Process Mining

Das Ziel ist kontinuierliche Prozesskontrolle

14.11.2023
Von 
Heinrich Vaske ist Editorial Director a.D. von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO.
Wil van der Aalst, Chief Scientist von Celonis und Professor an der RWTH Aachen, beschreibt Process Mining als Werkzeug, das ständig benutzt werden sollte, um kritische Prozesse zu überwachen.
  • Es ist wie mit Excel: Die Anwender entscheiden, wie sie Process-Mining-Tools nutzen wollen
  • Echte Effekte entstehen, wenn nicht nur Standard- sondern auch Kernprozesse überwacht werden
  • Wil van der Aalst rät zu einem Center of Excellence, um alle wichtigen Prozesse unter Kontrolle zu bringen
Er gilt als der unumstrittene Experte für Process-Mining: Wil van der Aalst, Inhaber des Lehrstuhls für Process and Data Science an der RWTH Aachen und Chief-Scientist von Celonis.
Er gilt als der unumstrittene Experte für Process-Mining: Wil van der Aalst, Inhaber des Lehrstuhls für Process and Data Science an der RWTH Aachen und Chief-Scientist von Celonis.
Foto: Celonis

Erfahrungsberichte zum Thema Processing Mining deuten darauf hin, dass manche Unternehmen zu hohe Erwartungen daran knüpfen und sich Ziele setzen, die kaum erreichbar sind. Können Sie das bestätigen?

Van der Aalst: Letztendlich hat das jedes Unternehmen selbst in der Hand, wobei die Erfahrungen und Ergebnisse unserer Kunden positiv sind. Bei unseren Process-Mining-Tools handelt es sich um eine generische Software, es kommt also stark darauf an, wie die Anwender sie nutzen. Das ist vergleichbar mit Excel: Damit kann man unheimlich viel machen, aber erstmal ist es nur ein Tool. Die Benutzer müssen es mit Leben füllen - was unsere Kunden auch tun.

Welche Ziele verfolgen Celonis-Kunden mit Process Mining?

Van der Aalst: Sie möchten die Performance ihrer End-to-End-Prozesse und auch die Compliance verbessern. In diesem Zusammenhang bedeutet Compliance: Sie wollen prüfen, ob die Dinge optimal laufen. Beispielsweise wollen sie Maverick-Buying verhindern, also Einkäufe, die nicht von einem Genehmigungsprozess abgedeckt sind.

Performance bedeutet, man möchte überflüssige Arbeiten und Verzögerungen eliminieren oder etwa herausfinden, wo Kunden in der Buying Journey abspringen und vieles mehr. In den meisten Betrieben gewinnt man zuerst meistens den Eindruck, dass die Prozesse ganz ordentlich durchlaufen. Wenn man aber genauer hinsieht, zeigt sich aber, dass etliche Aufgaben viel effizienter erledigt werden könnten.

Der Order-to-Cash-Prozess ist meist schnell optimiert...

Sie sagen, Process-Mining-Tools seien generisch. Was bedeutet das für die Einführung? Brauchen Unternehmen dafür ein Center of Excellence?

Van der Aalst: In größeren Unternehmen ist das sinnvoll. Zumindest wäre es schade, wenn Process Mining nur für einige wenige Prozesse genutzt würde. Unsere erfolgreichsten Kunden wenden unsere Plattform für 50 oder mehr Prozesse an. Wir versuchen natürlich, es einfach zu gestalten. Deshalb sind wir bei Standardprozessen wie Purchase to Pay (vom Einkauf bis zur Bezahlung, Anm. d. Red.) oder Order to Cash (Auftrag bis Auszahlung) schnell am Start, hier lassen sich sofort Erfolge erzielen. Die Daten sind oft schon im ERP-System vorhanden. Wenn man aber einen Prozess hat, der einzigartig ist, dann wächst der Aufwand - aber eben auch der potenzielle Erfolg.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Van der Aalst: Bei der Lufthansa wird Process Mining genutzt, um Verzögerungen im Flugverkehr zu analysieren und zu verhindern. Wenn ein Flugzeug irgendwo landet, läuft ja immer derselbe Prozess an: Er umfasst Tanken, Gepäck, Boarding und vieles mehr. Da gibt es ungefähr 80 einzigartige Ereignisse oder auch Aktivitäten. Wenn sich nun ein Flugzeug verzögert, kann die Airline das automatisiert analysieren und eingreifen, wenn sich etwas zusammenbraut. Das Process Mining bei der Lufthansa ist individuell konfiguriert worden, dem liegt kein Standardprozess zugrunde.

Die Basis sind Logdaten, und die gibt es auch für komplexe Prozesse

Celonis-Produkte sind auf die Logdaten aus den vom Kunden eingesetzten Applikationen angewiesen, um übergreifende Prozesse analysieren zu können. Wie bekommen sie für komplexe, viele Anwendungen umfassende Prozesse diese Ereignisdaten zusammen?

Van der Aalst: Ich habe das Beispiel der Lufthansa deswegen gebracht, weil wohl die wenigsten Leute erwarten würden, dass sich solch komplexe Prozesse vollständig anhand von Event-Logs nachvollziehen lassen. Das ist aber der Fall. Es gibt dort sehr viele Anwendungen, in der Produktion etwa oder in den Lieferketten. Man muss die anfallenden Ereignisdaten nur finden, verstehen und extrahieren.

Dafür brauchen die Betriebe vor allem Domain-Know-how. Die meisten Firmen benutzen 200 und mehr Softwaresysteme, wobei die End-to-End-Prozesse oft von einer ganzen Reihe dieser Systeme unterstützt werden. Deshalb bedeutet Process Mining, einen Layer über alle existierenden Systeme zu legen. Für Standardsysteme ist das, wie gesagt, relativ einfach. In anderen Bereichen ist der Aufwand größer.

Wenn man die Anwendungen kennt, heißt das noch nicht, dass man auch an die Ereignisdaten herankommt…

Van der Aalst: Nehmen wir das Beispiel der ERP-Systeme, in denen für die bekannten Prozesse klar ist, welche Tabellen involviert sind. Bei anderen Anwendungen, etwa bei der Lufthansa, weiß man auch genau, welche Systeme an den Gates oder in der Gepäckabfertigung genutzt werden. Oft ist das Software, die spezifisch ist, für einen Flughafen zum Beispiel. Die Leute, die diese Software gebaut haben, wissen, welche Daten es gibt und wo sie liegen.

Fast jeder Eintrag, den man in einem Informationssystem sieht, besitzt einen Zeitstempel. Es gibt nur ganz wenige Fälle, in denen das nicht der Fall ist. Man kann also sagen: Alle Firmen sitzen auf einem Riesenhaufen von Ereignisdaten, oft ohne davon zu wissen. Das ist eine der Herausforderungen, vor denen wir stehen: Wir müssen an diese Daten herankommen. Genau dafür haben wir zahlreiche Konnektoren, mit denen sich die verschiedensten Datenquellen einfach anbinden lassen.

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Bottom-up-Einführung ist keine gute Idee

Wie hoch ist der Aufwand für Process Mining? Ein Excellence-Center einrichten, Datenquellen anzapfen und später dann gegebenenfalls die Prozesse und vielleicht sogar das ganze Business umbauen - das klingt nach viel Arbeit...

Van der Aalst: Als ich noch in Eindhoven gelehrt habe, haben mehrere meiner Studenten Process-Mining-Firmen gegründet. Die hatten alle das Problem, dass ihre Kunden Bottom-up angefangen haben. Da war irgendjemand an Datenanalyse interessiert, und los ging's. Was dann passierte, ist klar: Man findet zwar Probleme, aber andere Abteilungen und auch die übergeordneten Hierarchieebenen finden es gar nicht lustig, wenn man viele Prozessineffizienzen findet.

Deshalb empfiehlt Celonis seinen Kunden, das Ganze zentral aufzusetzen, um die erforderliche Unterstützung innerhalb der Organisation zu haben. Wobei die Einführung in der Regel schrittweise erfolgt: Das fängt mit einem Proof of Concept an, bei dem man sich einen oder mehrere Standardprozesse ansieht. Das haben wir schon 1.000 Mal gemacht und können recht gut vorhersagen, wie viel hier tatsächlich herauszuholen ist.

Für mich ist aber wichtig, dass es damit nicht endet. Die Standardprozesse sind ja nicht die Kernprozesse des Unternehmens. Eine Lufthansa muss nicht exzellent darin sein, Rechnungen zu verschicken, sie muss Passagiere pünktlich und zuverlässig von A nach B transportieren. Deshalb ist es von Bedeutung, dass das oberste Management im Boot ist und unterstützt. Je weiter Process Mining skaliert, desto größer ist der Erfolg.

Wie gehen Sie auf die Unternehmen zu? Die Türen zu den Vorstandsetagen öffnen sich ja nicht so schnell für Techies wie Sie…

Van der Aalst: Das ist unterschiedlich. Am einfachsten ist es bei den Standardprozessen, wo Leute etwa für den Einkauf verantwortlich sind und ihren Purchase-to-Pay-Prozess verbessern wollen. Wenn aber ein Betrieb generalistisch ansetzen und auf vielen Ebenen skalieren möchte, dann fallen die Entscheidungen auf einer höheren Ebene. Bei der Lufthansa oder BMW wissen die Topleute alle, dass Process Mining als übergreifende Technologie zum Einsatz kommt und fordern dies auch. Sie sehen ja, welche Einsparpotenziale möglich sind.

Viele Unternehmen möchten nicht nur analysieren, sondern auch automatisieren. Dann wäre das Center of Excellence kein Process-Mining-, sondern ein Process-Automation-Center.

Van der Aalst: Wenn Leute anfangen, Prozesse zu automatisieren, indem sie sich ein entsprechendes Modell malen und dann abbilden wollen, funktioniert das meistens nicht. Viele Systeme sind sehr kompliziert, da ist über Jahre Zeit und Geld reingesteckt worden, um sie aktuell zu halten. Process Mining orientiert sich an dem, was wirklich da ist. Man geht von den De-facto-Prozessen und verfügbaren Daten aus. Und dann wird ausgewertet: Was sind die Fehler und Ineffizienzen, die am häufigsten vorkommen oder am gravierendsten sind. Erst dann beginnt die Automatisierung, die genau auf diese Probleme zielt.

Deswegen ist das eine viel effizientere Art der Automatisierung als all die Ansätze, die bei null anfangen oder einfach nur ineffiziente Prozesse automatisieren möchten. Man findet Probleme, nicht einmalig, sondern ständig. Jeden Tag. Wir geben den Leuten ein Werkzeug an die Hand, um ihre kritischen Prozesse permanent zu überwachen und zu optimieren.