Marktüberblick ERP-Software

Das Rückgrat des Unternehmens

16.03.2004
Von 
Karsten Sontow ist Vorstand der Trovarit AG in Aachen.

Bewertung größenabhängig

Die Übersichtstabelle auf Seite 26 zeigt denn auch, dass nur wenige Anbieter integrierter Softwarepakete den Anspruch erheben, für alle Wirtschaftsbereiche durchgängige Lösungen anzubieten. Insbesondere die Prozessfertigung, den Einzelhandel, Dienstleistungen für Endverbraucher und die Verwaltung meiden viele Softwareanbieter. Im Einzelhandel und bei den Dienstleistungen für Endverbraucher ist auch die oft geringe Unternehmensgröße ein Grund für ihre Zurückhaltung. Tatsächlich bewerten Unternehmen den Aspekt „Integrierte Funktionalität“ je nach Betriebsgröße oft unterschiedlich. So wirkt etwa der Funktionsumfang einer Mysap-Business-Suite aus der Sicht einer kleinen Firma fast erschlagend, während ein großes Unternehmen trotz des erheblichen Funktionsumfangs die eine oder andere Funktionalität möglicherweise vermisst.
Die integrierten Softwarepakete für kleinere Unternehmen zeichnen sich daher meist durch eine wesentliche höhere Standardisierung bei gleichzeitiger Beschränkung auf das Notwendigste aus. Vor diesem Hintergrund ist der Anspruch auf „Omnipräsenz“, den viele Anbieter integrierter ERP-Lösungen erheben, mit Vorsicht zu genießen.
Unternehmen, die nach einer geeigneten Softwarelösung suchen, sollten sich in jedem Fall an den Referenzkunden eines Anbieters orientieren und sich bei der Suche nach solider Branchenkompetenz nicht mit „handverlesenen“ Einzelreferenzen begnügen. Funktional durchgängige Lösungen für Querschnittsfunktionen wie das Dokumenten-Management, Analysen im Sinne von Business Intelligence oder eigene Module für die Integration von Fremdsystemen (Enterprise Application Integration) bieten die wenigsten Systeme. Auch die betriebswirtschaftlichen Aspekte der im Mittelstand häufig praktizierten Zusammenarbeit mehrerer rechtlich eigenständiger Betriebe einer Unternehmensgruppe lassen sich mit vielen Produkten nicht durchgängig betriebswirtschaflich abbilden.
Schließlich strecken nahezu alle ERP-Systeme die Waffen, wenn es um Funktionalität auf einer sehr operativen Ebene geht. So verzichten viele Anbieter auf eigener Lösungen für Personalzeiterfassung (PZE), Maschinendaten-/Betriebsdatenerfassung (MDE/BDE) und die daran ansetzenden Bereiche wie das Computer-Aided-Quality (CAQ)-Management oder die Fertigungsfeinplanung/-steuerung im Sinne eines Manufacturing- Execution-Systems (MES).
Entsprechend zeigt ein Blick „hinter die Kulissen“, dass es mit der integrierten Datenhaltung im Sinne einer durchgängigen ERPInfrastruktur in weiten Bereichen nicht immer so weit her ist, wie es auf den ersten Blick scheint: Fast alle Anbieter integrieren für einzelne Aufgabenbereiche Produkte von Partnern. Gleichwohl versehen

sie diese häufig mit dem Namen des eigenen Produkts. Bei mittelständischen ERP-Anbietern findet man beispielsweise sehr oft die Lösung von Varial im Bereich des rechtlich stark regulierten Rechnungswesens (etwa bei Infor AG, Psipenta GmbH oder AP AG). In diesem Fall erfolgt die Anbindung von Varial, das auf einer eigenen Datenbank betrieben werden muss, über eine „systeminterne“ Schnittstelle. Diese Schnittstelle bringt es mit sich, dass Daten doppelt gehalten und in zeitlichen Abständen abgeglichen werden müssen. Ist eine hohe Datenaktualität erforderlich, müssen die Synchronisationsläufe in kurzen Zeitabständen erfolgen. Das stellt hohe Anforderungen an die Infrastruktur und führt nicht selten zu langen Zugriffszeiten für die Benutzer.

Stimmt die Roadmap?

Ähnlich sieht es mit Modulen aus, die im Zuge der Übernahme eines Anbieters gekauft und nun durch den ERP-Anbieter weiterentwickelt werden. ^
Werden Fremdprodukte in das ERP-System eines Anbieters integriert, gestaltet sich die Weiterentwicklung im Sinne einer „Integrierten Entwicklungsplanung“ oft problematischer, als wenn sämtliche Module aus einem Haus stammen. Ursache hierfür sind die vielfältigen gegenseitigen Abhängigkeiten der einzelnen Module. So setzt die Bewertung von Umlaufbeständen im Rahmen einer Inventur voraus, dass die Stückkosten von Kaufteilen oder Rohmaterial aus dem Rechnungswesen oder der Materialwirtschaft mit Informationen über Arbeitskosten und den Arbeitszeiten aus dem PPSSystem verknüpft werden.
Wird das ERP-System beziehungsweise das Partnerprodukt weiterentwickelt, dann sind davon oft auch die Schnittstellen zwischen den Systemen betroffen. Sollen diese auch künftig problemlos funktionieren, ist eine enge Abstimmung zwischen den beteiligten Softwareanbietern erforderlich. Dass diese Abstimmung eine immense Herausforderung darstellt, wenn Lösungen von Spezialisten wie der Varial Software AG von mehr als 70 anderen Anbietern integriert werden, ist klar. Aber selbst innerhalb eines Unternehmens gestaltet sich die integrierte Weiterentwicklung von ERP-Systemen nicht einfach. Anwender sollten potenzielle Softwarelieferanten deshalb vor dem Kauf nach ihrer Roadmap für die Entwicklung der Module befragen, die sie nutzen wollen.
Alle untersuchten Softwarelösungen verfügen bei grober Betrachtung über eine breite Funktionalität, da der Schwerpunkt der Analyse auf „Integrierten ERPSystemen“ liegt. Im Detail offenbaren sich jedoch erhebliche Unterschiede. Dies gilt vor allem für die operativen Bereiche Warenwirtschaft und PPS sowie bei Qualitäts- Management, Betriebsdatenund Personalzeiterfassung.
Dem Anspruch einer alles umfassenden und gleichzeitig integrierten ERP-Lösung werden am ehesten die Lösungen der großen Softwareanbieter gerecht. Dabei hat IFS, was die technische Integration betrifft, die Nase vorn vor den Softwaregiganten SAP und Oracle. SAP kann sämtliche Funktionsbereiche mit eigenen Softwaremodulen abdecken, betreibt diese jedoch zum Teil auf getrennten Datenbanken (beispielsweise Mysap CRM, BW). Oracle greift in operativen Bereichen wie der Betriebsdatenerfassung und dem Qualitäts-Management aber auch in der Lohn- und Gehaltsabrechnung auf Partnerprodukte zurück.
Unter Verzicht auf einige Softwaremodule wie etwa MES/Fertigungsfeinplanung und -steuerung weisen „EnterpriseOne“ von Peoplesoft (früher J.D. Edwards) und „So:Business“ von der Godesys AG ebenfalls eine sehr weitreichende technische Integration auf.
Spürbare Abstriche in Bezug auf die Breite des Funktionsspektrums sind zurzeit noch bei den Newcomern wie „Business One“, „Semiramis“ oder auch bei „e.bootis“ festzustellen. Bei Business One verweist SAP in diesem Zusammenhang gern auf „diverse Partnerlösungen“, bei denen sich die technische Umsetzung der Integration bis dato einer Bewertung entzieht.
Schließlich zeigen Systeme wie „b2industry“ (Bäurer GmbH), „Baan“ (SSA GT GmbH) und „Soft M Suite“ (Soft M AG) Lücken in der technischen Integration der eingesetzten Module. So integriert beispielsweise Bäurer rund um den eigenen Kern des b2industry, der vorwiegend Aufgabenbereiche der Fertigung und Logistik abdeckt, eine relativ große Zahl von Partnerlösungen, die überwiegend auf getrennten Datenbanken und zum Teil unter eigenen Oberflächen betrieben werden.
Die Analyse zeigt, dass integrierte ERP-Systeme durchaus als Rückgrat des Unternehmens fungieren können - im Grunde gibt es dazu kaum eine Alternative. Gleichzeitig zeigt sich aber auch: Ganz so durchgängig, wie es die meisten Softwareanbieter gerne darstellen, sind die Lösungen bei weitem nicht. Für den Anwender gilt es daher, die jeweilige Software eingehend zu prüfen.
Dabei sollten Unternehmen auch abwägen, wie wichtig die Durchgängigkeit im Vergleich zu Kriterien wie dem Budgetrahmen oder der Einführung einer schnellen Softwarelösung ist. Häufig ist es sinnvoll, in einem Teilbereich zu beginnen. Schließlich erfordert der Einsatz integrierter ERP-Systeme einheitliche, reglementierte Abläufe, die immer auch einen Verlust von Flexibilität bedeuten.

So viel Integrität wie nötig