Höchste Eisenbahn für's Wagen-Management

21.11.2005
Von 
Martin Bayer ist Chefredakteur von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO. Spezialgebiet Business-Software: Business Intelligence, Big Data, CRM, ECM und ERP.

Die Unternehmensleitung von SBB Cargo betraute den Bereich Informatik und Projekt-Management damit, die Ergebnisse des Prozess-Reengineerings umzusetzen. Um die neuen Prozesse im IT-System abzubilden, entwickelte SBB Cargo ein Konzept für das Neue Wagen-Management. Den Zuschlag für die rund 9,5 Millionen Euro teure Softwareentwicklung erhielten Lufthansa Systems und Zühlke Engineering.

Eine Standardsoftware für die Anforderungen der SBB Cargo gab es auf dem Markt nicht, berichtet Rühl rückblickend. NWM, als Web-Anwendung auf einer J2EE-Plattform, musste sich in die Host-basierende Systemlandschaft einfügen, in der alle Prozesse des Fracht-Dienstleisters abgebildet sind. Im Zentrum steht das Cargo Informationssystem (CIS), in dem alle Transporte des Unternehmens abgebildet werden. Dies anzupacken, stand nicht zur Disposition. "In einer Phase, in der man in der Schweiz konsolidiert und in Europa expandiert, sollte man sein Zentralsystem möglichst in Ruhe lassen", meint der IT-Leiter.

Pläne, die LWV im Zuge der NWM-Entwicklung auf eine modernere Basis zu stellen, wurden wieder fallen gelassen. Pirker bezeichnet dieses Modul zwar als kritische Komponente, weil letztendlich damit die Bestellungen, die im NWM zusammenlaufen, durch konkrete Verschiebeaufträge auf die Schiene umgesetzt werden. Aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten wäre eine Ablösung von LWV aber nicht zu rechtfertigen gewesen. Das Programm laufe seit 30 Jahren stabil: "Es gibt kaum ein preiswerteres Stück Software."

Die Auftragseingänge werden zweimal am Tag von NWM an die LWV übergeben. Nach jedem Lauf der LWV werden die daraus resultierenden Transportaufträge sofort Online an das System CIS und das lokale Wagenbewirtschaftungssystem (Modul von NWM) der Bahnhöfe gesandt.

NWM wurde im Mai dieses Jahres in einem Rutsch in der Fläche ausgerollt, erzählt Rühl. Eine Alternative zu diesem Big Bang habe es nicht gegeben: "Entweder machen alle Wagen mit oder keiner." Im Vorfeld mussten die SBB-Cargo-Mitarbeiter alle Wagen inventarisieren, um eine konsistente Datenbasis für das neue System bereitzustellen.

Neben der technischen Umstellung galt es, die neuen Prozesse in den Köpfen aller Beteiligten zu verankern. Pirker zufolge war dies während der Einführungsphase die anspruchsvollste Aufgabe. NWM habe Prozesse und Arbeitsbeziehungen neu geordnet und sortiert, die seit Jahrzehnten Bestand hatten. Aufgrund der engen Verzahnung zwischen IT und Business war der Bereich Informatik und Projekt-Management auch für die Umsetzung der neuen Prozesse verantwortlich. Das Vorhaben endete nicht mit der Implementierung der Software, berichtet Pirker: "Ich überwache das Produkt NWM heute noch."

Die Kunden buchen die Wagen heute online oder per Telefon beziehungsweise Fax direkt im KSC. Dort fließen die Aufträge in das NWM-System ein. Sind die gewünschten Wagentypen verfügbar, erhält der Kunde sofort eine Lieferzusage. Ist das nicht der Fall, können Ersatztypen angegeben werden, oder der Kunde wird informiert, wenn in den folgenden Tagen der georderte Wagentyp doch noch frei wird. Diese Auskünfte sind nun möglich, weil die Rangiermitarbeiter den Status der Wagen erfassen: leer, zugestellt, beladen oder abholbereit. Diese Informationen werden durch NWM an CIS für die Rechnungsstellung gemeldet.

Auf Kundenveranstaltungen haben die SBB-Cargo-Verantwortlichen die Vorteile für beide Seiten dargestellt und Feedback eingeholt. Dabei habe es Widerspruch und Reklamationen gegeben, berichtet der IT-Vorstand. Der Anteil der Online-Bestellungen ist jedoch schon stark gestiegen.

Projektsteckbrief: SBB Cargo

  • Projekt: Neugestaltung Wagen-Management (NWM) für rund 12000 Güterwagen (9,9 Milliarden Tonnenkilometer pro Jahr);

  • Laufzeit: März 2001 (Feinkonzept bis September 2003) bis Mai 2005;

  • Herausforderung: Einbindung einer Individualentwicklung in ein Host-basierendes Zentralsystem, Change-Management, um Mitarbeiter und Kunden für die neuen Prozesse zu gewinnen;

  • Projektteam: bis zu 50 Mitarbeiter, je zur Hälfte intern und extern;

  • Kosten: Entwicklungskosten 9,5 Millionen Euro, Gesamtkosten 13 Millionen Euro;

  • Pläne: Modernisierung Leerwagenverteilung (LWV) und Cargo Informationssystem (CIS), Integration von RFID-Techniken.

Mitarbeiter mit Betreuung und Schulungen dazu zu bewegen, neue Prozesse anzunehmen, sei anspruchsvoll, erzählt Rühl. Die Rangiermitarbeiter müssen sich heute um ganz andere Dinge kümmern. Es geht nicht mehr darum, Wagen vorzuhalten, sondern im Rahmen des zentralen Managements für einen optimalen Umlauf zu sorgen: "Das ist eine 180-Grad-Drehung im Kopf."