Elektronische Beschaffung

Lohnt sich eProcurement wirklich?

24.01.2018
Von 
Andreas Thonig ist Country Manager DACH bei Tradeshift und verfügt über mehr als zehn Jahre Erfahrung in den Bereichen E-Invoicing, Business Collaboration und E-Procurement. Vorher war der studierte Bankfachwirt bei SAP / Ariba als Senior Product Sales Executive sowie als Associate Director bei Lufthansa AirPlus tätig und führte als CEO die Siacon GmbH, eine Tochter der Bayern LB. Darüber hinaus ist Thonig Mitbegründer des Verbands elektronische Rechnung (VeR).
Viele Organisationen setzen heute für Beschaffung und Rechnungswesen elektronische Lösungen ein. Doch oft wissen sie erst nach der Einführung, ob sich die Investition in moderne Procure-to-Pay-Technologien wirklich rechnet. Um keine böse Überraschung zu erleben, sind sorgfältige Vorarbeiten nötig.

Procurement-Szenarien beruhen oft auf vielen einzelnen Annahmen, deren Parameter sich ständig ändern und damit künftige Ereignisse nur schwer prognostizierbar sind. Das ist derzeit die größte Herausforderung, mit der sich Unternehmen bei der Einführung von Procurement-Systemen konfrontiert sehen.

Damit die Einführung von eProcurement nicht zum Glücksspiel wird, sollte entsprechende Vorarbeit geleistet werden.
Damit die Einführung von eProcurement nicht zum Glücksspiel wird, sollte entsprechende Vorarbeit geleistet werden.
Foto: ronstik - shutterstock.com

Doch wie sollte ein Business Case aufgebaut sein, damit Führungskräfte entscheiden können, ob sich die Anschaffung eine Procure-to-Pay-Lösung auch wirklich lohnt? Die Antwort scheint banal: Möglichst einfach.
In der Praxis hat sich eine Kombination aus vier Parametern als sinnvoll erwiesen. Sie lassen sich messen, sind gut prognostizierbar und können mit Daten aus der Vergangenheit kombiniert und verglichen werden.

1. Einkaufsstrategie definieren

Um ihre Effizienz zu steigern, sollten Organisationen eine klare Einkaufsstrategie verfolgen sowie möglichst klar die Art und Weise definieren, wie sie künftig Einkäufe tätigen wollen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden intelligentere Kaufkanäle benötigt. Um den Nutzen einer Procure-to-Pay-Lösung jedoch ermitteln zu können, sollten Projektverantwortliche die Anzahl der Transaktionen pro Unterkategorie, Geschäftseinheit oder Land möglichst genau kennen. Diese Informationen zentral zu ermitteln gestaltet sich jedoch besonders für große Unternehmen meist schwierig, da Einkaufsprozesse in den einzelnen Ländern oft sehr verschieden gehandhabt werden und Systeme mit unterschiedlichen Reifegraden existieren.

Der Buying-Channel-Mix ist also nicht nur von (Produkt-)Kategorien abhängig, sondern auch vom regionalen Reifegrad des Kaufverhaltens. Sobald die Strategie und das zugehörige Lieferanten-Onboarding pro Land definiert sind, lässt sich auch der Einfluss einer möglichen Automatisierung berechnen. Das Ergebnis ergibt sich aus dem Vergleich des vorhandenen Automatisierungsgrads mit der Automatisierungs- und Effizienzrate pro Jahr, die sich durch die neue Buying-Channel-Strategie ergeben würde. Für den Business Case bedeutet das: Entscheider aus dem Procurement müssen zuerst definieren wohin die digitale Reise gehen soll und erst dann typische Kennzahlen wie Transaktionskosten und Zeitvorteile mit dem aktuellen Ist-Stand vergleichen. Dieser erste Schritt ist der wohl aufwändigste. Um einen validen Business Case zu erstellen, ist zudem eine gehörige Portion Pragmatismus gefragt.

2. Lieferantenbeziehungen analysieren

Der am häufigsten diskutierte Faktor eines Business Case sind Einsparungen durch den gebündelten Einkauf bei verifizierten Vertragslieferanten. Unternehmen sollten jedoch die Sparpotenziale hier nicht überschätzen, denn nicht alle Vertrags-Lieferanten bieten automatisch die besten Konditionen und auch bei Weitem nicht alle Rechnungen ohne Bestellung fallen per se in die Kategorie Maverick Spend.

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Einkäufer stehen vor einem Rollenwechsel

Oft ist sogar das Gegenteil der Fall: Viele Produkte werden zu günstigen Konditionen bestellt, wenn auch außerhalb vordefinierter Kanäle. Für einen Business Case sollten Einkaufsverantwortliche eine Ausgabenanalyse durchführen und für jede Unterkategorie jeweils eine Ausgangsbasis definieren. Auf dieser Grundlage ist es möglich, reduzierte Ausgaben aufgrund höherer Compliance zu messen oder zu berechnen. Auch Einsparungen lassen sich recht klar quantifizieren und bewerten – wie beispielsweise individuell verhandelte Kundenpreise, Rabatte oder Skonti.

3. Effizienz und Effektivität von Prozessen bestimmen

Die Grundfragen nach Effizienz und Effektivität von Einkaufsprozessen sind im Grunde immer gleich: Welches Vorgehen hat welche Einsparungen bewirkt und welche Prozesse haben die täglichen Abläufe um Faktor X beschleunigt? Um jedoch den tatsächlichen Wert einer Procure-to-Pay-Lösung für den strategischen Einkauf zu ermitteln, sollte auch eine Prozessanalyse nebst Benchmarking durchgeführt werden. Der Grund: Führungskräfte vertreten gern die Ansicht, dass alte Strukturen durch Kombination mit neuen Technologien automatisch zu einem verbesserten Geschäftsergebnis führen (müssen). Das ist jedoch ein Irrtum. Viele Business Cases leiden aufgrund dieser Annahmen an geringer Aussagekraft oder wecken überzogene Erwartungen.

4. Qualität und Genauigkeit von Rechnungen ermitteln

Der letzte und häufig am wenigsten beachtete Faktor ist der Einfluss der Bestellqualität und Genauigkeit innerhalb des Rechnungswesens. Die zur Entscheidung für eine Procure-to-Pay-Lösung notwendigen Kennzahlen ergeben sich aus einer Analyse von Rechnungsausnahmen, Rückfragen und gesperrten oder vorerfassten Rechnungen.

Durch die Kategorisierung von Rechnungen in typische qualitätsbezogene Cluster, wie zum Beispiel falsche Preise, falsche Artikelnummern oder fehlende Informationen, lassen sich die konkreten Auswirkungen einer erhöhten Bestellgenauigkeit beobachten. Anschließend können Auswirkungen auf die Rechnungsbearbeitungszeit von Rechnungen und das Bearbeitungsvolumen pro Vollzeitäquivalent (FTE) berechnet werden.

Fazit: Analyse und Präsentation sind erfolgsentscheidend

Ein sinnvoller Business Case für die Anschaffung eines eProcurement-Systems basiert im Wesentlichen auf Vertragscompliance, gesteigerter Transparenz, Effizienz, Effektivität sowie den Auswirkungen einer neuen Procure-to-Pay-Lösung auf das Rechnungswesen. Der Teufel steckt jedoch im Detail: Um eine Entscheidungsgrundlage zu schaffen, müssen Annahmen möglichst auf ein vertretbares Minimum reduziert werden und auch für Stakeholder außerhalb des Procurement auf verständlich sein.

In der Praxis ist dies mitunter eine der größten Herausforderungen. Für einen Business Case sollten Projektverantwortliche die Kennzahlen also sehr sorgfältig berechnen, Verbesserungspotenziale offen benennen – und auch etwaige Nachteile nicht verschweigen. Die Nachbereitung und Präsentation der Ergebnisse sollte ebenfalls mit Sorgfalt geschehen. Wählt man den richtigen Ansatz, werden Projekt-Owner überrascht sein, wie bereitwillig CEOs die vorgestellte eProcurement-Initiative unterstützen. Auch die Akzeptanz der Mitarbeiter im Bereich Einkauf wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit positiv entwickeln.

Befürworter und Entscheider im eProcurement sollten eines immer im Hinterkopf behalten: Kostenreduktion wird künftig nicht mehr der alleinige Treiber für die Anschaffung neuer IT-Lösungen sein. In Zeiten dynamischer Marktentwicklungen ist es viel wichtiger, dass damit konkrete Mehrwerte für das gesamte Unternehmen entstehen. Einer davon ist die strategische Zusammenarbeit mit Lieferanten-Netzwerken. Nur damit wird auch der wirtschaftliche Erfolg von Organisationen auf Dauer zu sichern sein – trägt die Procurement-Abteilung nicht dazu bei, wird sie in naher Zukunft überflüssig.