Java und NC bilden das Gerüst für den Neubau der LVM-DV

Westfalen siedeln nach San Francisco um

25.11.1998
MÜNCHEN (ua) - Bei der Münsteraner Versicherung LVM droht die DV aus dem Ruder zu laufen. Um wieder auf Kurs zu gelangen, soll die Infrastruktur radikal verändert werden. Die Anwendungen wachsen zu einer Lösung zusammen. Die technischen Ingredienzien sind ein starkes Rechenzentrum, Network Computer (NCs), Java und IBMs Komponenten-Framework "San Francisco".

Auslöser für die DV-Revolution ist der Wunsch des LVM nach einem neuen Agentursystem für die 2300 selbständigen Vertriebspartner. Im Jahr 2001 soll die jetzige Lösung ausrangiert werden. Die neue Anwendungssoftware soll aus Komponenten bestehen, die gleichzeitig in LVM-internen Applikationen eingesetzt werden. Das Konzept sieht zudem ein starkes DV-Zentrum und möglichst wenig Informationstechnologie in den dezentralen Organisationseinheiten im Innen- und Außendienst vor.

"Heute müssen wir Daten und Programme redundant pflegen und entwickeln", klagt Werner Schmidt, Mitglied des LVM-Vorstands, mit Blick auf die Anwendungslandschaft. Die Agenturen, die der LVM als DV-Dienstleister mit Applikationen versorgt, setzen bislang das betagte Midrange-System "8870/Quattro" von Nixdorf ein. In der Zentrale laufen hauptsächlich "klassische Host-Anwendungen" auf dem Betriebssystem MVS beziehungsweise seinem Nachfolger OS/390. Die sukzessive Ablösung der IMS-Datenbanken durch DB/2 ist bereits angelaufen. Einige Anwendungen haben die Münsteraner auf IBM-Unix-Rechnern des Typs "RS/6000" installiert. Das vierte Betriebssystem ist OS/2, mit dem 17 Daten-Server und rund 1800 vernetzte Workstations betrieben werden. Neben den OS/2-Clients, die nach und nach komplett verschwinden sollen, verfügt der LVM über zirka 500 der herkömmlichen 3270-Terminals und betreut für den Außendienst rund 4000 Laptops. Auf diesen läuft neben Agentursoftware eine Anwendung für das Vertriebs-Controlling.

Der Datenaustausch zwischen der Zentrale und den Agenturen funktioniert mit Hilfe eines File-Copy-Verfahrens. Während die Host-Applikationen in der Zentrale im wesentlichen in PL/1 codiert sind, wurden die 8870-Anwendungen in Business Basic geschrieben. Somit ist etwa jede Software für Lebensversicherungstarife und Schadensfälle im Kraftfahrzeugbereich mindestens dreifach vorhanden: in einer Entwicklungsversion, in der Großrechner- und in der Nixdorf-Welt.

Das soll sich künftig ändern. "Wir wollen keine Gedanken mehr an Portierungen auf die möglichen Zielsysteme verschwenden und nur noch einmal entwickeln", sagt Schmidt. Daneben liefert aber das aus den frühen 80er Jahren stammende Agentursystem einen wichtigen Grund für die DV-Umstellung. Es stößt an seine technischen und funktionalen Grenzen.

Festzumachen sind die Systemrestriktionen an einer Menge scheinbar kleiner Mängel, die sich dennoch nur mit erheblichem Aufwand beheben lassen; so ist derzeit weder eine ISDN-Anbindung der Anwendungen möglich noch das Faxen aus den Applikationen heraus.

Last, but not least benötigen die Agenturen eine neue Terminverwaltung, die nicht einfach, wie heute üblich, zugekauft werden kann. Die 8870-Welt ist eine geschlossene.

Die Euro-Umstellung will der LVM auf keinen Fall mehr in dem 8870-Legacy-Code vornehmen, die Jahr-2000-Konvertierung schon. Deswegen muß die neue Anwendung spätestens im Jahr 2001 in Betrieb gehen, bevor der Euro die Mark als Währung komplett ersetzt.

Die Absicht, die Software auszutauschen, hat der LVM schon früh bekundet. Er kündigte seinen Software-Abnehmern bereits 1995 ein neues System an. Daß die Entwicklung erst jetzt beginnt, begründet die Versicherung mit dem Investitionsschutz der Agenturen. Als selbständige Unternehmen kaufen sie beispielsweise ihre Hardware auf eigene Rechnung. Diese Kosten müssen sich amortisieren.

Zudem ist das 8870-System nach Darstellung der LVM für die Agenturen komfortabel. Es deckt die verschiedenen Geschäftsaktivitäten komplett ab und läuft zudem "sehr störungsfrei". Diesem Anspruch will der LVM auch mit einem neuen System gerecht werden. Der Zugang soll bedienerfreundlich via Browser, die Wartung und Softwareverteilung zentral erfolgen. Zusammengenommen sei so die Idee vom Thin Client entstanden, einem NC, auf dem Java-Code läuft, erläutert Schmidt.

"Das bedeutet aber auch, daß wir ein funktionsfähiges Netz mit entsprechenden Bandbreiten bereitstellen müssen", schaltet sich Alois Lutz, Leiter der LVM-Abteilung DV-Betrieb, ein. Bis vor drei Wochen war die Zentrale gänzlich mit Token Ring vernetzt. Nun basiert das Backbone auf dem Asynchronous Transfer Mode (ATM). Bis zum Jahr 2002 sollen alle Bildschirmarbeitsplätze via ATM erreichbar sein. "Dafür nehmen wir auch kurzfristig höhere Kosten in Kauf", heißt es unisono. Die Netzadministration bewältigt der LVM seit kurzem mit Hilfe des Tivoli-Frameworks "TME". Sukzessive sollen auch die anderen System-Management-Aufgaben über das Werkzeug laufen.

In den Agenturen gebe es dagegen bis dato praktisch kein Netz. "Eine 8870-Maschine funktioniert wie ein kleiner Host", erläutert Lutz. Künftig steht der Außendienst direkt in Verbindung mit der Zentrale. Dafür faßt der LVM Mietleitungen von der Telekom und anderen Anbietern (siehe Grafik) ins Auge.

Daß NCs die gestellten Aufgaben bewältigen können, beweist Lutz bereits seit vergangener Woche mit 380 IBM-Geräten dieses Typs. Damit sind die Sachbearbeiter ausgestattet, die in Münster einen Neubau bezogen haben. Gebootet werden die NCs von einer RS/6000. Die Sachbearbeiter haben nun via Browser Zugriff auf ihre Anwendungen: Vertrags- und Schadenbearbeitung, Buchhaltungssysteme, zum Beispiel R/2, sowie ein Controlling-System, das mit Hilfe von Tools von SAS Institute erstellt worden ist.

Damit vorhandene Office-Applikationen von Lotus auf den schlanken Clients lauffähig sind, installierte der LVM die Multi- user-fähige NT-Variante "Windows Terminal Server" (WTS). "Die 3270-Emulationen laufen ohnehin auf den NCs, und Unix-Anwendungen funktionieren wie in X-Terminals." Probleme gab es lediglich mit der Dokumentenverwaltung "Image Plus" der IBM. Hier mußte die Versicherung eine Anpassung stricken lassen.

Zunächst wurde der NC-Betrieb in zehn Testinstallationen ausprobiert. Die Erfahrungen waren ermutigend: "Trotz ein paar Anlaufproblemen wollte keiner seinen NC wieder hergeben. Die Anwender streiten sich förmlich um die schlanken Clients."

Komplizierter als die NC-Einführung gestaltet sich das Auswechseln der Altanwendungen. "Unter der Maßgabe, plattformunabhängig zu entwickeln, haben wir mehrere Forschungsprojekte aufgesetzt", führt Helmut Arz, Leiter der LVM-Abteilung DV-Organisation, aus. Die ersten Erfahrungen damit sammelten LVM-Entwickler bereits 1994/95.

Im Sommer vergangenen Jahres begann eine Pilotstudie mit Java. "Java ist das richtige Mittel für die objektorientierte, plattformunabhängige Programmierung, aber auch für den Betrieb schlanker Clients", so Arz. Vorstandsmitglied Schmidt ergänzt: "Die Sprache, die wir jetzt im Einsatz haben, können wir nach der Umstellung nur noch ins Museum stellen. Die darauf basierenden Anwendungen vertragen sich mit gar nichts mehr, außer mit 220 Volt."

Doch entsteht nicht nur das Agentursystem komplett neu. Die Komponenten sollen einerseits plattformneutral und andererseits mehrfach zu verwenden sein. Trotzdem brauchen die 160 LVM-Anwendungsentwickler nicht alles selbst zu codieren. Sie bauen auf "San Francisco" auf. Das IBM-Framework besteht aus den Basisklassen "Foundation" und einem Programmiermodell. Die Java-Objekte sollen eine verteilte Infrastruktur für die Anwendungen bereitstellen.

Die "Common Business Objects" von San Francisco bieten fachliche Komponenten, die auf den Basisklassen aufsetzen. Solche Komponenten sind etwa "Mehrwertsteuer", "Mehrsprachigkeit" oder "Partner". Die Tauglichkeit der letztgenannten Komponente testet der LVM zur Zeit. Außerdem soll es "Towers" geben. Das sind Module, die die Anwendungsentwickler selbst erstellen oder die von unabhängigen Softwarehäusern stammen. "Wir träumen davon, daß es irgendwann einen Komponentenmarkt gibt", so Arz, "und hoffen auf Entwicklungen von anderen Versicherern."

Anfang des kommenden Jahres wird es ernst. Dann sollen die Entwickler nicht mehr nur mit der Technik "spielen". Für die Modellierung der Programme stehen ihnen das Rational-Tool "Rose" sowie das Vorgehensmodell "WSDDM" von der IBM zur Verfügung.

100 Jahre versichert

Der LVM Landwirtschaftlicher Versicherungsverein Münster auf Gegenseitigkeit (LVM a.G.) wurde bereits vor mehr als hundert Jahren, 1896, als regionaler Spezialversicherer von westfälischen Landwirten gegründet. Ihr Geschäft machte die Versicherung hauptsächlich mit Kraftfahrzeugspolicen. Mittlerweile sind mehr als 2,7 Millionen Fahrzeuge bei den Münsteranern versichert. Außerdem gehören heute zum LVM vier Tochtergesellschaften: die LVM Lebensversicherungs AG, die LVM Krankenversicherungs AG, die Rechtsschutzversicherungs AG sowie Dibera. Das DV- und Wirtschaftsberatungs-Unternehmen wurde 1995 gegründet, um LVM-Know-how zu vermarkten.

Der Konzern nahm 1997 rund 3,5 Milliarden Mark an Beiträgen ein. Mit 10,3 Milliarden Mark Kapitalanlagen erwirtschaftete der LVM im vergangenen Jahr Kapitalerträge in Höhe von 819 Millionen Mark.

Die LVA beschäftigt etwa 2000 Innendienst- und 230 Außendienstmitarbeiter sowie etwa 50 Sachverständige. Der Vertrieb ist ausschließlich über 2300 sogenannte Vertrauensleute beziehungsweise Agenturen organisiert, die zu 90 Prozent als selbständige Handelsvertreter tätig sind. Die Größe der Agenturen ist nicht beschränkt, und es gibt keinen Gebietsschutz. Insgesamt verfügen die Vertriebspartner über 6500 Bildschirmarbeitsplätze.

IT-Bestand

Heute in der LVM-Zentrale:-MVS- und OS/390-Hosts,-Unix- und OS/2-Server,-IMS- und DB/2-Datenbanken,-hauptsächlich PL/1-Anwendungen,-3270-Terminals, Windows- und OS/2-Clients,-Token-Ring-Vernetzung.

Heute in den Agenturen:-8870-Midrange-Systeme von Nixdorf,-3270-Terminals und Laptops,-Business-Basic-Applikationen.

Künftige, einheitliche DV im Innen- und Außendienst:-OS/390-Mainframes,-Unix- und WTS-Server,-DB/2-Datenbank-Management-Systeme,-Tivoli-Framework für das Netz- und System-Management,-ATM-Vernetzung,-PL/1-, Microsoft- und Java-Anwendungen, die mit dem IBM-Entwicklungs-Framework "San Francisco" erstellt werden,-IBM-NCs.