Wie viel Praxisbezug braucht der IT-Profi?

Streit um die richtige Informatik

18.11.2008
Von 
Winfried Gertz ist Journalist in München. Er arbeitet in einem Netzwerk von zahlreichen Anbietern kreativer Dienstleistungen. Das Spektrum reicht von redaktioneller Hörfunk- und Fernsehproduktion über professionelle Fotografie bis zu Werbetexten für Industrieunternehmen und Non-Profit-Organisationen.
Professoren, Personaler und Praktiker sind uneins darüber, was unterrichtet werden soll. Wirtschaftsinformatiker greifen die klassische Informatik an und sehen sich mit ihrer praxisorientierten Ausbildung im Vorteil.

"Wer heute Informatik studiert, droht auf absehbare Zeit zum neuen Prekariat zu gehören." Das sagt kein fachfremder Bürokrat, sondern jemand, der für die Ausbildung des Nachwuchses mitverantwortlich ist: Erich Ortner, Professor für Wirtschaftsinformatik an der TU Darmstadt. Gemeinsam mit seiner Fachkollegin Elisabeth Heinemann, die an der FH Worms unterrichtet und Mitglied im Präsidium der Gesellschaft für Informatik (GI) ist, legte Ortner ein Memorandum vor, das in seiner Kritik ungewöhnlich drastisch ausfällt und der Diskussion um mehr Praxisbezug in der Informatik neuen Zündstoff liefert.

Erich Ortner, TU Darmstadt "Der Stundenplan der Informatik muss stärker auf Organisationsprozesse ausgerichtet sein."
Erich Ortner, TU Darmstadt "Der Stundenplan der Informatik muss stärker auf Organisationsprozesse ausgerichtet sein."

Das Fach Informatik, meint Ortner, sei zu sehr auf die Datenwelt fokussiert, obwohl in Wirtschaft und Verwaltung längst Prozesse wichtiger geworden sind. Aber darauf würden Studenten der Kerninformatik nicht hinreichend vorbereitet. Wirtschaftsinformatiker hingegen seien dank ihrer interdisziplinären Ausbildung sowie der praxisorientierten Denk- und Vorgehensweise klar im Vorteil.

Systeminformatiker verschlafen Paradigmenwechsel

Ortner zieht alle Register, um der ehrwürdigen Informatik am Zeug zu flicken. Das Curriculum müsse schleunigst auf Organisationsprozesse ausgerichtet werden und sich von seiner traditionellen Datenzentrierung verabschieden. Diesen Paradigmenwechsel hätten viele Professoren nicht wahrgenommen oder vielleicht sogar noch nicht begriffen. "Möglicherweise wird er auch aus Gründen des Machterhalts schlichtweg unter den Teppich gekehrt", argwöhnt der streitbare Hochschullehrer.

Laut Ortner stehen für den Daten- und für den Prozessansatz an den Hochschulen sehr unterschiedliche Kapazitäten zur Verfügung. "Während die Systeminformatik an der TU München allein 150 Mitarbeiter an einem Lehrstuhl für Software-Engineering beschäftigt", ärgert sich Ortner, "habe ich an der TU Darmstadt zurzeit fünf Mitarbeiter für die Entwicklung von Anwendungssystemen."

Gemessen am Bedarf in Wirtschaft und Verwaltung müsse das Verhältnis zwischen Systeminformatik (Rechnerprozesse) und Anwendungsinformatik (Organisationsprozesse) an den Hochschulen schleunigst auf den Kopf gestellt werden. Ein Argument, dem sich der IT-Verband Bitkom anschließt: "Wir teilen die Auffassung, dass der Anwendungsbezug in der Informatik zu kurz kommt", sagt Sprecher Stephan Pfisterer. "Seine Bedeutung sollte sich in der Ausrichtung und in den Ressourcen besser widerspiegeln."

Dabei könne die Informatik Ortner zufolge von anderen Ingenieurwissenschaften lernen. "Wer etwa Maschinenbau studiert, muss ebenso wie in der Informatik Mathematik belegen. Nur handelt es sich hierbei um eine Mathematik, die sich auf die Aufgaben im Maschinenbau stützt und somit das Berufsfeld und seine Probleme per se in Betracht zieht", unterscheidet Ortner. Kaum hinnehmbar ist das ramponierte Image des Fachs bei jungen Frauen. Während ihr Anteil unter den Informatik-Erstsemestern laut Bitkom bei knapp 15 Prozent liegt, ist jeder zweite Mathematikstudent weiblich, selbst wenn man die Lehramtsanwärterinnen herausrechnet.