Virtual und Augmented Reality in Handel und Industrie

VR und AR - die neuen Realitäten

23.07.2018
Von 
Uwe Ritschel schreibt als Experte zu den Herausforderungen des  Einzelhandels. In seiner nunmehr fünfzigjährigen Tätigkeit hat er alle Facetten der Branche kennengelernt. Sein Weg führte vom Einkäufer und Abteilungsleiter bis ins Management eines großen Handelsunternehmens. Ritschel beschäftigt sich mit den Chancen und Risiken durch die Digitalisierung des Handels. Damit ist er heute ein gefragter Experte für Händlergemeinschaften und City-Marketing.

Die Zukunft gehört der AR

Die Augmented Reality, oder kurz AR genannt, ist noch nicht so präsent wie die VR-Technik, aber es wird ihr eine noch größere Zukunft vorausgesagt. Da Handys und Tablets bereits vorhanden sind, braucht es in vielen Fällen keine neue Hardware. Die entsprechende App genügt, um sich in genau dieser Umgebung mit zusätzlichen Informationen versorgen zu lassen. Das kann beispielsweise ein Supermarkt sein, der auf seine Sonderangebote aufmerksam macht. In einem Technik-Markt ist es sicherlich hilfreich, wenn ausführliche Produktinformationen auf dem Display erscheinen oder in einer Tourismusregion, wenn der Weg zu den Sehenswürdigkeiten eingespielt wird.

Ein Beispiel aus der Modebranche ist das Label Zara: Als im April 2018 eine neue Kollektion vorgestellt wurde, konnten die Kunden in ausgewählten Geschäften mit der Zara-App die neuesten Kreationen auf zwei Models projizieren. So konnte man die neue Kollektion bewundern, ohne selbst in die Umkleidekabine zu gehen. Mit einem Klick auf "Look kaufen" war das gute Stück auch schon im Einkaufskorb.

Die Make-up-Genius-App von Loreal macht das Smartphone zum Spiegel und lässt die Nutzer Farben und Make-up ausprobieren ohne einen Lippenstift oder Cremetiegel in die Hand zu nehmen. Gap geht sogar noch einen Schritt weiter. Mit der App "Dressing Room" kann die Kundin sich einen virtuellen Avatar erstellen, den sie dann als Anziehpuppe verwenden kann. Das Ganze war aber wohl etwas aufwendig und wird nun nicht weiter verfolgt.

Der italienische Modehändler Yoox hat sich mit SnapChat zusammen getan. Nun kann man statt gemalten Katzenohren auch die neuesten modischen Accessoires per Live-Fashion-Shoot festhalten, versenden und bei Gefallen auch kaufen.

Mit der AR-App Place lassen sich Einrichtungsgegenstände von IKEA in der eigenen Wohnung platzieren.
Mit der AR-App Place lassen sich Einrichtungsgegenstände von IKEA in der eigenen Wohnung platzieren.
Foto: IKEA

Was Ikea schon vor einiger Zeit begonnen hatte, bieten jetzt auch Otto bei yourhome an. Ausgewählte Einrichtungsgegenstände lassen sich mit der entsprechenden App maßstabsgetreu in der eigenen Wohnung platzieren. Genauso ist es möglich, Möbelstoffe, Tapeten, Fußböden und sogar Terrassenfliesen in vielen Variationen darzustellen. Das alles ohne großen technischen Aufwand. Damit ist Augmented Reality für die Verschmelzung von online und offline geradezu prädestiniert. Noch ein Beispiel gefällig? Mr. Spex hat sich das zu eigen gemacht und verkauft so erfolgreich seine Brillen.

Große Potenziale in Industrie und Entwicklung

Viel interessanter sind aber möglicherweise die Anwendungsbereiche in der Industrie. BMW ist mit "Augmented Trial Lens" von SnapChat bereits vorgeprescht. Augmented Trial Lens ermöglicht die Platzierung von virtuellen Objekten in die reale Umgebung. So wurde der neue SUV X2 bereits vorgestellt, ehe er in den Autohäusern physisch vorhanden war. Ziel war es, die jungen, technikaffinen Käufergruppen zu erreichen. Mercedes setzt bei der Einführung der neuen A-Klasse auf die dreidimensionale App Mercedes cAR. Damit kann der interessierte Kunde sein Wunschfahrzeug ganz individuell auf seinem Handy oder Tablet konfigurieren, von außen und innen betrachten und in die gewünschte Umgebung integrieren. So steht das neue Auto vor dem Haus, bevor es gekauft wurde.

Mercedes setzt bei der Einführung der neuen A-Klasse auf die dreidimensionale App Mercedes cAR.
Mercedes setzt bei der Einführung der neuen A-Klasse auf die dreidimensionale App Mercedes cAR.
Foto: Daimler AG

Mercedes arbeitet auch mit AR-Technologie, um seine Navigationssysteme zu verbessern. Straßennamen und Hausnummern lassen sich direkt einblenden, aber auch alles, was man unter POI versteht. Ein Point of Interest kann zum Beispiel eine Tankstelle sein, ein Bankautomat, ein Krankenhaus oder die Autowerkstatt. Das Ganze ließe sich auch um touristische Ziele oder Besondere Sehenswürdigkeiten erweitern. Dem Einfallsreichtum, aber auch den technischen Möglichkeiten, sind hier keine Grenzen gesetzt. In Kalifornien gehen die Ingenieure in einer Studie von Mercedes noch einen Schritt weiter. Mit einer Datenbrille wird der Weg nach dem Aussteigen bis zum endgültigen Ziel, mittels AR-Technologie, vorgezeichnet.

AR in der Praxis: Head-Up-Display in einem Mercedes
AR in der Praxis: Head-Up-Display in einem Mercedes
Foto: Mercedes

Volkswagen setzt Datenbrillen versuchsweise in der Logistik ein. Die eingebaute Kamera dient dabei als Barcode-Scanner. Es gibt keinen Gang zum Drucker und auch keinen Papierauftrag mehr. Zuerst werden die Nummern der angeforderten Teile auf der Datenbrille eingeblendet und bei der Entnahme mit dem Barcode abgeglichen. Hat der Mitarbeiter ins falsche Fach gegriffen, leuchtet ein rotes Licht auf. So werden Fehler vermieden und der Mitarbeiter hat beide Hände frei und seinen Job noch schneller zu erledigen.

Ganz handfeste Vorteile bietet die neue Technologie aber in der Werkstatt. Bosch hat eine App entwickelt, die dem Mechatroniker verdeckte Bauteile zeigt, die sonst erst nach dem Ausbau vorgelagerter Technik erkennbar wird. Auch verborgene Verkabelungen können damit erkannt werden. Sogar die Fernwartung von technischen Geräten scheint keine Utopie mehr zu sein. Während die Maschine mit einem Tablet abgefilmt wird, sendet die App Infos über die Teile, welche auszutauschen sind. Anschließend wird der Reparaturvorgang Schritt für Schritt auf einem Video dargestellt.

Die AR-App Bosch Flexinspect zeigt Mechanikern die Defekte direkt am Fahrzeug an.
Die AR-App Bosch Flexinspect zeigt Mechanikern die Defekte direkt am Fahrzeug an.
Foto: Bosch

Wie aktuell die AR-Technologie ist, mag man auch daran erkennen, dass Facebook seinen Messenger ganz neu designt und damit einhergehend werden die werblichen Portale mit einem AR-Feature für Marken optimiert. Nike ist eine der ersten Firmen, welche das neue Try-and-buy-Tool ausprobieren darf. Zurzeit befindet sich das Feature noch in einer geschlossenen Beta-Phase. Man kann aber davon ausgehen, dass es mit diesem neue AR Tool möglich ist, über die Camera Effects Platform neue Artikel vorzustellen und zu teilen.

Die virtuelle Realität und auch die erweiterte Realität haben uns die Zukunft wieder etwas näher gebracht. Die Digitalisierung schreitet voran und alle Experten behaupten, das sei erst der Anfang. Wir stehen vor großen Veränderungen, aber Charles Darwin musste damals schon feststellen: "Es ist nicht die stärkste Spezies, die überlebt, auch nicht die intelligenteste, sondern eher diejenige, die am ehesten bereit ist, sich zu verändern." Wer heute bereits damit anfängt, ist den Anderen schon wieder einen Schritt voraus.