Wie viel Praxisbezug braucht der IT-Profi?

Streit um die richtige Informatik

18.11.2008
Von 
Winfried Gertz ist Journalist in München. Er arbeitet in einem Netzwerk von zahlreichen Anbietern kreativer Dienstleistungen. Das Spektrum reicht von redaktioneller Hörfunk- und Fernsehproduktion über professionelle Fotografie bis zu Werbetexten für Industrieunternehmen und Non-Profit-Organisationen.

Informatiker weisen Vorwürfe zurück

Das Echo auf Ortners Thesen, mit denen er die fachliche Ausrichtung der Informatik und ihre Praxisrelevanz anzweifelt, fällt zwiespältig aus. Die kritisierten Informatikvertreter weisen die Anschuldigungen erwartungsgemäß harsch zurück. Manfred Broy, Professor an der TU München, räumt zwar Nachholbedarf ein, etwa bei den Schlüsselqualifikationen: "Neben der Programmierung müssen Teamarbeit und auch Führungsfragen viel stärker zur Geltung kommen." Doch eine Konkurrenz zwischen System- und Anwendungsinformatik, wie von Ortner heraufbeschworen, sieht Broy nicht.

Während Broy seinen Kollegen dazu einlädt, gemeinsam daran zu arbeiten, dass die Disziplin ihrer Verpflichtung in Ausbildungs- und Forschungsaufgaben nachkommen kann, hält Stefan Jähnichen, Präsident der Gesellschaft für Informatik (GI) und Professor für Softwaretechnik an der TU Berlin, die Debatte "für relativ unnütz". Gefragt seien nicht nur die beispielsweise von Ortner ausgebildeten Wirtschaftsinformatiker als Prozess-Spezialisten, sondern auch und gerade Informatiker mit der Fähigkeit, Systeme zu entwerfen und zu gestalten. Auch Jähnichen appelliert, "mehr junge Menschen für die Informatik zu begeistern".

Wirtschaft beklagt Praxisferne der Informatiker

Während die von Ortner attackierten Fachkollegen dessen Kritik zurückweisen, stoßen seine Thesen in der Wirtschaft auf großes Echo. Beklagt wird nicht nur der Mangel an ausgebildeten Informatikern. Ebenso kritisiert wird, wie wenig die akademische Ausbildung auf die berufliche Praxis vorbereitet und wie sehr es jungen Informatikern an Schlüsselqualifikationen fehlt. "Informatiker werden wegen ihres häufig fehlenden Verständnisses für das Geschäft erst nachrangig gesucht", sagt zum Beispiel Karl-Heinz Stroh, Personalvorstand des Baumarkt-Konzerns Praktiker.

Karl-Heinz Stroh, Praktiker Baumarkt "Informatiker tun sich schwer, ihre Arbeit verständlich zu machen."
Karl-Heinz Stroh, Praktiker Baumarkt "Informatiker tun sich schwer, ihre Arbeit verständlich zu machen."

Ingenieure basteln irgendetwas, Informatiker sitzen den ganzen Tag vor dem Computer: Halten sich hier etwa hartnäckige Vorurteile? Keineswegs, meint Stroh. Anwenderfirmen nähmen nicht nur zu Unrecht an, dass Informatiker "eher auf sich und ihre eigene Arbeitswelt zentriert sind und sich schwertun, sich anderen Mitarbeitern oder Kunden lösungsorientiert verständlich zu machen". Dies bestätige sich auch in Bewerbungsgesprächen. Zudem berichtet Stroh, Mitgründer der "HR Alliance", die sich fortschrittlicher Personalarbeit verschreibt, dass das Wissen der Absolventen häufig nicht dem aktuellen Entwicklungsstand entspricht. Stroh bekräftigt Ortners Kernargument: "Letztlich wird die Beschäftigungsfähigkeit der Hochschulabsolventen in Frage gestellt."

Dieser Einschätzung schließt sich Thomas Sattelberger an. Wie der Personalvorstand der Deutschen Telekom erläutert, fehle es nicht wenigen Informatikern an den nicht fachgebundenen Fähigkeiten, die im klassischen Informatikerprofil sträflich vernachlässigt würden. "Heute kann ein Informatiker nicht mehr nur Technik-Freak sein, sondern muss ebenso Teamfähigkeit und Geschäftswissen mitbringen." Bei der Auswahl von Informatikern lege die Telekom daher großen Wert auf überfachliche Kompetenzen und ein Denken in Geschäftsprozessen. Sattelberger stellt klare Forderungen an die Professoren: "Die Vermittlung einer prozessorientierten Denkweise sowie Kenntnisse in der Projekt- und Teamarbeit sollten integraler Bestandteil jedes Informatikstudiums sein."

Sattelberger favorisiert duale Studienangebote wie etwa die Telekom-eigene Ausbildung zum "Telekommunikationsinformatiker". Sie erfreue sich hoher Nachfrage. Ihre Absolventen würden von der Telekom auch mit offenen Armen empfangen. Professoren hingegen verweisen auf die neuen Bachelor-Studiengänge, die deutlich mehr an den Interessen des Arbeitsmarktes ausgerichtet seien.

Dem Vorwurf, die Informatik sei zu praxisfern, tritt GI-Präsident Jähnichen aber entschieden entgegen. Vielmehr seien die Kerngebiete "sehr anwendungsorientiert", die Disziplin selbst sei eine Schlüsseltechnologie. Weil ohne Informatik kein Auto fahre und kein Flugzeug fliege, sei sie eine Schnittstellentechnik, die in interdisziplinären Projekten die Führungsrolle übernehmen müsse. "Deshalb werden IT-Experten überall benötigt, und nicht nur Fachleute aus den Anwendungsgebieten, die nebenbei etwas Informatik gelernt haben."