Sie sind Autor des Buches "Prozessgesteuerte Anwendungen entwickeln und ausführen mit BPMN". Welche Zielsetzung verfolgen Sie mit dem Buch?
Volker Stiehl: Geschäftsprozesse sind ja das Nervensystem jedes Unternehmens. Firmen, die sich auf die Optimierung geschäftskritischer Betriebsabläufe fokussieren, die sie von der Konkurrenz unterscheiden, können Wettbewerbsvorteile und damit auch Wertsteigerungen erzielen. Dieser Aspekt wird häufig vernachlässigt. Zudem sind Prozessinnovationen wesentlich schwieriger von der Konkurrenz zu entdecken und zu kopieren als beispielsweise Neuerungen im Produkt- und Dienstleistungsbereich. Eine verstärkte Prozessorientierung fördert damit auch ein nachhaltiges Unternehmenswachstum. Dazu will das Buch einen Beitrag leisten.
Dank des BPMN-Standards (Business Process Model and Notation) erhalten wir neue Möglichkeiten zur Planung, Umsetzung und Überwachung von Prozessen. Am Herzen liegt mir hierbei besonders der Übergang von der Planung von Geschäftsprozessen zu deren Implementierung. An diesem Punkt werden Entscheidungen getroffen, die maßgeblichen Einfluss auf den Folgeaufwand und die Kosten haben. Wir müssen uns also zu einem sehr frühen Zeitpunkt Gedanken darüber machen, wie eine erfolgreiche Umsetzung strategischer Prozesse gewährleistet werden kann. Dazu wird in diesem Buch der prozessgesteuerte Ansatz favorisiert, der sich in dem Einklang von prozessgesteuerter Methodologie, prozessgesteuerter Architektur und prozessgesteuerter Anwendung manifestiert. Letztendlich müssen wir uns dabei auch der Herausforderung der Anwendungsentwicklung auf Basis heterogener IT-Landschaften stellen, da sich typische Ende-zu-Ende-Prozesse über eine Vielzahl von Systemen und Partner-Anbindungen erstrecken.
Was sind die wesentlichen Eigenschaften prozessgesteuerter Anwendungen, die mit BPMN 2.0 erstellt wurden?
Volker Stiehl: Unter prozessgesteuerten Applikationen verstehe ich eigenständige Anwendungen, mit denen Unternehmen geschäftskritische End-to-End-Kerngeschäftsprozesse abteilungs- und firmenübergreifend in heterogenen IT-Systemlandschaften abbilden und ausführen können. In der Version 2.0 ermöglicht BPMN diese Form der Anwendungsentwicklung, was vorher so nicht möglich war. Dabei sind prozessgesteuerte Anwendungen, die mit BPMN erstellt wurden, vollständig komplementär mit bestehenden Business-Applikationen, wie etwa SAP ERP.
Unternehmen, die ihre Kernprozesse mit einer prozessgesteuerten Applikationen abbilden, können diese auch flexibel an neue Markt- oder Kundenanforderungen anpassen. Zu den kritischen Prozessen zählen zum Beispiel in der Versicherungsbranche die Abwicklung von Schadensfällen, in der Consumerbranche das Beschwerde-Management oder in der Automobilindustrie die Abwicklung von Leasinganfragen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass die Kernprozesse vor Veränderungen in der IT-Landschaft geschützt sind. Zu nennen wären hier etwa die Systemkonsolidierung, der Bezug von Geschäftsfunktionen als Cloud Services oder die Transformation der IT bei einem Firmenzusammenschluss. Möglich ist dies, weil in einer prozessgesteuerten Architektur die Fachprozessschicht und Integrationsschicht strikt voneinander getrennt sind. Gibt es Änderungen an den IT-Systemen, werden die notwendigen Anpassungen und Konfigurationen ausschließlich in der Integrationsschicht einer prozessgesteuerten Anwendung vorgenommen. Der geschäftskritische Fachprozess ist davon nicht berührt und bleibt unverändert.
Einheitliches BPMN-Modell, flexible Prozesse
Was sind die Hauptvorteile einer getrennten Prozess- und Integrationsschicht?
Volker Stiehl: Zu nennen wäre hier vor allem die enorm hohe Flexibilität. Sie wird durch die Separierung der Schichten erzielt, was auch zu schlankeren fachlichen BPMN-Modellen führt. Fachliche Prozesse lassen sich aufgrund dieser Architektur unabhängig von den jeweiligen Back-End-Systemen, ob SAP- oder Non-SAP-Anwendungen, betreiben und somit auch schnell an neue Markt- und Kundenanforderungen anpassen. Zugleich können wettbewerbskritische Prozesse sehr einfach in alle Ländergesellschaften ausgerollt werden, unabhängig davon, welche IT-Systeme die einzelnen Töchter einsetzen.
Da das Fachprozess- und ausführbare Prozessmodell identisch sind, resultiert daraus auch ein gemeinsames BPMN-Modell für die Fach- und IT-Abteilung, für das beide zu gleichen Teilen verantwortlich sind. Zugleich vereinfacht BPMN 2.0 als gemeinsame Sprache zwischen den Fachbereichen und der IT-Organisation den Austausch von Informationen zu fachlichen wie auch technischen Integrationsprozessen. Fach- und IT-Abteilung können somit gemeinsam ein Modell für einen fachlichen Geschäftsprozess ausarbeiten, der anschließend in Form einer End-to-End-Applikation direkt implementiert und IT-gestützt ausgeführt werden kann.
Erst durch die passende Architektur, also die Trennung der Schichten, können die Früchte einer gemeinsamen ausführbaren Prozessmodellierungssprache geerntet werden. Andernfalls verpufft der BPMN-Effekt wirkungslos. Ein weiterer Vorzug der getrennten Schichten ist, dass zeitgleich und unabhängig voneinander an deren Implementierung gearbeitet werden kann.
Wie wird diese Flexibilität aus technischer Sicht erzielt?
Volker Stiehl: Sie wird durch Geschäftsregeln und eine Zerlegung eines Geschäftsprozesses in vordefinierte Prozessmodule erreicht. Diese vorgefertigten Bausteine, unter anderem zu länderspezifischen Besonderheiten, wie etwa rechtlichen Vorgaben bei der Finanzbuchhaltung und Umsatzsteuer, lassen sich dann regelgesteuert und dynamisch zur Laufzeit zu einem Gesamtprozess zusammensetzen.