Stress-Abbau

Work-Life Balance ist nicht die Lösung

14.02.2024
Von 
Oliver Erbe ist zertifizierter Business Coach und Associate Partner bei Leadership Choices in Wiesbaden. Mit über 20 Jahren Management-Erfahrung in verschiedenen internationalen Konzernen unterstützt er heute Führungskräfte in Fragen der Selbst- und Teamführung.
Mitarbeiter müssen lernen, die beiden Lebensbereiche "Work" und "Life" nicht als Gegensätze zu sehen. Ziel sollte sein, diese Elemente zu balancieren und optimal damit haushalten. Wie das geht, zeigt dieser Beitrag.
Aufgrund ihrer jahrelangen Erfahrung beobachten Coaches immer wieder, dass Mitarbeiter unnötigerweise ihr Leben in einen dunklen Teil "Work" und einen hellen Teil "Life" einteilen, was auf Dauer nicht zufrieden machen kann.
Aufgrund ihrer jahrelangen Erfahrung beobachten Coaches immer wieder, dass Mitarbeiter unnötigerweise ihr Leben in einen dunklen Teil "Work" und einen hellen Teil "Life" einteilen, was auf Dauer nicht zufrieden machen kann.
Foto: Black Salmon - shutterstock.com

Man hört und liest viel über die Themen wie "Selbstführung", "Mental Health", "Resilienz", "Inner World". Wir sind auf der Suche nach Hilfestellungen, um mit den heutigen Anforderungen besser umgehen zu können. Eine aktuelle Studie der Techniker Krankenkasse zeigt auf, dass ein Drittel der Deutschen sich manchmal gestresst fühlen und ein Viertel haben dieses Gefühl sogar häufig.

Die AOK zeigt in ihrer Gesundheitsstudie von 2023, dass Stress als Ursache psychischer Erkrankungen von Jahr zu Jahr stark steigt. Um nicht selbst Teil dieser Statistiken zu werden (oder wieder rauszukommen) sowie gesund und ausgeglichen zu sein, sollte man also etwas tun - die mentale Gesundheit muss priorisiert werden.

Schwarz-Weiß oder Work-Life?

Als Coach für Führungskräfte habe ich in den letzten Jahren unterschiedlichste Menschen in verschiedensten Positionen und Verantwortungsbereichen kennengelernt. Für nahezu alle ist Stress ein Thema, dass sie besser managen wollen. Sie fühlen sich oftmals erschöpft, unkonzentriert, reizbar, energielos und unzufrieden. Meistens haben die Betroffenen auch schon eine Lösung, die sie umsetzen wollen: "Ich muss meine Work-Life-Balance verbessern."

In den vielen Gesprächen gewann ich zunehmend den Eindruck, dass "Work" als die dunkle Seite der Macht und "Life" als das "Paradies" verstanden wird. Eine Haltung, die in der Regel nicht der Realität entspricht und für das Stress-Management nicht hilfreich ist. Nicht selten wird vom Privatleben erzählt, von dem Haus, das gerade gebaut wird, den schlaflosen Nächten als junge Mutter oder Vater, dem Krankheitsfall in der Familie, Probleme in der Partnerschaft u.v.m.

Work ist nicht die dunkle Seite des Lebens

Auf der "anderen Seite" arbeitet man für eine anerkannte Marke, die viele begeistert. Man hat gerade eine komplizierte Aufgabenstellung lösen und die Software an den Kunden verkaufen können. Man ist vielleicht in ein neues Team versetzt worden und konnte sich gut einbringen und integrieren.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob wirklich "Life" ausschließlich Erholung und Energie bringt und "Work" ausschließlich unsere Ressourcen verbraucht. Vielen meiner Klienten hat es geholfen, diese Haltung zu reflektieren und zu klären, was wirklich in der "Balance" sein muss beziehungsweise in einem gesunden Verhältnis.

Welche Balance hilft wirklich?

Unsere Widerstandsfähigkeit gegenüber Stress ist sehr individuell. Sie hängt von Persönlichkeitseigenschaften (Traits), von erlernten Verhaltensweisen mit Stress umzugehen (Habits) und von unserer aktuellen mentalen Verfassung (State) ab.

Unsere Persönlichkeit ist uns mitgegeben und letztendlich eingeschränkt veränderbar. Aber wir haben viele Möglichkeiten, Verhaltensweisen zu erlernen und Verantwortung für unsere eigene Verfassung zu übernehmen.

So lernt man seinen Energiehaushalt kennen

Ich nutze im Coaching gerne das FiRE-Modell (Factors improving Resilience Effectiveness®), um meine Klienten dabei zu unterstützen, ihre Krisenstabilität zu stärken. Basierend auf einer Vielzahl unterschiedlicher Studien, schlägt dieses Modell verschiedene Handlungsfelder vor, die Einfluss auf unsere Widerstandsfähigkeit haben.

Ein Handlungsfeld ist beispielsweise das persönliche Energiemanagement. Wie "haushalte" ich meine Energie? Wie genau weiß ich, was meine "Batterie" belastet und was sie füllt, und wie berücksichtige ich dies in meinem Alltag? Beim Energiemanagement eine Balance zu finden ist wesentlich, da man sonst dauerhaft auf "Reserve" läuft und in dieser Verfassung keinen Ausweg findet.

Energieverbraucher reduzieren

Es gibt viele Auslöser, die uns Energie rauben, wie zum Beispiel Informationsüberflutung, Sinn-Vakuum der Tätigkeiten, Arbeitsverdichtung, fehlende soziale Beziehungen und ständige Erreichbarkeit. In meiner Coaching-Praxis höre ich oft folgende Aussagen:

  • "Meine To-Do-Liste ist am Abend voller als am Morgen."

  • "Ich bin sehr fremdgesteuert und komme zu nichts."

  • "Einige Prozesse, die ich einhalten muss, sind sinnlos."

Natürlich ist es wichtig genug "Life"-Zeit zu haben, um Ausgleich für die Arbeit zu schaffen, anderes zu erleben, sich zu erholen und Energie zu tanken. Aber würde das bei diesen drei Punkten wirklich helfen? Was meine Coachees sich nach unseren Gesprächen oftmals vornehmen, ist:

Eigene Wirksamkeit bewusst machen

Wenn ich morgens mit einer Liste von To-Dos den Arbeitstag starte und abends davon kaum etwas geschafft habe, fühle ich mich unwirksam und dadurch unzufrieden, meine Batterie wird belastet. Das ist auch der Grund, warum viele in ihrer Freizeit im Garten arbeiten oder handwerklich aktiv sind. Man sieht, was man geschafft hat, und kann es anfassen.

Aber woran liegt es, dass die Liste abends fast unverändert ist? Viele Themen kommen im Laufe des Arbeitstages ungeplant hinzu, haben hohe Priorität und stören den gedachten Ablauf - man muss den ursprünglichen Tagesplan verlassen. Wenn diese Themen objektiv wichtig sind, so dass man sie weder negieren, terminieren oder delegieren kann (dies ist allerdings sehr kritisch zu reflektieren), dann hilft häufig:

  • In die To-Do-Liste die Position "Flexibilität für Unplanbares" aufnehmen. Diese Themen gehören zur eigentlichen Aufgabe und sind keine Störfaktoren.

  • Am Ende des Arbeitstages die Bearbeitung des Unplanbaren als "erledigt" wahrnehmen. Es hat den wesentlichen Effekt Wirksamkeit und Zufriedenheit zu spüren. Die unplanbaren Themen werden nicht mehr als Störungen verstanden, sondern gehören zu den erfüllten Aufgaben. Das raubt weniger Energie.

Im "Driver- Seat" bleiben

Nun sind nicht alle unplanbaren Themen so wichtig, dass man alles stehen und liegen lassen muss und sie zur Tagesaufgabe gehören. Um am Ende einer Arbeitswoche nicht das energieraubende Gefühl zu haben, fremdgesteuert durch die Projekte "navigiert" und seinen Fokus verloren zu haben, nehmen sich meine Kunden nach den Gesprächen oftmals folgendes vor:

  • Am Ende der Arbeitswoche kurz reflektieren, welche drei bis fünf Fokusthemen nächste Woche wichtig sind. Mit dieser Klarheit steigt die Wahrscheinlichkeit "am Ball zu bleiben".

  • Kalenderzeiten blocken, in denen diese Themen Platz finden. Andernfalls füllt sich der Kalender mit anderen Meetings und Aufgaben. Bleiben Sie dabei konsequent und priorisieren Sie Ihre Fokusthemen.

  • Unterbrechungen in diesen Zeiten reduzieren und zum Beispiel Handy ausstellen, einen Meeting-Raum aufsuchen, elektronische Benachrichtigungs-Funktionen abstellen. Unterbrechungen sind ein wesentlicher Faktor, durch den man Fokus verliert. Es dauert bis zu 20 Minuten, um nach einer Unterbrechung wieder im selben Konzentrationslevel zu sein. Reservieren Sie täglich feste Zeiten, um Messenger, E-Mails, Telefonate etc. zu bearbeiten.

Sinn finden

Oft sprechen wir im Coaching über Aufgaben und Prozesse, die uns ärgern, weil der Sinn und Zweck dahinter unklar ist. Sinnhaftigkeit ist ein wichtiger Faktor für unsere Zufriedenheit und damit unsere Stabilität. Aber was mache ich mit der Excel-Tabelle, die ich regelmäßig aktualisieren muss, ohne zu wissen warum. Was man sich in diesen Fällen fragen kann, ist:

  • Bin ich unbequem genug und ergreife Initiative, um diesen Prozess zu optimieren? Oder ertappe ich mich in einer Beobachter-Rolle ohne Verbesserungen anzustoßen? Wie würde der bessere Prozess aussehen und wen muss ich überzeugen? Was nehme ich mir konkret vor, um eine Veränderung anzustoßen?

  • Habe ich über diesen Prozess keine Kontrolle und kann auch keinen Einfluss ausüben? In diesen Fällen stellt sich die Frage, wieviel Zeit und Energie ich in den Ärger über diese Situation stecke? Stehen diese Zeit und Energie in vernünftiger Relation zur Bedeutung des Themas? Kann ich mich selbst regulieren und meinen Ärger und Frust bewusst reduzieren? Kann ich mich aus Runden raushalten, die sich schon wieder darüber auslassen?

Energie aufladen

Neben dem bewussten Umgang mit den Themen, die uns während der Arbeit Energie rauben, ist es ebenso wichtig, regelmäßig "aufzutanken. Was wissen Sie über sich, was Ihnen guttut? Was muss beispielsweise täglich passieren, damit Sie ausgeglichen sind? Wenn Ihnen das bekannt ist, sollten dies nichtverhandelbare Aktivitäten sein und absolute Priorität haben. Was ich von meinen Kunden als wirksame nichtverhandelbare Dinge kennengelernt habe sind:

  • den Tag mit einem Ritual starten und nicht gleich die ersten E-Mails lesen. Das kann die Zeit für ein Frühstück sein, Sport oder generell Bewegung, Meditation u.v.m.

  • Während der Arbeit kurze Pausen für eine Atemübung machen. Durch bewusste ruhige Atmung nehmen wir Unruhe und Hektik raus. Wir fahren quasi die Festplatte kurz runter.

  • Zeit für Licht, Luft, Bewegung und passende Ernährung. Nutzen Sie Pausen, um kurz um den Block zu gehen, nicht am Arbeitsplatz Mittag zu essen. Registrieren Sie, wie produktiv Sie danach sind und wie sinnvoll diese Zeit ist.

  • Machen Sie sich bewusst, welche Tätigkeiten Sie in den Flow bringen und wann Sie voller Engagement und Energie sind. Können Sie davon möglichst viel machen oder auf Tageszeiten legen, wo es Ihrem Energiemanagement hilft?

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