Wenn die Vorteile mit Geld allein nicht aufzuwiegen sind

10.03.1995

"Schau mir in die Augen, Kleines". Wozu sich Humphrey Bogart und Ingrid Bergmann noch in "Casablanca" treffen mussten, das erlauben neue Kommunikationstechniken nun sogar auf weiteste Distanz. Nirgendwo sonst hat der schwammige Begriff Multimedia und mit ihm der der Datenautobahn mehr reale Konturen als beim Thema Videokonferenz. Noch muessen sich die optimistischen Marktprognosen allerdings erst bewahrheiten. Unsicherheit gibt es auch noch im Hinblick auf einen einheitlichen Standard hinter der Desktop-Multimedia-Konsole. Die Grossen der Branche scheinen hier im Moment mehr denn je ihr jeweils eigenes Sueppchen zu kochen.

CW-Bericht, Gerhard Holzwart

"Ein Markt explodiert", hiess es Ende vergangenen Jahres euphorisch aus dem Munde von Werner Kuhnert, Geschaeftsfuehrer der Picturetel GmbH in Muenchen. Und die deutsche Dependance des Videokonferenzpioniers aus den USA hatte in der Tat Anlass zum Feiern: Der Company war es gelungen, im dritten Quartal des Geschaeftsjahres 1994 den Umsatz um satte 61 Prozent oder 181 Millionen Dollar gegenueber dem gleichen Quartal des Vorjahres zu steigern. Dadurch war das Vorjahresergebnis von gut 176 Millionen Dollar bereits nach den ersten drei Quartalen von 1994 uebertroffen worden - Tendenz steigend.

Explodieren, oder sagen wir es etwas vorsichtiger, nach oben klettern die Umsaetze aber nicht nur bei Picturetel, sondern bei allen Anbietern von Videokonferenzloesungen - einem Marktsegment, bei dem Beobachter derzeit von jaehrlich zweistelligen Zuwachsraten ausgehen. Die Marktforscher von der Gartner Group sprechen sogar von einer Verzehnfachung des Marktvolumens zwischen 1993 und 1997. Knapp 100 000 Videokonferenzsysteme sind nach einschlaegigen Schaetzungen derzeit weltweit im Einsatz, etwa die gleiche Zahl duerfte Analysten zufolge dieses Jahr ueber den Ladentisch gehen.

Unter Experten unstrittig ist die Tatsache, dass zwei Katalysatoren den Videokonferenzmarkt aus seinem Dornroeschenschlaf gerissen haben: die Verfuegbarkeit relativ preisguenstiger und kompakter Desktop-Systeme und eine taugliche (weil bezahlbare) Uebertragungstechnik - in diesem Fall ISDN.

Die Zeit der grossen Studios ist endgueltig passe

Die Zeiten grosser Videokonferenzstudios mit wochenlanger Voranmeldung (in Deutschland bis dato hauptsaechlich auf Basis des Vermittelten Breitbandnetzes VBN betrieben) sind jedenfalls fuer die meisten Anwender passe und damit auch die mit der klassischen Videokonferenz landlaeufig verbundene Fernsehatmosphaere. Desktop- Conferencing lautet das Gebot der Stunde - also die Moeglichkeit, quasi von PC-Oberflaeche zu PC-Oberflaeche (meist unter Windows) Files und Dokumente mit seinem Gegenueber austauschen beziehungsweise beim und mit dem anderen veraendern zu koennen. Anders formuliert: Sich sehen, hoeren und miteinander arbeiten, und das ueber Tausende Kilometer hinweg.

Fuer Furore zumindest im deutschen Desktop-Videokonferenzmarkt sorgten vor allem Chipgigant Intel mit seiner Desktop-(Video- )Conferencing-Produktfamilie "Proshare" und die Deutsche Telekom mit ihrem besagten ISDN-Netz sowie als "Wiederverkaeufer" von Proshare. Wie ueberhaupt den Bonnern der sich abzeichnende Beginn eines Booms bei verhaeltnismaessig preisguenstigen Videokonferenzsystemen und die vor rund einem Jahr eingegangene Kooperation mit der Grove-Company sehr gut in den Kram passte: Galt es doch, die bisherige, sehr teure und sehr aufwendige Basisinfrastruktur fuer Videokonferenzen (naemlich das erwaehnte VBN mit Bandbreiten bis zu 140 Mbit/s) langsam auszumustern - insbesondere auch, weil man sich hier auf dem Weg zum kuenftigen multimedialen Bandbreiten-Alleskoenner ATM hoffnungslos verrannt hatte.

VBN weg, ISDN her, hiess daher 1994 die Devise der Telekom und damit zwangslaeufig auch fuer zahlreiche deutsche Vorzeige- und Pilotkunden in Sachen Videokonferenz - zum Beispiel fuer den gesamten hiesigen Bereich der sogenannten Telemedizin (Projekt "Medkom"), wo neben dem Ende des VBN-Anschlusses auch noch die Kappung staatlicher Foerdergelder den Umstieg auf den grauen ISDN- Alltag versuesste. Statt 140 Mbit/s also 128, 256 oder 386 Kbit/s (wenn alle Stricke reissen, bringt die Telekom auch 2 Mbit/s ueber einen S2M-Anschluss zur Dose).

Fuer den Anwender ist dies zumindest billiger: Statt rund 10 000 Mark kostet nun die Stunde Videokonferenz durchschnittlich 150 Mark, bei allerdings im wahrsten Sinne des Wortes anderer Uebertragungsqualitaet - aber ueber Geschmaecker und noch mehr ueber Notwendigkeiten laesst sich bekanntlich streiten.

Unter anderem auch bei den Koelner Ford-Werken, die mit zu den besagten Videokonferenzpionieren in Deutschland gehoeren. Dort mueht sich Klaus Schroeder, Leiter Fernsprech- und Datennetze, seine durch die VBN-Studioqualitaet verwoehnte Klientel an den ISDN- basierten Desktop-Rechner zu gewoehnen. Keine leichte Aufgabe uebrigens, wie der Koelner DV-Chef einraeumen muss. Seit 1984 nuetzt man bei Ford die Videokonferenztechnik, erst mit Hilfe von Satellitenverbindungen, seit 1990 als VBN-Kunde der Telekom und nun eben mit ISDN-Option.

Dieses liess und laesst man sich in Koeln etwas kosten: 160 beziehungsweise 180 Stunden pro Monat werden in der Regel in den Breitband-Videokonferenzstudios in Koeln-Merkenich und dem englischen Dunton (der europaeischen Ford-Zentrale) gebucht, weitere 150 allein in Deutschland via ISDN. Ganz im Sinne von mehr Produktivitaet - oder, wie Schroeder es ausdrueckt: Die Videokonferenz ist ein "strategisches Instrument zur Verbesserung der eigenen Wettbewerbsfaehigkeit" geworden. Uebrigens nicht unbedingt deshalb, weil dadurch Reisekosten gespart wurden. Schon eher durch die Tatsache, dass man, so Schroeder, rechtzeitig die jeweiligen Spezialisten vor Ort in Entscheidungen einbeziehen kann - vor allem auch dann, wenn "die Abteilungsleiter auf Reisen gehen".

Kehren wir aber von den Vorteilen der Videokonferenz noch einmal zurueck zum vermeintlichen Siegeszug der von vielen immer noch als avantgardistisch verschrieenen Technik - zwei Dinge, die nicht unbedingt etwas miteinander zu tun haben. Raus aus dem Studio, rein in den individuellen und mit preisguenstiger Uebertragungstechnik verbundenen PC. Dies war, glaubt man den Experten, der eigentliche Ausloeser des sich jetzt abzeichnenden Videokonferenzbooms, und mitnichten etwa die Perspektive, Reisekosten zu sparen. Standard-PC, ISDN-Karte, Farbbildschirm, integrierte beziehungsweise aufgesetzte Kamera, Waehltastatur, Codec und natuerlich die entsprechende "Conferencing-Software" sowie Schnittstellen fuer periphere Audio- und Videogeraete - fertig ist die nur einige tausend Mark teure multimediale Desktop- Station, die so manches High-end- und Midrange-Studio-System vergessen laesst.

Und so stuerzt sich momentan so gut wie alles, was Rang und Namen in der Branche hat, auf diesen von so vielen als lukrativ prognostizierten Zukunftsmarkt. Unter anderem Intel, Deutsche Telekom, AT&T, British Telecom (BT), Compaq, Datapoint, Vtel und natuerlich Picturetel. Letztere sind eigenen Angaben zufolge (gestuetzt auf Zahlen von Personal Technology Research) mit einem Anteil von 47 Prozent weltweit Marktfuehrer. Neu hinzugekommen ist nun aber auch noch Apple Computer. Die Kalifornier haben vor einigen Wochen auf der Intermedia 95 in San Franzisko ihren "strategischen Einstieg" in den Videokonferenzmarkt angekuendigt. "Quicktime Conferencing" heisst das entsprechende Produkt, das zwar erst im Sommer auf den Markt kommen wird, dann aber kompatibel zum H.320-Standard und auf jeder PC-Plattform einsetzbar sein soll.

Stichwort H.320: Lange Zeit sprach vieles dafuer, dass sich der von der International Telecommunications Union (ITU) definierte Bildtelefonie-Industriestandard zu einer weltweit gueltigen Videokonferenzspezifikation mausern wuerde - bis Intel mit seiner Proshare-Familie und damit mit einer eigenen "Standardisierungsphilosophie" auf den Markt kam. Waehrend naemlich die H.320-Norm lediglich die Uebertragung von Video und Audio ueber ISDN festlegt, beruecksichtigt der von den Mannen um Andy Grove federfuehrend entwickelte Personal Conferencing Standard (PCS) die angesichts von Anwendungen wie Desktop-Conferencing und Dokumenten-Sharing immer wichtiger werdende Videokonferenz im LAN.

Proshare war also eine (zunaechst) proprietaere Loesung, noch dazu eine, die nur auf Rechnern mit Intel-Prozessoren laeuft. Dumm war und ist in diesem Zusammenhang aus Intel-Sicht nur, dass der Rest der Industrie und damit des Marktes einfach nicht mitspielen wollte - nicht zuletzt dokumentiert durch Kampfansagen wie die vorhin erwaehnte Apple-Ankuendigung. Oder durch das letzte Woche eingegangene, natuerlich nicht ganz uneigennuetzige Commitment von Microsoft, bei kuenftigen Releases seiner Office- und Desktop- Software den ITU-Data-Conferencing-Standard T.120 zu unterstuetzen - was wiederum viel fuer die These spricht, dass es kuenftig wohl mehrere, zueinander kompatible Videokonferenzstandards geben wird (muessen): H.320, PCS und vielleicht auch H.261, eine relativ neue Spezifikation aus der Industrie, die das Format und die Struktur der Bit-Stroeme zwischen Videokonferenzsystemen unterschiedlicher Hersteller regelt.

Ungeachtet des Gerangels hinter den Kulissen der Standardisierungsfront beginnen jedoch, wie schon erwaehnt, das Geschaeft und mit ihm die verschiedensten Videokonferenz- Einsatzszenarien zu boomen. So reicht die Anwendungspalette mittlerweile von "Call a Videomeeting" (also der Option einer stundenweisen Anmietung von Videokonferenzequipment als schnelle und preisguenstige Alternative zur Geschaeftsreise) ueber die Moeglichkeit, Videokonferenz als normale Dienstleistung beispielsweise in den deutschen Hilton-Hotels zu beziehen, bis hin zur Deutschen Lufthansa, die sich von ihrer Basis Frankfurt aus via Videokonferenz an der Fernwartung ihrer Flugzeugtypen Airbus 340 und Boeing 747-400 versucht.

So gut wie immer taucht bei naeherem Hinsehen der gleiche Katalog an tatsaechlichen oder vermeintlichen Vorteilen auf, den der Einsatz solcher Systeme und Techniken mit sich bringt. Von einem erweiterten Teilnehmerkreis in Entscheidungsprozessen ist da die Rede, vom schnelleren Informationsaustausch und natuerlich von der Einsparung bei den Reisekosten, auch wenn man da aus naheliegenden Gruenden in den Unternehmen oft gar nicht so genau hinsehen moechte - Reiselust und damit die Motivation (privilegierter) Mitarbeiter lassen gruessen. Bleibt die Frage, ob sich das persoenliche Meeting und Gespraech eines Tages vollends ersetzen lassen werden.

Fuer den Ford-Mann Schroeder ist dies nicht das Problem und alles andere laengst beantwortet - jenseits aller Kosten-Nutzen- Relationen. Allein die durch Videokonferenzkommunikation letztendlich doch noch termingerechte Einfuehrung des Ford "Scorpio" im Jahre 1984 sei, so Schroeder, fuer sein Unternehmen "mit Geld allein nicht aufzuwiegen gewesen".