X-Window-Industrie muss sich noch besser vermarkten

01.07.1994

1993 erzielten Unternehmen, die sich im Markt von X-Window- Produkten tummelten, zwar recht erfreuliche Zuwachsraten. Analysten warnen aber, dass Potentiale, die diese Technologie fuer Client-Server-Projekte bietet, nicht genutzt werden. Hier bestehe durchaus noch Aufklaerungsbedarf beim Anwender.

Von CW-Redakteur Jan-Bernd Meyer

Nach einer Studie der X Business Group Inc. (XBG) ist der X- Window-Markt 1993 weltweit um 51 Prozent auf 1,2 Milliarden Dollar gewachsen. Trotz solcher Zahlen warnen die Marktforscher vor verfruehtem Optimismus: Firmen, die sich diesem Marktsegment widmen, muessten erst noch ihre Hausaufgaben machen und potentielle Kaeufer davon ueberzeugen, dass die X-Technologie bei Client-Server- Strategieueberlegungen einen wichtigen Part spielen kann. Vor allem muesse gezeigt werden, dass nicht nur Unix, sondern auch andere Betriebssysteme geeignete Plattformen fuer X-Umgebungen sind.

Nichtsdestotrotz konnte die X-Window-Gemeinde 1993 als erfolgreiches Jahr verbuchen: Zum Ende des abgelaufenen Jahres waren weltweit immerhin 3,5 Millionen sogenannte X-befaehigte Peripherie-Subsysteme installiert. Der Markt naehere sich damit, wie der britische Brancheninformationsdienst "Computergram" mit Bezug auf die X Business Group schreibt, zumindest im Bereich der grafikorientierten Unix-Umfelder einer gewissen Saettigung.

Kommerzielle Anwendungen sind die Hoffnungstraeger

XBG-President Stephen Auditore weist darauf hin, dass die X- Technologie sich bei Anwendern in technisch-wissenschaftlichen Umfeldern mittlerweile praktisch als De-facto-Standard durchgesetzt habe. Interessanter noch ist Auditores Aussage, "dass zumindest in den USA jetzt auch Unix-Anwender aus kommerziellen Berufssparten beginnen, sich dieser Technologie zu bedienen". Hier seien besonders die Arbeitsfelder Telekommunikation, Verteidigung und Luftfahrt, Produktion sowie Entwicklung zu nennen.

Nach den Erkenntnissen von XBG lassen sich bei der Nutzung der X- Technologie noch geografische Unterschiede feststellen: "Europa und Asien", so Analyst Auditore, "bedienen sich der X-Technologie nach wie vor vornehmlich in technologisch orientierten Unternehmen beziehungsweise nutzen sie bei technischen Applikationen."

Erfolgreichstes Produkt im Warenkorb der gesamten X-Angebote sind mit Abstand X-Terminals. Mit ihnen machten die Anbieter 51 Prozent aller Geschaefte. Allerdings muessen diese Hersteller einen erheblichen Rueckgang verzeichnen, denn 1992 machten X-Terminals noch 62 Prozent des gesamten Marktes aus.

Besonders getroffen hat die X-Terminal-Anbieter der Wertverfall ihrer Produkte: Zwar stiegen die Verkaeufe weltweit immerhin um 35 Prozent auf 265712 Einheiten. Wertmaessig erfuhr der Markt jedoch nur eine Steigerung um 23 Prozent auf 615,4 Millionen Dollar. In diesen Zahlen spiegelt sich der harte Preiskampf wider, der die Unternehmen zu erheblichen Discount-Aktionen zwang.

Da ferner die Eigenschaften und Leistungsmerkmale von PC-X-Servern diese fuer Anwender zunehmend attraktiver werden lassen, wanderten traditionelle X-Terminal-Kunden nach den Erkenntnissen von XBG vermehrt zu dieser Systemkategorie ab.

Trotzdem, so XBG-Vice-President Greg Blatnik, sei festzuhalten, dass der X-Terminal-Markt weltweit schneller gewachsen sei als praktisch jedes andere Peripheriesegment. "Dies liegt vor allem an der Durchdringung kommerzieller Arbeitsfelder", kommentiert der Analyst.

Die Auslieferungen an Kunden aus diesen Branchen seien 1993 um 37 Prozent (1992: 31 Prozent) gestiegen. Ausserdem koenne der Anwender von X-Terminals im Vergleich zu anderen Technologieoptionen nicht nur bei der Anschaffung Geld sparen, sondern auch die laufenden Kosten senken.

Wachstum nicht mehr aus dem technischen Bereich

Allerdings duerfte sich, so Blatnik, kuenftiges Wachstum bei X- Terminals - zumindest in den USA - kaum mehr aus dem saturierten technischen Bereich rekrutieren. Zugpferde werden wohl vor allem aus dem Banken- und Finanzdienstleistungssektor kommen. Auch Unternehmen, die ihre ueberkommenen 3270-Terminals im Zuge von Downsizing-Aktivitaeten ausmustern wollen, seien fuer die X- Terminal-Anbieter interessant.

1994 duerften, so der Analyst, die Auslieferungen dieser speziellen Monitore um 30 Prozent steigen. 1997 erwartet er einen eine Milliarde Dollar schweren X-Terminal-Markt.

Nach der XBG-Rangliste der groessten X-Terminal-Anbieter konnte sich NCD zum fuenften Mal in Folge an die Spitze setzen mit einem Marktanteil von 26 Prozent. Es folgen Hewlett-Packard (HP), Tektronix, DEC, IBM und weitere Anbieter (siehe Grafik). HP machte den besten Schnitt, wertet man nach dem erzielten Umsatz: 143,8 Millionen Dollar erwirtschaftete das Unternehmen nach eigenen Aussagen vor allem wegen der aussergewoehnlich hohen Nachfrage nach seinen Farb-X-Terminals.

Ueberhaupt scheint Farbe ins Geschaeft zu kommen: Nicht weniger als 73 Prozent aller ausgelieferten X-Terminals stellen bunt dar. Wegen des hoeheren Preises im Vergleich zu Monogeraeten ueberraschen dann auch die 81 Prozent vom Gesamtumsatz nicht, die auf die Farbterminals entfallen.

Am schnellsten konnte uebrigens Tektronix seine X-Terminal- Stueckzahlen anheben: Etwas mehr als 30000 1993 verkaufte Geraete bedeuten ein Wachstum von 67 Prozent gegenueber 1992 (rund 18000 Stueck). Interessant ist auch die Entwicklung auf dem PC-X-Server- Markt. Wie XBG-Analyst Christopher Amaru recherchierte, "ist dieses Geschaeftssegment im Vergleich zur 1,1 Milliarden Dollar schweren X-Window-System-Industrie doppelt so schnell gewachsen". Zwar glaubt er, dass sich im laufenden Jahr diese Erfolgstendenz abschwaechen wird.

PC-X-Server machen X-Terminals Konkurrenz

Da PC-X-Server jedoch mittlerweile aehnliche Leistungen wie X- Terminals erbringen und sich auch als veritable Verbindungskomponenten in der Unix-Welt praesentieren, duerften die Aussichten fuer PC-X-Server weiterhin gut sein. Weltweit legte der Umsatz von PC-X-Server-Unternehmen 1993 gegenueber dem Vorjahr um ueber 100 Prozent zu und erreichte die 54,7-Millionen-Dollar-Marke.

Vor allem PC-Anwender, die Microsofts Windows-Betriebssystem nutzen, duerften nach Amarus Meinung fuer die Steigerung verantwortlich sein. Immerhin 41,2 Millionen Dollar zahlten sie in die Kassen der Anbieter. Das entspricht rund 75 Prozent des gesamten PC-X-Server-Marktes.

Auch in diesem gibt es klare Dominanzen: Die Hummingbird Communications Ltd. schnitt sich 1993 32 Prozent vom Kuchen ab (17,1 Millionen Dollar Umsatz), gefolgt von NCD, die mit 9,3 Millionen umgesetzten Dollar noch 17 Prozent Marktanteil auf sich vereinen konnte.

Regiert wird die X-Welt nach Meinung der XBG-Analysten uebrigens zukuenftig nicht von X-Terminal-Hardware - obwohl diese noch den Loewenanteil des Marktes ausmachen -, sondern von Softwareprodukten. Vier Hauptbetaetigungsfelder unterscheidet XBG: Schnittstellen-Entwicklungs-Tools, Management-Systeme fuer Benutzeroberflaechen, Entwicklungssysteme fuer plattformuebergreifende Werkzeuge sowie sogenannte dynamische Datenvisualisierungs-Software. Der Markt insgesamt wuchs 1993 nach Umsaetzen um 64 Prozent auf 133 Millionen Dollar.

Dieses Ergebnis waere - so XBG - noch positiver ausgefallen, haette Sun Microsystems nicht Open Look und die Digital Equipment Corp. (DEC) "VUIT" fallengelassen. Ausserdem unterstuetzt die Industrie vermehrt die APIs des Common-Unix - also den 1170-Schnittstellen- Set. Das fuehrte zu sinkenden Verkaufszahlen bei Open Look und bei plattformuebergreifenden Entwicklungswerkzeugen. Insgesamt schaetzt XBG, dass den Softwareherstellern im X-Markt so weitere zwoelf Millionen Dollar durch die Lappen gingen.

Mit Datenvisualisierungs-Werkzeugen setzte die Industrie 1993 am meisten Geld um: Mit knapp 2000 Lizenzen machte sie rund 44 Millionen Mark Umsatz, das entspricht 33 Prozent des Marktes. Die VI Corp. darf sich mit 38 Prozent Marktanteil als Topanbieter fuehlen. Ihr folgt die SL Corp., welche sich ihren 20 Prozent grossen Claim mit Entwicklungslizenzen sicherte.

Entwicklungs-Tools, die Plattformgrenzen ueberbruecken helfen sollen, machten 32 Prozent des Marktes aus. Aus 4360 Lizenzen zogen die Unternehmen 43 Millionen Dollar. Spitze in diesem Segment war 1993 die XVT Corp., die gleich satte 52 Prozent Marktanteil an sich riss. Die Visix Software Inc. steht mit ihren 23 Prozent Anteil, die sie mit der "Galaxy"-Entwicklungsumgebung verbucht, an zweiter Stelle recht gut da.

Auch mit Schnittstellen-Entwicklungswerkzeugen liess sich 1993 gutes Geld machen: 19 Prozent aller Gelder fuer X-Software wurden hierfuer ausgegeben. Integrated Computer Solutions verkaufte allein 18365 aller 31555 Lizenzen fuer Interface-Tools, macht 59 Prozent Marktanteil. Dagegen nehmen sich die elf Prozent von Sunsoft eher mager aus.

Aus 14600 Lizenzen von Ma-nagement-Systemen fuer Benutzeroberflaechen generierten die Unternehmen immerhin noch 20,2 Millionen Dollar Umsatz. Hier sind die Marktverhaeltnisse noch eindeutiger: Visual Edge Technology (VET) schoepfte fast drei Viertel des gesamten Marktes ab (74 Prozent). Da VET seine Produkte ausschliesslich ueber OEMs vertreibt, geht XBG davon aus, dass der Endbenutzermarkt fuer Management-Systeme tatsaechlich einen wesentlich hoeheren Wert repraesentiert, naemlich rund 50 bis 60 Millionen Dollar.

X-Window ist eine Kerntechnologie

XBG-President Auditore gibt den X-Window-Spezialisten fuer die Zukunft noch einen Rat auf den Weg. Wenn der Markt fuer diese Anbieter weiter wachsen soll, "dann muss fuer Anwender einsichtig sein, dass es sich bei X-Window tatsaechlich um eine Kerntechnologie handelt, die die Interoperabilitaet zwischen Systemen foerdert, und nicht nur um ein Fenstersystem mit Verteilfunktionen unter Windows", glaubt der Analyst.

Hersteller muessten an potentielle X-Anwender die Botschaft ausgeben, dass die X-Technologie quasi den Kit bilde, der Desktop- Rechner mit der Unternehmens-DV, den Hosts im Hintergrund, verbindet. Dies uebrigens ohne Ruecksicht auf das unterlegte Betriebssystem.

Die X-Technologie muesse, so Auditore weiter, als zu anderen Client-Server-Modellen komplementaere und nicht mit diesen in Wettbewerb tretende Topologieoption angesehen werden, und zwar nicht nur auf Unix-Basis.

1994 wird das entscheidende Jahr sein

Windows NT etwa sei eine beachtenswerte Alternative. Fuer interessant halten die XBG-Analysten beispielsweise die Anstrengungen von Firmen wie DEC oder Hummingbird. Beide entwickeln Multiuser-Client- sowie Server-Varianten von NT, die die X-Technologie unterstuetzen. Einen echten Durchbruch werde aber auch dieses Engagement so lange nicht bringen, bis Anwender die X- Technologie nutzen koennen, um NT-Applikationen ueber das Netz zu verteilen.

"1994 wird fuer die X-Industrie entscheidend sein", argumentiert Auditore abschliessend. In Zeiten allgemeiner Verwirrung, welches Client-Server-Modell der Anwender denn nun waehlen soll, in Anbetracht auch der wirtschaftlich noch recht turbulenten Ausgangslage in Europa, seien die X-Produkte-Anbieter gehalten, den Nutzen ihrer Technologie klar herauszustellen. Nur so koenne auch in Zukunft wirtschaftlicher Erfolg gesichert werden.