President Wetsel wirft das Handtuch

Verluste reißen Borland aus Delphi-Träumen

12.07.1996

Im vergangenen April blickte Borland noch einer rosigen Zukunft entgegen: Nachdem im Jahr zuvor die ganze Branche mit einem Verkauf des angeschlagenen Unternehmens gerechnet hatte, rappelte es sich in den folgenden zwölf Monaten auf und beendete das Geschäftsjahr mit einem Nettogewinn von 14,3 Millionen Dollar. Angesichts der stabilen Finanzlage entschloß es sich sogar, in neue Märkte zu investieren und die Open Environment Corp., Boston, zu akquirieren.

Jetzt sieht es so aus, als wäre der mit zahlreichen Entlassungen und anderen kostensparenden Maßnahmen erkaufte Aufschwung bereits zu Ende: Für das erste Quartal des neuen Jahres zeichnet sich ein Verlust von 53 bis 56 Cent pro Aktie ab (siehe Börsen-Chart "Höhen und Tiefen" auf Seite 4).

Als Grund für den Verlust, der sich auf 16 Millionen Dollar summieren dürfte, nennt der kalifornische Software-Anbieter den unerwartet geringen Umsatz in den USA. Insgesamt lagen die Borland-Einnahmen der vergangenen drei Monate nur bei 34 bis 35 Millionen Dollar, was einen Rückgang um ein Drittel gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres bedeutet. Außerhalb der USA hat Borland eigenen Angaben zufolge den erfolgreichsten Quartalsabschluß seit der Restrukturierung im vorletzten Jahr geschafft.

Der für Deutschland und Osteuropa zuständige Borland-Geschäftsführer Gerhard Romen wirft dem US-Vertrieb vor, sich allzusehr auf die Windows-95-Versionen der Produkte "Paradox" und "Delphi" konzentriert zu haben. Bislang sei nur die "Avantgarde der PC-Anwender" auf die 32-Bit-Version des Microsoft-Betriebssystems umgestiegen. Die Vermarktung durch die amerikanische Vertriebsorganisation habe jedoch dazu geführt, daß auch der große Rest nicht mehr in 16-Bit-Software investieren wolle.

Wie der amtierende Finanzchef David Mullin einräumte, konnte Borland mit dem jüngsten Release des von Experten hochgelobten Entwicklungswerkzeugs Delphi bislang kaum neue Kunden gewinnen. Die Markteinführung zu Beginn dieses Jahres sei nur bei umsteigewilligen Anwendern der Windows-3.x-Ausführung auf Resonanz gestoßen. Die anfangs stürmische Nachfrage erweckte, so Mullin, "bei uns einen falschen Eindruck von den zu erwartenden Käufen im ersten Quartal".

Persönliche Konsequenzen aus dem Quartalsverlust zog Gary Wetsel, seit Ende 1994 Chief Executive Officer des Software-Unternehmens. Er überließ seinen Stuhl für eine Übergangszeit dem Vorsitzenden des Board of Directors, William Miller. An ihn berichtet bis auf weiteres ein Triumvirat aus Forschungs- und Entwicklungsleiter Paul Gross, Chefmarketier Michael Greenbaum sowie dem für das internationale Geschäft verantwortlichen David McGlaughlin.

Das jetzige Management will den Umsatzrückgang mit Hilfe neuer Intranet-Produkte auffangen. Borland arbeitet an einer grafischen Java-Umgebung mit der Bezeichnung "Latte", die spätestens zum Jahresende auf den Markt kommen soll. Zudem soll die Middleware "Entera" von Open Systems zu den Borland-Einnahmen beitragen.