Grafische Bedienoberfläche für Sinix-Mehrplatzsysteme:

Siemens Macht sich mit Collage ein paar Bilder

20.01.1989

Die einheitliche Benutzeroberfläche für Unix-Systeme gibt es noch nicht, genausowenig wie es bereits ein Unix gibt. Aber es existieren auch in der Bundesrepublik bereits Produkte, die auf eine Migration auf den künftigen Unix-Standard hin ausgerichtet sind. Siemens hat hier für seine Sinix-Serie bereits "Collage" vorzuweisen.

Mit Unix nach dem X/Open-Standard steht ein einheitliches und offenes Betriebssystem für die gesamten Sinix-Systeme zur Verfügung. Das hat den Vorteil des langfristigen Schutzes von Hard- und Softwareinvestitionen für den Softwareentwickler und vor allem für den Anwender. Als Mitglied von X/Open, OSF (Open Software Foundation) und des X/Consortiums (Publikation von Schnittstellenstandards für grafische Bedienoberflächen) hat Siemens dazu beigetragen, Technologien für Grafik-Bedienoberflächen zu entwickeln. Zu dieser Systemumgebung bietet Siemens ergänzend mit Collage die passende Bedienoberfläche für Grafik- und Textanwendungen auf Mehrplatzsystemen.

Im Rahmen von Weiterentwicklungen wird die WAM-Schnittstelle auf XLib (standardisierte X/Windows-Schnittstelle) aufsetzen, so daß auch X/Windows-Applikationen parallel zu Collage-Applikationen ablauffähig sind. Da jedoch X/Windows für Workstations (und nicht für Mehrplatzsysteme) konzipiert ist, können hier die Vorteile, die Collage auf Mehrplatzsystemen bietet, nicht erreicht werden. Weiterhin ist geplant, die künftigen OSF-Produkte auf Sinix einzuführen. Durch diese Koexistenz von Collage und OSF-Produkten soll die Migration auf den Unix-Standard hin ausgerichtet werden.

Basis sind die X/Open-Schnittstellen

Das Sinix-Betriebssystem entspricht heute der X/Open-Umgebung, wie sie im Portability-Guide (II) festgelegt ist. 1989 wird Siemens Sinix-Anwendungen gemäß dem Portability-Guide (III) freigeben, die X/Open-, System-V- und Posix-konform sind. Basis für die Erstellung neuer Anwendungen sind die definierten X/Open-Anwendungsschnittstellen.

Collage ist eine grafische Bedienoberfläche mit Fenstertechnik und Mausbedienung für Sinix-Einplatz- und Mehrplatzsysteme. Da der Benutzer von komplizierten Betriebssystem- und Programmbefehlen befreit wird, erleichtert sie vor allem dem Einsteiger den Umgang mit dem Computer und erhöht somit dessen Akzeptanz.

Durch Fenstertechnik wird der Bildschirm quasi vervielfältigt. Beispiele derartiger Anwendungsfälle sind:

- einen mit dem Textverarbeitungssystem HIT geschriebenen Text bearbeiten und gleichzeitig Berechnungen für einzelne oder mehrere Positionen mit der Tabellenkalkulation Siplan durchführen - ein Rationalisieren zum Beispiel der Angebotserstellung,

- einen Auftrag bearbeiten und parallel dazu ein Teletex beziehungsweise Telex versenden,

- einen Brief schreiben und nebenher Informationen aus einer Datenbank abrufen.

Mit dieser Fenstertechnik läßt sich also bequem in mehreren Anwendungen parallel arbeiten oder unter Beibehaltung der aktuellen Daten durch einfachen Fensterwechsel schnell von einer Anwendung zur anderen springen.

Selbstverständlich stellt Collage für alle Programme die gleiche Bedienoberfläche zur Verfügung, so daß sich der Anwender beim Aufgabenwechsel nicht stets von neuem auf eine andere Bedienerführung umstellen muß. Diese Einheitlichkeit der Bedienerführung bezieht sich auf die Gestaltung und Manipulation der Fenster, auf den Aufbau und die Auswahl der sogenannten "Pull-down"-Menüs sowie auf die Methodik der Objektwahl und -veränderung.

Ebenso können einzelne Arbeitsergebnisse von unterschiedlichen Anwendungen mit wenigen Kommandos direkt am Bildschirm zu einem Gesamtdokument zusammengefaßt und ausgedruckt werden.

Für jedes neu gestartete Programm öffnet Collage ein eigenes Fenster, das sich in Größe und Lage frei auf dem Bildschirm positionieren läßt und eine programmspezifische Menüleiste erhält.

In den verschiedenen Fenstern können alphanumerische und grafische Anwendungen auch parallel zueinander ablaufen, das heißt, das alphanumerische Sichtgerät 97801 ist vollständig emulierbar. Außerdem besteht die Möglichkeit, auf dem Grafikbildschirm auch zeichenorientierte Anwendungen zu bearbeiten. Dadurch kann der Anwender aus dem Sinix-Software-Angebot (etwa 500 Programme) jedes Programm auch unter der grafischen Bedienoberfläche ohne Änderung - mit allen Vorteilen der Fenstertechnik - aufrufen. Nicht "mausfähige" Sinix-Programme erhalten ebenso einen Rahmen mit Rollbalken und "Pull-down"-Menü. Innerhalb eines Fensters ist aber alles beim alten: Das Programm wird genauso über die Tastatur bedient wie auf einem alphanumerischen Bildschirm.

Ein Beispiel für das Softwareangebot ist das Textverarbeitungsprogramm HIT, das den Zugriff der Maus auf die Texte und somit deren Manipulation im weitesten Sinn ermöglicht. Über den "Rollbalken" läßt sich jeder Text nach allen Seiten hin verschieben, um eine Textpassage schnell aufzufinden. Gezielt kann eine Textstelle "angeklickt" und im nachhinein durch Attribute (zum Beispiel blinkend oder halbhell) verändert werden.

Da der Grafikbetrieb die freie Adressierbarkeit jedes einzelnen Bildpunktes ermöglicht, kann die Aussage eines Textdokuments durch integrierte Grafik unterstrichen werden. Für das Erstellen einer solchen Grafik stehen zum Beispiel das Zeichenprogramm Sidraw und für Diagramme das Business-Grafikprogramm Sichart zur Verfügung.

Das Zeichenprogramm Sidraw ermöglicht das Anfertigen von Präsentationsgrafiken und Freihandzeichnungen. So erstellte Grafikdokumente lassen sich über das HIT-Kommando "Zeichnung erstellen" in einen Text einfügen.

Alle Sidraw-Dokumente kann der Anwender im Dialog erstellen, das heißt, er erhält keine "fertigen Bausteine" im Sinn von "nicht mehr veränderbar", sondern gestaltet seine Grafiken nach eigenen Vorstellungen direkt am Bildschirm. Es können aber auch individuelle Bilderbibliotheken in Form von "Musterblöcken" angelegt werden.

Für die grafische Darstellung von Tabellen wurde das Business-Grafikprogramm Sichart entwickelt. Mit ihm lassen sich in einem Unternehmen anfallende Daten, wie Umsatzzahlen, Verkaufsstatistiken oder Soll-Ist-Vergleiche, präsentieren. Schnell sind alle gängigen Arten von Bürografiken (Kreis-, Balken-, Linien- oder Treppendiagramm) aus dem Zahlenmaterial entwickelt, das entweder per Hand eingegeben oder aus einer Datei, beispielsweise einer Siplan-Datei, übernommen. wurde. Diese Grafiken sind auch in ein HIT-Dokument integrierbar.

Damit Softwarehersteller, die ihre Anwendungen unter Fenstertechnik ablaufen lassen wollen, schnell programmieren können, wird neben dem Laufzeit- auch ein Entwicklungssystem mit einer systemnahen Programmschnittstelle (WAM = Window Access Method) angeboten. Sie umfaßt sehr viele Grafikfunktionen und ist für die Entwicklung mehrplatzfähiger Software angelegt. Für Softwarehersteller stellt sie die Basis zum Erstellen grafischer oder alphanumerischer Anwendungen dar, die in das Collage-Menü eingebettet werden sollen. Denn nicht alle Fenstersysteme bieten die Möglichkeit, benutzerspezifische Anwendungen über eine offene Schnittstelle zu entwickeln und in das bereits bestehende Softwarekonzept zu integrieren.

Bei seiner Arbeit wird der Programmierer durch einen Dialogmanager, ein Meldungssystem und den Bildpunkteditor unterstützt. Mit Hilfe des Dialogmanagers lassen sich grundlegende Objekte, wie Fenster, Menüs oder Boxen, definieren - und dies alles, ohne eine Zeile Programmcode schreiben zu müssen. Das Meldungssystem hilft, einheitliche Hilfsfenster für Entwicklungen zu gestalten, während mit dem interaktiven Bildpunkteditor das Editieren und Erstellen von Bildpunktobjekten - als da sind Symbole, Zeiger, Farbmuster oder Zeichensätze - vorgenommen werden kann.

An einem Mehrplatzsystem können mehrere Benutzer gleichzeitig mit Collage und anderen grafischen Programmen arbeiten. Eine Besonderheit der Grafiklösung unter Sinix ist außerdem, daß sich die Systeme im Mischbetrieb einsetzen lassen: An einem "Multiuser"-System können beispielsweise zwei alphanumerische und zwei grafische Bildschirme angeschlossen sein, die simultan im Einsatz sind. Aufgrund dieser flexiblen Kombinationsmöglichkeit ist man in der Lage, einen Computer kostengünstig und aufgabenbezogen auszustatten, indem man seine Grundkapazität von Fall zu Fall ausbaut.

Möglich wird die Mehrplatzgrafik erst durch den neu entwickelten grafikfähigen Bildschirm 97808 für Sinix-Computer, der über einen eigenen Prozessor (für den sehr schnellen grafischen Bildschirmaufbau) und einen eigenen Hauptspeicher verfügt. Bei einem "Login" des Anwenders wird der Collage-Prozeß (Geräte-Firmware) einmalig in den grafischen Arbeitsplatz geladen und dadurch der Systemprozessor von rechenintensiven Grafikfunktionen entlastet.

Der grafikfähige 15-Zoll-Bildschirm ist entspiegelt und hat eine Bildwiederholfrequenz von 70 Hertz bei Grafikbetrieb (im Textmodus 80 Hertz). Zusätzlich unterstützt durch die Auflösung von 720 x 540 Bildpunkten ist ermüdungsarmes "Sehen auf den Bildschirm" selbst bei längerer Arbeit am Computer möglich.

Durch die ergonomische Darstellung "Schwarz auf Weiß" am Bildschirm werden die Arbeitsergebnisse wie von der Papiervorlage her gewohnt wiedergegeben, so daß sich das Auge beim Wechsel vom Papier auf den Bildschirm und umgekehrt nicht ständig umstellen muß. Auf Wunsch sind die Bildschirminhalte aber auch im Modus "Weiß auf Schwarz" darstellbar.

Mit verständlichen Symbolen auf dem Bildschirm, die über die Maus angesprochen werden, erleichtert die Benutzeroberfläche die Bedienung der Systeme erheblich. Auch hilft sie, Zeit zu sparen, da man eine zweite Anwendung starten kann, ohne die erste verlassen zu müssen.

Auf dem Bildschirm können gleichzeitig mehrere Programme in Fenstern sichtbar gemacht und genutzt werden, was zum Beispiel das Vergleichen zweier Texte sehr erleichtert. Bei Bedarf lassen sich die Fenster verschieben, vergrößern oder verkleinern. Auch eine Überlappung der Fenster ist möglich, wobei das hintere Fenster durch einen "Mausklick" schnell wieder in den Vordergrund geholt werden kann.

Collage ist gleichermaßen für alle Sinix-Systeme, ob X 20, MX 2, MX 300 oder MX 500, verfügbar.

Da über alle oben genannten Sinix-Modelle hinweg volle Binärcodekompatibilität besteht, kann zum Beispiel das Einplatzsystem X 20 zur Softwareentwicklung herangezogen werden. Die auf ihm programmierte Software ist genauso auf dem MX 2 (für bis zu sechs Arbeitsplätze) ablauffähig wie auf dem MX 300, das für bis zu zwölf Benutzer gleichzeitig ausgelegt ist. Was für die kleinen Mehrplatzsysteme gilt, trifft selbstverständlich auch auf das Topmodell der Sinix-Familie zu: Das Mehrprozessorsystem MX 500 kann als Abteilungsrechner bis zu 64 Bildschirmarbeitsplätze simultan bedienen.