Was gehört zum guten Ton in Sachen Betriebssystem?

Vor allem im blauen Lager der Großanwender hat OS/2 Freunde

31.05.1996

Die von IBM über die Lizenzvergabe zu dem neuen Betriebssystem veröffentlichten Zahlen sind bemerkenswert: Danach sind im letzten Jahr immerhin 850000 von den weltweit fünf Millionen Lizenzen allein in Deutschland verkauft worden - insgesamt wird die Summe der Verkäufe mit hierzulande zwei Millionen und weltweit 13 Millionen angegeben.

Entsprechend lautet die Vorgabe für 1996 wieder: fünf Millionen OS/2-Kopien weltweit. Anhaltenden Schwung in das Geschäft soll nicht nur die IBM-interne Umstrukturierung bringen, auch der mit Spracherkennungsfunktionen ausgestattete OS/2-Warp-Nachfolger "Merlin" - laut IBM für Ende Mai in der Betaversion geplant - soll dem Betriebssystem neue Freunde gewinnen.

OS/2 ist in Deutschland nicht nur (dank Vorinstallation) auf den PCs von Privatanwendern, sondern vor allem in jenen Unternehmen zu finden, die zur Branche Banken und Versicherungen gehören und - zweites Kriterium - fest in "blauer Hand" sind. Da haben bei der Installa- tionsentscheidung wohl nicht nur technische Überlegungen eine Rolle gespielt.

An der Front allerdings zerbröckeln die einst als sakrosankt gehandelten Richtlinien zur DV-Strategie. Es wäre kein Wunder, sollten selbst die Treuesten der Treuen unter den IBM-Kunden schwach werden und mit Windows NT liebäugeln. Vorsorglich teilt die IBM-Pressestelle aus München auf eine sehr allgemein formulierte Anfrage mit: "Namen und detaillierte Angaben von Großkunden können Sie von uns leider nicht bekommen." Ein Schelm, wer Schlechtes dabei denkt...

Auch wenn die Analysten von der Gartner Group bis 1999 ein weiteres Wachstum für das Betriebssystem prognostizieren, so kommt OS/2 an die NT- oder Windows-95-Werte doch bei weitem nicht heran: IBMs PC-System bleibt mit rund fünf Prozent der Gesamtzahl aller verkauften Betriebssysteme in der Größenordnung von Unix.

Die Gründe sind verschiedener Art. Zum einen war der Markt bei der Einführung von OS/2 Warp bereits großflächig durch Microsoft besetzt zum anderen ist es Bill Gates durch seine Strategie des "Laissez-faire" bei Raubkopien und geschickte Schachzüge gegenüber den Third Parties gelungen, eine solche Marktposi- tion aufzubauen, daß anderen Anbietern kaum Chancen blieben. Darüber hinaus haftete und haftet dem Betriebssystem der blauen Marke immer noch ein stark proprietärer Geruch an.

Große Unternehmen verwenden OS/2 hauptsächlich für Clients, ein Server-Einsatz ist dagegen recht selten. Dennoch hat IBM nach eigenen Angaben 50000 neue Server-Lizenzen innerhalb des ersten Monats seit dem Verkaufsstart ausliefern können. Das ausschlaggebende Argument für diese Kunden war vor allem die Einbindung in die IBM-Welt.

Aber es gibt noch andere Gründe. Petri Pehkonen, Netzwerkadministrator der Finnish State Treasury: "Der Warp-Server ist ein Rosinenstückchen. Er ist leicht zu installieren, denn die Netzwerksoftware und das Betriebssystem befinden sich auf einer CD."

Wie es heißt, hat IBM mit seiner Ankündigung "OS/2 only" im Lager der Großanwender nicht gerade helle Begeisterung ausgelöst. War damit doch gesagt, daß Windows-95-Software auf Merlin voraussichtlich nicht laufen wird. Als Alternative blieben dem Anwender dann nur 16-Bit-Programme von Windows 3.x und das begrenzte Angebot an OS/2-Applikationen. Hinzu kommt, daß dieser Markt allein vom Volumen her für viele Software-Anbieter immer mehr an Interesse verliert - nicht gerade eine positive Aussicht für die Zukunft des Systems.

Ein weiteres Problem ist die Strategie von Lotus in Sachen Notes: einer Anwendung, die sich bei Großanwendern hoher Beliebtheit erfreut. Wie die Gartner Group bemerkt, fehle seitens der IBM-Tochter bislang jede klare Aussage zu OS/2. Der Grund sei, daß die IBM-Strategie auf die Compound-Document-Lösung Opendoc zur Verwaltung von Objekten hin- auslaufe, während Lotus die OLE-Technik von Microsoft bevorzuge. Und das werfe doch einige Fragen auf. Immerhin kam von IBM noch Anfang April 1996 die Meldung, die neue Version 4.1 von Lotus Notes unterstütze jetzt auch OS/2 als Client und Server.

Das Zusammenwachsen von Lotus und IBM scheint eben generell nur sehr schleppend voran zu gehen. In manchen Abteilungen von Big Blue hat man den Aufkauf von Lotus wohl noch gar nicht bemerkt. IBM bestätigt die Freiheit von Lotus mit unfreiwilliger Komik: Auf der OS/2-Warp-Server-Referenzliste http://www.austin.ibm.com/pspinfo/wsquotes.html mit Stand vom 13. Mai 1996 ist Lotus immer noch als "Independent Software Vendor" aufgeführt. Auch ein Weg, die Schar der unabhängigen Entwickler, die auf OS/2 setzen, zu vergrößern.

Da erstaunt es einen nicht, wenn sich die Gartner Group skeptisch zu den weiteren Wachstumschancen von IBM aufgrund des Merlin-Release äußert. Die Wahrscheinlichkeit, daß sich der Marktanteil auch im Bereich der Großanwender nicht erhöhen wird, wird von den Analysten mit 80 Prozent angegeben.

Unternehmen, die bislang nicht in OS/2 investiert haben, raten die Gartner-Berater denn auch weiter zur Vorsicht. Man glaube nämlich nicht, daß IBM unabhängige Softwarehäuser in nennenswerter Zahl dazu bewegen könne, neue und nur auf OS/2 einsetzbare Applikationen zu schaffen. Auch bestünden Zweifel daran, ob es IBM gelingen werde, nachvollziehbare Differenzierungen zu der 32-Bit-Windows-Familie erfolgreich zu realisieren.

In den Fällen allerdings, in denen OS/2 heute schon Basis für geschäftskritische Applikationen mit einer angemessenen Leistung ist, sollten nach Gartner-Ansicht die Anwender eine Migration zu Windows 95 und NT erst dann in Erwägung ziehen, wenn die Applikationen sowieso ersetzt werden müßten. Für neue Anwendungen sollte dann selbstverständlich auch das Entscheidungskriterium der Lauffähigkeit unter beiden Familien gelten. Ein ähnlicher Rat wird für Einsätze in Client-Server-Umgebungen und in Workgroups, einer Domäne bei den Großanwendern, gegeben.

Außerdem empfiehlt die Gartner Group, nicht ohne Not und nur mit einer gehörigen Portion Zeit zu migrieren. In jedem Fall sei eine Umstellung auf Windows 95 erst nach dem erstem Service-Pack-Release und auf NT erst nach Version 4 (voraussichtlich im dritten Quartal 1996) ins Auge zu fassen. Die Migration müsse dann in zeitlich großzügig bemessenen Phasen erfolgen. Zwar sollten die Anwender bereits getätigte Investitionen weiterverwenden, zugleich aber die Entwicklung der Windows-Familie aufmerksam verfolgen, so die Gartner Group weiter.

Zeit jedoch ist - auch angesichts zu überarbeitender Budgets - bei Großanwendern ausreichend vorhanden. Im übrigen sind Berechnungen zufolge die Kosten aus operativem Einsatz, Administration, Support und Kapitalaufwand über den gesamten Zyklus des Produktlebens bei OS/2, Windows 95 und Macintosh-OS mit rund 35 000 Dollar gleich hoch.

Da wird es wohl mit OS/2 noch eine Weile wie bisher weitergehen. Keiner wird so recht mit der Sprache herausrücken, was die Perspektiven des Produkts angeht, doch viele werden es im stillen Vertrauen auf die Kraft der blauen Marke weiter favorisieren.

Kurz & bündig

Es gibt eine Anwendergruppe, die deutlicher als andere - die Privatanwender einmal ausgenommen - für OS/2 votiert hat: Viele Banken und Versicherungen blieben ihrem Haus-und-Hof-Lieferanten mit dem blauen Logo auch in Sachen PC treu. Doch selbst in diesem Segment könnte nach Meinung von Marktanalysten das Ende der Fahnenstange erreicht sein. IBMs Unwillen oder Unvermögen, sich mit Microsoft soweit zu verständigen, daß die 32-Bit-Applikationen aus dem Hause Gates auch auf künftigen OS/2-Versionen laufen können und dürfen, ist nicht gerade auf Begeisterung gestoßen. Denn die Bereitschaft vieler Softwarehäuser, ihre Programme für OS/2 zum Teil erheblich umzuarbeiten ist begrenzt. Das schränkt die Wahlmöglichkeiten der Anwender ein.

*Horst-Joachim Hoffmann ist freier Fachjournalist in München.