Künstliche Intelligenz

Ohne kritisches Denken scheitert die KI-Transformation

18.04.2024
Von 
Stephanie Griffiths ist Field CDO bei Dataiku. In dieser Funktion konzentriert sie sich auf die Förderung des Geschäftswerts sowie der digitalen Transformation durch Anwendung künstlicher Intelligenz.
Kritische Vordenker sowie Denkanstöße sind unverzichtbar, wenn eine auf künstlicher Intelligenz basierende Prozessoptimierung in Unternehmen erfolgreich gelingen soll.
KI kann nicht die Soft Skills ersetzen, die jedes Unternehmen braucht, wie Innovation, Querdenken, komplexe Problemlösungen und zwischenmenschliche Fähigkeiten.
KI kann nicht die Soft Skills ersetzen, die jedes Unternehmen braucht, wie Innovation, Querdenken, komplexe Problemlösungen und zwischenmenschliche Fähigkeiten.
Foto: Toey Andante - shutterstock.com

Es ist nicht die Arbeitswelt, die sich an der KI auszurichten hat, vielmehr muss die KI umgekehrt der Arbeitswelt dienen. Deshalb sollten angesichts des KI-Hypes Sinn und Zweck der KI-Modelle in der Arbeitswelt nicht aus den Augen verloren werden. Denn daraus resultieren einige grundsätzliche Überlegungen:

  1. Kollaboration: Fachkräfte ohne Programmierkenntnisse entwickeln, implementieren und skalieren KI-Modelle gemeinsam mit Daten- und KI-Experten. Denn nur die Fachkräfte wissen, welche Innovationen ihre Arbeitsprozesse tatsächlich verbessern.

  2. Freiräume: Organisationen müssen Experimente und Diskussionen ermöglichen. Da KI immer multimodualer wird, werden auch mehr Stakeholder involviert. In einer kontrollierten Umgebung liegt es in der Hand einzelner Teams, agil KI-Lösungen zu entwickeln und zu implementieren.

  3. Compliance & Governance: Organisationen sorgen dafür, dass sich Mitarbeitende angesichts klarer Leitlinien sicher fühlen, im Sinne der Unternehmenswerte und gesetzeskonform zu agieren.

Das "Warum" hinterfragen

Doch wie bei jeder transformativen Technologie existiert auch für KI keine Blaupause, die Mitarbeitende ohne kritische Reflexion kopieren können. Einzelne, miteinander kooperierende Individuen gestalten KI und bestimmen, wie sie Innovationen in ihrer Arbeitswelt einsetzen. Die Prozesse, die diese Menschen nun definieren, werden noch die Arbeit von Generationen prägen. Angesichts dieser Tragweite ist es umso wichtiger, zu hinterfragen, "warum" wir KI brauchen, also was sie leisten soll - und erst im zweiten Schritt das "Wie" heranzuziehen.

Für die Definition just dieser Ziele erfordert es wiederum Fachkräfte, die einerseits inhaltlich ausreichend versiert sind, um mögliche Stolpersteine zu erkennen; zugleich aber visionär genug veranlagt sind, um das Potenzial einer auf KI basierenden (Teil-)Automatisierung abschätzen zu können. Es handelt sich dabei gleichzeitig um Spezialisten, die ausreichend reflektiert sind, um exakt zu verstehen, welche Aufgaben ihnen am stärksten zur Last fallen. Unsere Arbeitswelt erfordert schließlich nicht mehr das Reproduzieren jahrzehntelang erprobter Routinen, sondern das kritische Neugestalten einer sich rasanter denn je transformierenden Welt. Gefragt sind pragmatische Visionäre mit einem Hang zur Neugier, ohne aber das Machbare gänzlich aus den Augen zu verlieren.

Gesetz der unbeabsichtigten Folgen

Gerade angesichts der großen Komplexität unserer Zeit sollten wir uns immer wieder das Gesetz der unbeabsichtigten Folgen vor Augen führen. Jede Handlung oder Maßnahme führt zu unvorhergesehenen, möglicherweise negativen Auswirkungen. Sowohl Datenexperten als auch Fachkräfte schauen über den Tellerrand hinaus: Wie verändert KI nicht nur die einzelnen Arbeitsschritte? Wie verändert sich der Zusammenhalt in unseren Teams, unserer Wirtschaft, unsere Gesellschaft? Kritisches Denken und Empathievermögen liegen manchmal näher beieinander als gedacht.

LLM und Prompting

Ohnehin implementieren Organisationen die meisten Large-Language-Model-Anwendungen, ohne dass Datenexperten dafür erforderlich sind. Logische Prompts entscheiden darüber, ob und wie sehr LLMs Produktivität und Effektivität steigern. Nichtsdestotrotz wird es auch bei besten Prompts zumindest in absehbarer Zeit eine zentrale Rolle des Facharbeiters bleiben, alle KI basierten Resultate kritisch zu überprüfen. Das heißt natürlich nicht, dass Data Scientists für die KI-Transformation eine untergeordnete Rolle spielen. Aber auch in ihrem Fall ist das kritische Denken eine nicht minder relevante Kompetenz neben den Daten- und Programmierkenntnisse. Denn das Abwägen von Aufwand und Ertrag, das Suchen nach der bestmöglichen Lösung im Sinne des Kosten-Nutzen-Verhältnisses und vor allem das Einordnen einer einzelnen Lösung in die ganzheitliche Strategie, erfordert IT-Experten, die jenseits der rein technologischen Umsetzung Vor- und Nachteile verschiedener Lösungsansätze abwägen können.

Kritisches Denken fördern

Wie aber fördern Unternehmen die Kompetenz, des kritischen Denkens?

  1. Upskill - Langlebige Fähigkeiten fördern

Langlebige Fähigkeitensind Skills, die über verschiedene Bereiche und Kontexte hinweg übertragen werden können und die unabhängig von der technischen und sektoralen Entwicklung bestehen bleiben. Das bedeutet, kreative Problemlösungen, Kommunikation und Zusammenarbeit zu trainieren.

Nachfolgend einige praktische Ansätze, um dies in die Praxis umzusetzen:

  • Mehrwert definieren, der kreiert werden soll. Dabei geht diese Definition über den rein wirtschaftlichen Wert hinaus und berücksichtigt auch den sozialen und ökologischen Nutzen.

  • Sakichi Toyoda wollte seiner Mutter die Arbeit erleichtern und entwickelte "Jidoka" - eine Automatisierung mit menschlicher Note. Die Verbesserung der Produktivität war nicht das primäre Ziel, aber sie führte zum berühmten Toyota-Produktionssystem, wobei Sicherheit und Wohlbefinden an erster Stelle standen. Vorausschauende Wartung ist ein weiterer wichtiger Bereich, durch den die Sicherheit verbessert werden kann.

  • Der WWF leistet großartige Arbeit beim Aufbau der Science-Based Targets Initiatives (SBTi) für den Übergang zu einer "Zero-Net"-Wirtschaft.

  • Problemlösung und Kommunikation: Es existieren Tools wie Hackathons. Unter Zeitdruck und in gemischten Teams aus Geschäfts- und Datenexperten lassen sich Herausforderungen auf andere Weise erkunden und lösen.

2. Die Beziehung zur Technologie meistern

  • Es gibt kurze LLM-Kurse: Diese helfen, zu verstehen, dass es um Wahrscheinlichkeit und nicht um Intelligenz geht.

  • Jede und jeder sollte selbst testen, was GPT kann und was nicht, etwa indem man mit Nicolas Carlini spielt.

  • "Learning by Doing": Man sollte ChatGPT, Midjourney und andere Assistenz-Tools selbst nutzen. Über Linkedin werden großartige und inspirierende Prompts geteilt. Man sollte sich im Vorfeld aber nicht selbst das Blaue vom Himmel versprechen, besser ist es zunächst einmal ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie effizient diese Tools den verschiedenen Anforderungen gerecht werden können.

Ein großartiges Beispiel für kreative Problemlösungen und den Einsatz von KI ist die Arbeit von Ikea: dem Team seines Callcenters wurde angeboten, sich zu Küchen-Designer:innen umschulen zu lassen, während Ana Chatbot zu Billi (LLMs) wurde.

3. HR: Förderung der Neuro-Diversität

Auch wenn alles in Größer geplant, verstanden und gemessen wird, müssen wir das eigene Erforschen weiter schätzen. Einige Stimmen warnen uns bereits vor zu viel Vorhersehbarkeit: "KI gedeiht, wenn unser Bedürfnis nach Originalität gering und unsere Nachfrage nach Mittelmäßigkeit hoch ist" (Ray Nayler, The Times).

KI kann nicht die Soft Skills ersetzen, die jedes Unternehmen braucht, wie Innovation, Querdenken, komplexe Problemlösungen und zwischenmenschliche Fähigkeiten. Durch die Förderung der neurologischen Diversität ermöglichen wir mehr Kreativität, und wir erfüllen uns in unserer Menschlichkeit. Und je vielfältiger die kognitiven Voraussetzungen eines Teams sind, desto besser wird es einer Organisation gelingen, langfristig "out of the box" und jenseits standardisierter KI-Muster zu handeln.

Datenexpertise allein genügt nicht

Obwohl der Mangel an Datenexperten derzeit viel diskutiert wird, ist es auch entscheidend, sich auf die Entwicklung von kritisch denkenden Teammitgliedern zu konzentrieren - damit jeder an der raschen KI-Transformation teilhaben kann. Schließlich ist, wenn die richtigen Plattformen einmal implementiert sind, wenig tiefgehende Datenexpertise erforderlich, um KI-Lösungen in den alltäglichen Arbeitsprozessen zu etablieren und zu skalieren. Die wichtigste Fähigkeit im kommenden Jahrzehnt wird kritisches Denken und die Bereitschaft sein, in sich schnell verändernden Umgebungen Schritt zu halten.

Denn trotz oder gerade wegen KI müssen Unternehmen auch zukünftig nicht jeden Experten im Bereich Data Science oder Programmiersprache schulen. So lassen sich rund 80 bis 90 Prozent der LLM-Anwendungen ohne spezifisches Finetuning ausschließlich durch gezieltes Prompting implementieren und nutzen. Diese helfen genau dann, effektiver zu arbeiten, wenn Mitarbeitenden durch clever gewählte Prompts und intelligente Entscheidungen, die LLMs effektiv in ihren Arbeitsalltag integrieren. Dafür erforderlich ist, die seit Jahren erprobten Pfade zu verlassen und sich strukturiert an neue Lösungen heranzuwagen.