Chemie

Chemie-, Pharma- und Food-Unternehmen suchen Mehrfachqualifizierte

18.06.2002
Von Helga Ballauf

International agierende Chemie- und Pharmakonzerne müssen sich schneller auf die Regeln des E-Commerce einstellen als beispielsweise mittelständische Farben- und Lackehersteller, die für einen regionalen Markt produzieren. Befragungen der Unternehmensberatung Arthur D. Little und der Marktforscher der Meta Group zeigen: Im Schnitt nutzt nur jedes dritte Unternehmen der Prozessindustrie SCM-Software. Chemie- und Food-Multis haben bei der Einführung von Supply-Chain-Management-Systemen die Nase vorn, Zement- und Glasfabriken bilden die Schlusslichter dieser Entwicklung.

Viele Entscheider in der Prozessindustrie sehen die Wettbewerbsvorteile der IT-Vernetzung nicht und glauben sich durch die derzeitige Flaute im E-Business bestätigt, kritisiert Unternehmensberater Uhrig: "E-Commerce durchläuft zurzeit den darwinistischen Zyklus der Marktbereinigung. Unabhängig davon wird SCM wichtig." Die neuen Anforderungen kommen von außen - etwa in Form ökologischer Vorschriften - oder ergeben sich beim Verbessern interner Produktionsabläufe.

Ein Beispiel: Coca-Cola oder Magnum-Eis werden in vielen Ländern erzeugt und vertrieben und schmecken überall anders. Das Kunststück besteht darin, Einkauf und Herstellung weitgehend zu standardisieren und gleichzeitig Vielfalt zuzulassen. Das erfordert komplexe Planungsverfahren mit speziellen IT-Werkzeugen. Der Fachverband Dechema (Gesellschaft für Chemische Technik und Biotechnologie) organisiert einen Austausch der Industrieanwender zu IT-Fragen. Zur Debatte stehen Erfahrungen mit "marktgängiger Standardsoftware, Datenintegrationskonzepten, Schnittstellendefinitionen sowie Hard- und Softwarestrukturen für integrierte Informationsverarbeitung", so der Dortmunder Hochschullehrer für Chemietechnik, Henner Schmidt-Traub. Er will nun den "Dialog zwischen Softwarespezialisten und Planungsingenieuren" intensivieren.

Für Vernetzung wirbt auch das Fachmagazin der Chemie- und Pharmatechniker "Process". Die Zeitschrift macht auf die "lukrativen Einsparpotenziale" aufmerksam, die in industriespezifisch angepassten SCM-Systemen stecken, und empfiehlt den Betrieben, die Funktion eines Supply-Chain-Koordinators zu schaffen. Ein Job, der Berufserfahrung erfordert. Stiefkind SCM Arbeitsplätze für Young Professionals bieten die Unternehmen der Prozessindustrie selbst sowie spezialisierte Softwarehersteller und Unternehmensberatungen. Die SAP AG hat sich inzwischen auch auf diesem Sektor als Marktführer durchgesetzt. Die Walldorfer Softwareschmiede bietet jungen Informatikern und Wirtschaftsinformatikern, Naturwissenschaftlern und Wirtschaftsingenieuren ein neunmonatiges Traineeprogramm zur Spezialisierung auf Industrie-Software-Engineering. So stark die Position von SAP auch im Geschäftsbereich Prozessindustrie ist - ohne Eigenentwicklungen oder Produkte von Drittanbietern kommt auf diesem Feld kein Betrieb aus.

Die Fraunhofer-Gesellschaft veröffentlichte 1999 erstmals eine Marktstudie über SCM-Anbieter, aus der hervorgeht, wer Projekterfahrung in der Prozessindustrie aufweist. Eine aktualisierte Ausgabe wird in diesem Sommer erscheinen. Umfang und Tiefe der IT-Integration in der Prozessindustrie unterscheiden sich noch stark. Begehrte Wirtschaftsinformatiker Daher bleiben auch die Qualifikationsanforderungen an Bewerber unscharf: Genügt es, wenn Entwickler über Kostenbewusstsein verfügen, oder müssen sie komplette Geschäftsprozesse verstehen? Brauchen Verfahrenstechniker lediglich IT-Anwenderkenntnisse, oder müssen sie Prozessinformatik studiert haben?

Unumstritten ist nur eins: die Bedeutung der Branchenkenntnis. Das gilt für die Beschäftigten in der Chemie-, Pharma- oder Nahrungsmittelindustrie ebenso wie für externe Berater und Entwickler. Wer Firmen bei der Einführung von PPS-, ERP- oder SCM-Systemen unterstützt, muss die Produktionsparameter des jeweiligen Branchensegments perfekt beherrschen. Unternehmensberater Uhrig gibt ein Beispiel aus der Halbleiterfertigung: Nur wer die Arbeitsbedingungen im Reinstraum in allen Einzelheiten kenne, könne passende IT-Lösungen entwickeln: "Additives Wissen genügt nicht. Integratives Denken ist erforderlich." Dazu gehöre als drittes Kompetenzfeld das "Wertschöpfungsdenken".