Vom "Local Hero" zum "Global Player"

Wachstum kann auch hinderlich sein

25.07.2012
Von  und
Bettina Dobe war bis Dezember 2014 Autorin für cio.de.


Renate Oettinger war Diplom-Kauffrau Dr. rer. pol. und arbeitete als freiberufliche Autorin, Lektorin und Textchefin in München. Ihre Fachbereiche waren Wirtschaft, Recht und IT. Zu ihren Kunden zählten neben den IDG-Redaktionen CIO, Computerwoche, TecChannel und ChannelPartner auch Siemens, Daimler und HypoVereinsbank sowie die Verlage Campus, Springer und Wolters Kluwer. Am 29. Januar 2021 ist Renate Oettinger verstorben.

(Führungs-)Kultur hinkt der Entwicklung hinterher

Diese Veränderungsprozesse vollzogen sich bei den meisten Mittelständlern nicht aufgrund einer definierten Strategie. Sie reagierten vielmehr - was eine typische Stärke des Mittelstands ist - ganz pragmatisch auf die neuen Markterfordernisse. Was notwendig war oder erschien, wurde getan. Mit der Konsequenz, dass die meisten Mittelständler heute im internationalen Wettbewerb gut aufgestellt sind. Auch die technologischen Herausforderungen haben sie gemeistert. Sie nutzten sozusagen die Chancen, die sich aus der Globalisierung und dem technischen Fortschritt ergaben, und entwickelten sich vielfach zu "Hidden Champions in der Provinz", die in ihrem Marktsegment oft sogar zu den Weltmarktführern zählen. Was jedoch vielfach nicht mit der Entwicklung Schritt hielt, war die Organisationsstruktur und (Führungs-)Kultur in den Unternehmen.

Das sei an einigen Beispielen illustriert. Der eingangs erwähnte Maschinenbauer stellte in den zurückliegenden Jahren immer wieder fest: Es gelingt uns zwar, hoch qualifizierte Nachwuchskräfte, die nicht aus Baden-Württemberg kommen, als Mitarbeiter zu gewinnen. Doch nach zwei, drei Jahren kehren diese unserem Unternehmen oft wieder den Rücken. Denn sie schlagen in unserem Betrieb keine Wurzeln. Und ihre Familien? Sie werden in der "schwäbischen Provinz" nicht heimisch. Denn überspitzt formuliert ist und bleibt in unserem Betrieb und im "Ländle" jeder ein Exot, zu dessen Leibspeisen nicht "Spätzle mit Linsen" zählen - ganz gleich, ob er aus Hamburg oder Berlin, Spanien oder Tschechien kommt.

Jede "Stärke" hat zwei Seiten

Hinzu kommen weitere Faktoren, die jungen Leuten oft die Arbeit bei Mittelständlern verleiden. Anfangs sind sie meist davon begeistert, dass bei Mittelständlern in der Regel hierarchiefreier kommuniziert und vieles schneller entschieden wird als in Konzernen. Doch nach einiger Zeit nehmen sie dieses Plus vielfach eher als Minus wahr. Zum Beispiel, wenn sie registrieren: Vieles was gestern noch galt, gilt morgen - wenn "der Chef" es sich anders überlegt - nicht mehr. Und formal wird mir zwar als Führungskraft oder Projektleiter viel Verantwortung übertragen. Doch faktisch sind meine Entscheidungsbefugnisse begrenzt. Immer wieder "regieren" die Firmeninhaber und "altgedienten Fürsten" in meinen Bereich hinein und geben zum Beispiel meinen Mitarbeitern irgendwelche Anweisungen. Mit der Konsequenz, dass meine Autorität zunehmend schrumpft, weil meine Mitarbeiter insgeheim denken "Letztendlich hat der ‚Mayer’ doch nichts zu sagen."

Registrieren dies die Nachwuchskräfte, dann sinkt ihre Identifikation mit dem Unternehmen. Die Folge: Sie sind immer weniger bereit, sich für dieses so stark zu engagieren, wie dies speziell vom Führungspersonal bei Mittelständlern - aufgrund des Arbeitsethos der Top-Entscheider - oft unausgesprochen erwartet wird: rund um die Uhr. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Nachwuchskräfte zugleich registrieren: Unter meiner 60- oder gar 70-Stunden-Woche leidet meine Lebensqualität. Ich bin permanent "kaputt" und weil ich so wenig Freizeit habe, gelingt es mir auch nicht, mich vor Ort zu integrieren.

Die Folge: Die Nachwuchskräfte denken irgendwann - eigeninitiativ oder angeregt durch ihren Lebenspartner - über einen Arbeitgeberwechsel nach. Oder sie "unterwerfen" sich der herrschenden Unternehmenskultur, weil sie merken: Dann lebe ich stressfreier. Das heißt, von ihnen gehen keine Veränderungsimpulse mehr aus.