IT im Gesundheitswesen/Besonderheiten des KIS-Markts

Spezialanbieter dominieren in den Krankenhäusern

21.06.1996

Eigenentwicklungen müßten eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, zumal jedes Krankenhaus individuelle organisatorische Voraussetzungen und historisch gewachsene IT- Strukturen mit sich bringt. Doch weit gefehlt: Die überwiegende Mehrzahl der deutschen Kliniken arbeitet inzwischen mit Krankenhausinformationssystemen, die ihnen von einer Handvoll Anbieter wärmstens angedient wurden. Wer hier allerdings die Großen der Branche anzutreffen meint, irrt gewaltig. Nach nur wenigen Gehversuchen auf unsicherem Terrain haben sich die Platzhirsche wieder in ihre angestammten Reviere zurückgezogen. Denn wer in der klinischen Informatik überzeugen will, spricht eine andere Sprache als im Big Business.

Dabei standen die Zeichen für einen erfolgreichen Auftritt noch nie so gut wie heute - Stichwort Gesundheitsstrukturgesetz (GSG). Das nämlich schreibt den Kliniken etwas vor, wozu sie unter Verwendung ihrer herkömmlichen Leistungserfassungssysteme kaum in der Lage sind: Transparenz und betriebswirtschaftliche Effizienz. Eigentlich ein gutes Pflaster für die IT, doch offenbar traut man dem Braten nicht. So trifft man hier hauptsächlich mittelständische Softwareschmieden, deren Stärke in der Verknüpfung von informationstechnischem und medizinischem Know-how liegt. Die Kehrseite der Medaille allerdings ist ein hohes Risiko. Wer sich nicht flexibel genug auf Trends und Kundenanforderungen einzustellen vermag, heißt es in der von Jürgen Boese vorgelegten Marktanalyse Krankenhaus-Software 1995 (siehe Kasten), ist schnell aus dem Geschäft draußen.

Wie sich die spezialisierten KIS-Anbieter in ihrer Nische eingerichtet haben, zeigt das Beispiel des Universitätsklinikums Regensburg. Die Unfallchirurgie ist eine selbständige Abteilung innerhalb der Chirurgischen Klinik. Pro Jahr ergeben sich rund 1500 Operationen bei einer Gesamtzahl von 700 stationären Fällen. Klinikübergreifend entschied man sich 1993 für die Einführung des Verwaltungssystems IS-H-Med von SAP, mit dessen Hilfe verwaltungstechnische sowie Patientenstamm- und Falldaten erfaßt werden. Die Eingabe und Verwendung medizinisch relevanter Informationen ist aber in diesem System nicht möglich. Davon betroffen sind Notaufnahme, OP, Station, Poliklinik sowie Sekretariate, Physiotherapie, Sonografie und weitere Funktionsbereiche. Um diese Lücke zu schließen, suchte Abteilungsdirektor Michael Nerlich nach einer adäquaten Lösung. Es dauerte nicht lang, bis er fündig wurde.

GSG kommt den Erwartungen entgegen

Das gewünschte System hatte einen umfangreichen Anforderungskatalog zu erfüllen: Multimedia-Tauglichkeit, Netzwerk- und Client-Server-Fähigkeit, volle Unterstützung von SQL-Datenbanken, individuelle Anpassungsfähigkeit. Kurz: eine sichere Investition. Daß einfache Benutzerführung ebenso selbstverständlich erwartet wurde wie die quasi-elektronische Patienten- akte, unterstreicht den hohen Anspruch, dem sich die nunmehr massiv nachgefragten Systeme stellen müssen. "Wer ist gestern operiert worden?" - solche ereignisorientierten Abfragen als integrale Bestandteile einer ausführlichen Leistungserfassung sind inzwischen Standard. Eine Eigenentwicklung kam für die Kliniker nicht in Frage. Grund: mangelnde Kontinuität im Entwicklungsprozeß. Nerlich in seinem Vortrag bei einem Erfahrungsaustausch zwischen Kollegen in Heilbronn: "Die Entwicklung und vor allem die Codepflege einer Software kann in einer Klinik kaum garantiert werden. Die Langlebigkeit ist jedoch ein wesentlicher Faktor für den Erfolg einer Software."

Den sicherlich lukrativen Auftrag hat sich damals Aly Sabri an Land gezogen, ein Mediziner, der nach einem Studium in Harvard nicht lange fackelte mit seiner Entscheidung, in den lukrativen Markt vorzupreschen. Mit seiner Softwareschmiede mit Büros in Bad Tölz und Boston, in denen sich inzwischen rund 30 Mediziner, Informatiker und Multimedia-Spezialisten tummeln, ist Sabri gut im Geschäft. Er zählt etwa 20 deutsche Kliniken zu seinen Kunden. Sabri: "Das GSG kommt unseren Aktivitäten sehr entgegen, weil die Krankenhäu- ser sparen und wirtschaftlicher denken müssen." Mit der Programmierung seines KIS "Do-it" hatte Sabri erst vor drei Jahren begonnen.

Modular und konfigurierbar sollen die Lösungen sein. Nur so läßt sich schnell auf Kundenwünsche oder Gesetzesänderungen reagieren und ein guter Wirkungsgrad erzielen. Veranschlagt man für die Einführung eines KIS normalerweise ein Jahr, versucht Sabris Truppe, dies in ei- nem Monat über die Bühne zu bringen.

Was gehört alles in ein solches System hinein, damit es Ärzten, Pflegekräften, der Verwaltung und den Behörden zu mehr Transparenz verhilft? "Wir sind auf der klinischen Seite", betont Sabri, der vor einigen Jahren in einem inzwischen aufgelösten KIS- Entwicklungsgremium am Münchner Klinikum Großhadern mitgearbeitet hat. Im Augenblick gehe es darum, erläutert der Spezialist, Leistungen schnell zu erfassen und zu dokumentieren, sie überall verfügbar zu machen und dem Arzt durch Reduzierung von Redundanz Arbeit zu ersparen. Aus Sabris Sicht ist das Großhaderner Projekt vor allem am perfektionistischen Anspruch gescheitert. "Es wurde nicht mit der nötigen Konsequenz durchgesetzt." In US-Kliniken, so der gelernte Orthopäde, werden Systeme eingeführt, ohne die Ärzteschaft um Erlaubnis zu bitten. Wer es nicht benutzen mag, kann gehen.

Begeisterung ist keine Erfolgsgarantie

Was Sabri hier anspricht, ist ein typisches Phänomen: Begebe man sich in Kliniken auf Erkundung und bitte die Mediziner um interessante Ideen, die in die Entwicklung eines KIS einfließen sollen, könne man sich vor Anregungen kaum retten. Sei ein solches System dann aber installiert, würden die ursprünglichen Ideen gern wieder zurückgenommen und damit begonnen, die Arbeit zu torpedieren: "Das hätte ich doch viel lieber anders." Begeisterung für etwas Neues sei noch lange keine Garantie für Erfolg. Der Entwickler zieht sich deshalb sofort zurück, wenn er mit hochfliegenden Erwartungen konfrontiert wird. "Wer eine dreidimensionale Fieberkurve angezeigt oder sofort sämtliche Laborwerte im Vergleich auf die zeitliche Achse dargestellt haben möchte, hat unrealistische Vorstellungen."

Im Regensburger Klinikalltag hat sich das KIS inzwischen etabliert. Auf einer unkonventionellen Oberfläche befindet sich ein x/y-Koordinatensystem aus Inhalt und Zeit. Die inhaltliche Achse dokumentiert den Weg des Patienten durch die Klinik, von der Aufnahme über den Befund und die Untersuchung bis zu seiner Entlassung. Das System fügt sich ohne großen Aufwand in bestehende Architekturen ein. Sabri: "Jedes Krankenhaus besitzt ein Verwaltungssystem. Durch das GSG ist auch ein klinisches System zur Dokumentation der erbrachten Leistungen erforderlich geworden." Das KIS kommt dort zum Einsatz, wo die Leistungen erbracht, nicht, wo sie abgerechnet werden.

Das PC-basierte System mit einer Windows-Oberfläche läuft ab 486er Client mit 8 MB RAM und 66 Megahertz Taktfrequenz. Als Server kommen auch Windows NT oder Novell in Frage. Do-it dockt an die Datenbank an, die das Haus favorisiert, etwa SQL Base, Oracle oder Informix.

Die Benutzeroberfläche kommt aus Sicht des Anwenders mit dem Betriebssystem nicht in Berührung. Im Vergleich zu anderen Windows-Applikationen wurde auf Menüleisten und Fenster völlig verzichtet. Für den hektischen Alltag einer Kinik das einzig Richtige. Ob man in der Anästhesie oder der Ambulanz ein Protokoll verfaßt oder einen Arztbericht schreibt - jegliche Funktionalität bleibt immer mit derselben Oberfläche verknüpft.

Jede Anwendung bringt Zusatzvorteile mit sich: Dokumentiert man zum Beispiel konsequent die erbrachten Leistungen, entfällt die Suche nach Patientenakten. Sabri weiß aus Studien, die für die Suche nach Dokumenten gut zehn Prozent der Arbeitszeit eines Assistenzarztes veranschlagen. Ferner gibt es Fälle, in denen man immer wieder einen Namen, eine Diagnose, eine Therapie irgendwo eintragen muß - was enorm viel Zeit kostet.

Auch die Eingabe im OP muß einen weiteren Vorteil bringen. Hier geht es vor allem um die verschlüsselte Eingabe von Leistungen. Darüber hinaus wollen viele Ärzte sehen, wie lange sie für bestimmte Tätigkeiten benötigen. Ein Abfallprodukt im positiven Sinn.

Die Kosten einer solchen Lösung lassen sich nicht pauschal bemessen, es kommt auf das jeweilige Einsatzgebiet an. Für Sabris System kann man etwa 50000 bis 80000 Mark für rund 20 Rechner einkalkulieren. Einer von Sabris Kunden habe hochgerechnet, daß sich die Investition allein für den Leistungsbereich Hüften und Knie nach einem Dreivierteljahr amortisiert hat.

Daß es höchste Zeit ist, auf leistungsfähige Informationstechnik zu setzen, diese Einschätzung teilten viele Teilnehmer des 2. Heilbronner Erfahrungsaustauschs Krankenhausinformatik, der Anfang März stattfand. Ob es sich dabei um Systeme von SMS, Laufenberg, M/A/I, Update oder Data-Plan handele - immer müsse die individuelle Situation der jeweiligen Klinik im Vordergrund stehen. Wer keinen Support auf die Beine stellt, der einem rund um die Uhr tätigen Dienstleistungsbereich entsprechen kann, hat ebenso schlechte Karten im Wettbewerb wie ein Angebot, das nicht offen und flexibel genug ist, um künftige IT-Strategien des Anwenders angemessen zu unterstützen.

Herausforderung: Point of Care

Ein Anwendungsgebiet wird auf absehbare Zeit wohl die Spreu vom Weizen trennen: die sogenannten Point-of-Care-Anwendungen. Eine möglichst zeitnahe Dokumentation ärztlicher und pflegerischer Leistungen am Patientenbett, die größte Herausforderung für spezielle IT-Systeme, steckt wegen unzureichender technologischer Kompetenz noch in den Kinderschuhen. POC ist allerdings durch die inzwischen ausgereifte Funknetztechnologie, die eine mobile Datenerfassung ermöglicht, in greifbare Nähe gerückt. Die Einbindung der jeweiligen Arztvisite in den IT-Apparat durch kleine, modulare Systeme, die der Mediziner in der Tasche bei sich trägt - wann wird sie Realität? Sabri: "Das Problem ist die Handhabung. Der Newton ist sicherlich zu klein und hat noch eine schlechte Auflösung. Als Arzt benötigt man viel mehr als nur einige Laborwerte."

Angeklickt

Gerade kleine bis mittlere Anbieter haben im Krankenhausmarkt gute Chancen. Ein Mix aus Informatikern und Medizinern stellt Systeme auf die Beine, die sich sowohl in größere Einheiten beispielsweise von SAP einfügen als auch eigenständig fungieren können. Immer muß die individuelle Situation der jeweiligen Klinik im Vordergrund stehen. Die Angebote müssen also offen und flexibel sein.

*Max Leonberg ist freier Journalist in München.