weil nur ein Verständnis der Persönlichkeit die Wahl des richtigen Kanals ermöglicht.

2. Nutzt Werte und Unternehmenskultur als Differenzierungskriterium:

Unternehmen dürfen nicht auf den wertvollen Faktor "Unternehmenskultur" verzichten.

- Dimensionen: Im ersten Schritt müssen Unternehmen ihre eigene Kultur analysieren. Das kann verschiedene Dimensionen beinhalten. Besonders wichtig sind zum Beispiel Weiterentwicklung und Kommunikation.

- Einbeziehen der Mitarbeitenden: Kultur wird von einem Unternehmen insgesamt geprägt, also von allen Mitarbeitenden. Deshalb gilt grundsätzlich, dass Kulturanalysen immer umso wertvoller sind, je mehr Mitarbeitende daran teilnehmen.

- Weiterentwicklung: Unternehmenskultur ist niemals gesetzt und starr, weil sie sich mit jedem neuen Mitarbeitenden weiterentwickelt. Deshalb muss Kultur immer wieder gemessen und evaluiert werden, um ein authentisches Bild zu zeigen.

3. Investiert in Employer Marketing statt in Job Ads:

Das nachhaltige Investieren in die Arbeitgebermarke ist ein Investment, das sich nicht nur nachhaltig auszahlt, sondern zwingend erforderlich ist.

- Marketing-Professionals als Teil von HR: Die fortschrittlichsten Unternehmen haben bereits Marketing-Professionals für ihr HR-Teameingestellt, die genau verstehen, welche Kanäle für die richtigen Mitarbeitenden relevant sind.

- Langfristiges organisches Wachstum: Es gibt wirkungsvolle Social-Media-Plattformen, auf denen Unternehmen schnelle Sichtbarkeit erzielen. Ganz wesentlich ist dabei die Unterscheidung von Social-Graph- und Interest-Graph-Netzwerken - also der Möglichkeit, Reichweite über Inhalte und nicht über Follower zu generieren.

- Content zur SEO-Optimierung: Genau wie für die Vermarktung eines Produktes, kann SEO-Optimierung zur Gewinnung von Mitarbeitenden genutzt werden. Dabei ist jedoch wichtig, dass hier eine klare Trennung vorliegt. Der Kunde des Produktes ist nur in den seltensten Fällen mit der Persona eines Bewerbenden gleichzusetzen und erfordert entsprechend eine eigene Strategie.

Die HR-Branche muss veraltete Muster und Zufall in Recruiting-Prozessen durch strategische Reichweite und technologische Vorqualifizierung mittels KI ersetzen. Langfristig werden nur die Unternehmen kompetitiv im Markt sein, die Talente für sich gewinnen. Wir dürfen nicht zulassen, dass wir die großen Chancen von Technologie - und insbesondere KI - ausgerechnet in der HR-Branche ungenutzt lassen.

Aber trotz all der großen Chancen, die uns KI bietet, muss am Ende selbstverständlich auch das Gefühl passen.