Der Anwender muß sich weiterhin mit einem Lösungs-Mix begnügen

"Offene Punkte" gehören weiterhin zum OSI-Alltag

27.10.1989

AACHEN - Geht es um offene Kommunikation, dann fällt schon nach kürzester Zeit das Stichwort ISO/OSI, gefolgt von allerlei OSI-Liebes-, aber oft auch Lippenbekenntnissen. Ein Vergleich verschiedener Anwendungen zeigt nun, daß die Standardisierung nicht durchweg greift Alternative Ansätze können - sich bisher mindestens genausogut sehen lassen wie OSI-Lösungen.

Glauben Sie an OSI, den internationalen Standard für offene Kommunikation? Der Glaube an OSI fällt leicht. Verheißt er doch die Lösung aller Probleme heterogener Rechnerwelten. Endlich keine Probleme mehr in der Anbindung von Fremdgeräten an IBM, DEC, Siemens ... ! Für viele Anwender ist OSI die Zukunft. Offen scheint nur die Frage, wann OSI kommen wird und wie, sprich mit welchen Maßnahmen und Kosten, man zu OSI migrieren kann. Betrachtet man die Entwicklung des internationalen Standards im Rahmen der International Standard Organisation ISO über die letzten elf Jahre hinweg, so drängt sich eine Frage auf. Wie kann eine Standardisierung, die vor über zehn Jahren begonnen hat, einer Technologieentwicklung gerecht werden, die regelmäßig alle zwei bis vier Jahre vorhandene Technik ersetzt?

Künftige Bedeutung von OSI für den Anwender

Im folgenden soll untersucht werden, welche Bedeutung OSI zukünftig für den Anwender haben wird (oder kann). Ausgangspunkt dazu sind die typischen Anwendungen dezentraler Datenverarbeitung, so wie sie heute existieren und wie sie für die nächsten Jahre erwartet werden. Um es vorweg zunehmen: Es ist erkennbar, daß OSI nur ein Teil der Kommunikationszukunft ist. Der Anwender muß weiter mit einer Mischung verschiedener Lösungsansätze leben. Deshalb wird ein Vorschlag für eine strukturierte und zukunftsorientierte Kommunikationsplanung diesen Artikel beenden.

Die bestehenden Anforderungen an Kommunikationslösungen sind je nach Anwendungsgebiet im Unternehmen stark verschieden. Sinnvoll ist eine Unterteilung nach Anwendungen in:

- Kommerzielle Datenverarbeitung

- Technische Datenverarbeitung

- Backbone-Netze

- Diskrete Fertigung

- Prozeßorientierte Fertigung Im folgenden wird aus zeitlichen Gründen vorwiegend der

Einsatz von Kommunikationstechnik im Bereich kommerzieller und technischer Datenverarbeitung betrachtet. In diesen Bereichen dominieren folgende Anwendungen heute:

1. Terminal Kommunikation: Ziel ist der wahlfreie Zugriff jedes Terminals auf jeden Rechner unter voller Nutzung aller gebotenen Programme und Rechner. Diesem Ziel stehen

herstellerspezifische Terminalwelten und unterschiedliche Darstellungsarten (Graphik, Farbe) entgegen.

2. File-Transfer: Ziel ist der Austausch von Dateien zwischen Rechnern, sowohl komplett als auch auf Record-Basis. Optionen beinhalten die Synchronisation und die Verarbeitung verschieden strukturierter Files.

3. Netzwerkweite, einheitliche File-Systeme: Ziel ist der Aufbau netzwerkweiter, einheitlicher File-Systeme, die die Generierung eines benutzerorientierten File-Systems gestatten. Für jeden Benutzer kann ein File-System (Benutzerprofil) erzeugt werden, daß dieser als sein lokales File-System empfindet. Real sind die Files über verschiedene Rechner verstreut und der Zugriff erfolgt extern. Dabei kann mit den Optionen Recordzugriff und Synchronisation gearbeitet werden.

4. Dokumenten-Erstellung und -Austausch: Ziel ist die freie Erzeugung von Dokumenten und der Austausch zwischen den organisatorisch zusammenhängenden Arbeitsplätzen unabhängig von dem jeweils vorhandenen Rechnersystem.

5. PC-Netze: Ziel ist der Einsatz von PC-Servern zur Schaffung gemeinsamer File-Systeme für PCs sowie die Einrichtung von Druckservern. Die Nutzung der gemeinsamen File-Systeme beinhaltet den Einsatz- serverbasierter Anwendungen, speziell von Datenbanken oder von Textverarbeitungssystemen.

6. Electronic Mail: Ziel ist der Versand von Nachrichten zwischen Benutzern, nicht zwischen Geräten. Für jeden Benutzer wird ein Briefkasten angelegt, auf den dieser unabhängig von seinem jeweils vorliegenden physikalischen Gerät zugreifen kann.

7. Austausch von Handelsinformation: Ziel ist der Austausch von Handelsinformation in genormten Formaten, so daß jedes Unternehmen seine lokale EDV zur vollständigen und hochgradig automatisierten Verarbeitung der Information (Rechnungen, Bestellungen, Lieferscheine) von Handelspartnern benutzen kann.

8. Telefax: Ziel ist der Austausch von Dokumentenkopien zwischen Kommunikationspartnern, egal wo diese sitzen. Das heißt, Ziel ist die Fortführung von Telefax-Diensten in Netzen bis hin zum Arbeitsplatz.

An dieser Stelle wird als zentrales Bewertungskriterium die erkennbare Bedeutung einer Anwendungsfunktion für die nächsten fünf Jahre herangezogen, dabei werden für die nächsten Jahre folgende Technologieentwicklungen unterstellt:

- Ausweitung von PC-Netzen. Der PC wird zum wichtigsten Endgerät in Netzen. Die meisten Anschlußzahlen kommen aus diesem Bereich (siehe IDC-Studie), damit verbunden die Ausweitung der Bedeutung der PC-Netzwerkbetriebssysteme.

- Einführung integrierter Bürokommunikationssysteme mit grafischen und fensterorientierten Oberflächen (Macintosh, Windows, Office Vision)

- In der IBM-Welt Weiterverfolgung des SAA-Konzepts. Nutzung der LU6.2 und aufgesetzter Anwendungen. Dazu zählt als eine erste Komponente Office Vision, Zielrichtung ist die Öffnung der Mainframe-Datenbanken und Dokumentensysteme für dezentrale Workstations.

- Verstärkter Einsatz Transaktionssystemen. Zuerst vor allem im Datenbankbereich mit der Schaffung verteilte Datenbankserver und des dezentralen Zugriffs über SQL-Schnittstellen auf der Seit Workstation. Später erweiterte Nutzung des Transaktionkzeptes für Number-Cruncher zur zentralisierten und optimierten Bearbeitung rechnerintensiver Aufgaben.

- Verstärkter Aufbau real verteilter Systeme. Der Benutzer erzeugt an seinem Arbeitsplatz Prozesse (oder Transaktionen die von einem verteilten Betriebssystem zum optimalen Rechner in einem Verbundsystem gebracht werden. In diese Richtung gehen beispielsweise DECs/VAX-Cluser und 1 TCF.

Diese Liste ist nicht vollständig, soll aber ein Gefühl für die zu erwartenden Technik-Veränderungen geben. Unter Berücksichtigung dieser Entwicklung werden die oben genannten Funktionen mit Bedeutungsfaktoren von 1 bis 5 bewertet.

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Terminalkommunikation 5

File-Transfer 2

Netzwerkweite File-Systeme 5

Dokumenten-Austausch 3

PC-Netze 5

Electronic Mail 2

Austausch von Handelsinfo 5

Telefax 3

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Für jeden der genannten Funktionsbereiche soll nun der OSI-Stand der Technik und das Leistungsvermögen bewertet werden.

Für die Terminalkommunikation bieten die Virtual Terminal Services einen vollständigen Funktionsumfang und entsprechen bei vollständiger Implementierung weitestgehend dem Bedarf. Auf absehbare Zeit ist keine Implementierung verfügbar. Der OSI-File-Transfer FTAM erfüllt in seiner vollständigen Form die bestehenden Anforderungen an den reinen File-Transfer. Zur Zeit ist keine vollständige lmplementierung verfügbar (eventuell CoCoNet). Der bisher verfügbare Funktionsumfang ist vollständig unbefriedigend.

Für netzwerkweite File-Systeme in dem oben beschriebenen Sinne bietet OSI hier nichts. Im Rahmen des Dokumentenaustauschs zeichnet sich mit ODIF von OSI eine sehr gute Lösung ab. Diese ist in Teilansätzen vorhanden, befindet sich aber noch im Teststadium.

Für PC-Netze bietet OSI gar nichts. Bei Electronic steht mit X.400/MHS ein weit akzeptierter Dienst zur Verfügung. Das Produktangebot leidet unter nicht vollständigen Implementierungen, der Produktzustand hat den Charakter von Prototypen.

Zum Austausch von Handelsinformationen bietet OSI Edifact einen für alle Branchen nutzbaren internationalen Standard. Die CCITT-Norm für Telefax schließlich ist weltweit bindlich. Dazu kann es keine Alternativen geben. Es stellt sich nur die Frage, ob man CCITT-Code für Netze übernehmen muß oder ob man im Netz eine andere Codierung benutzt.

OSI greift nur teilweise

OSI deckt von den genannten Anforderungen nur einen Teil ab. Akzeptiert man die aufgestellte Bewertung, so fehlen in OSI ganz wichtige Funktionen. Dazu zählen PC-Netze, Netzwerkweite-File-Systeme und Benutzeroberflächen mit Grafik und Fenstern.

Bedingt durch die langsame OSI-Entwicklung haben sich Alternativen entwickelt, die inzwischen den Charakter von De-facto-Standards erlangt haben. Zu diesen Alternativen zählen ins besondere:

- TCP/IP mit den ARPA-Diensten für den Filetransfer (FTP und die Terminalkommunikation (Telnet). Hierbei ist Telnet allgemein akzeptiert, die FTP Funktionalität ist ein reines Übergangstool, das nicht ernsthaft für längere Zeit in Betracht gezogen werden kann, solange es keine Synchronisation im Schreibzugriff bietet.

- Network-File-System (NFS). Das von SUN entwickelte und inzwischen auf Lizenzbasis offengelegte NFS ist zum weltweit akzeptierten Standard für netzwerkweite einheitliche Filesysteme geworden. Es gibt kaum noch einen Rechner und kaum ein Betriebssystem

- X-Windows bietet eine heute allgemein akzeptierte Fensteroberfläche in Netzen.

- LU6.2 als Basis für Transaktionslösungen. Bisher wenig genutzt, aber mit starker Zukunftsbedeutung.

- Remote-Procedure-Call als Basis von Transaktionssystemen mit Servern (Bestandteil von NFS, Novell, Vines, LAN Manager).

- Novell Advanced Netware, Banyan Vines und 3C0M/3 + LAN Manager für PC-Netze.

Diese Aufzählung ist nicht vollständig; sie würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Aber es wird deutlich, daß es eine Reihe von Produkten und Techniken gibt, die weit über OSI hinausgehen. Und: Diese entsprechen dem aktuellen Bedarf und treffen ihn zum Teil besser als OSI.

Unter Bewertung der anfangs genannten Ziel-Funktionalitäten zeichnen sich damit folgende Gewinner und Verlierer ab:

Terminal

Kommunikation Telnet

File-Transfer FTAM

Netzwerkweite

File-Systeme NFS

Dokumentenaustausch ODA/ODIF

PC-Netze ?

Elektronic Mail X.400/MHS

Austausch von

Handelsinfo Edifact

Telefax Telefax Gruppe 4

Benutzer-Oberfläche X-Windows

Transaktionssysteme LU6.2., Remote Procedure Call

Es gibt keine eindeutige Kommunikationszukunft. Jeder Anwender muß für sich den optimalen Lösungsmix erarbeiten. Viele der genannten Produkte sind mit Erwartungswerten versehen, allerdings sind einige der Erwartungswerte sehr hoch. Ein denkbarer Weg in der strukturierten Lösungsfindung ist die Aufteilung der bestehenden Kommunikationsaufgaben in:

- Aufbau eines Kabelsystems

- Aufbau des Transport-Systems

- Auswahl der Anwendungsprotokolle und Dienste.

Die bestehende Normungssituation gestattet den investitionssicheren Aufbau eines weitestgehend netzwerkunabhängigen Transport-Systems. Allerdings muß der Planer über erhebliches Know-how und über gute Kenntnis der Normungssituation verfügen. Es gibt eine Reihe von Technologieunsicherheiten vor allem im Bereich des Einsatzes von Twisted-Pair-Kabeln. Der Aufbau des Transport-Systems beinhaltet die Entscheidung für die Netzwerk-Basistechnologie: Ethernet, Token Ring oder Token Bus. Zukünftig eventuell FDDI. Hier haben sich alle genormten Verfahren durchgesetzt und werden in Koexistenz eingesetzt werden müssen. Gemeinsam ist allen Entwicklungen die Nutzung der ISO-Transport-Class.

Die Auswahl der Anwendungsprotokolle und Dienste erfordert die Erarbeitung eines Migrationswegs hin zu dem Funktions- und Dienste-Baukasten, den ein Unternehmen als seine Zielsituation sieht. Hier herrschen genau die beschriebenen Unsicherheiten. Und: Hier liegt auch die Technologieunsicherheit von OSI.

OSI ist nicht tot. OSI ist ein Teil der Kommunikationszukunft. Aber: Wesentliche Teile müssen ergänzt werden. Hilfreich ist für den Anwender ein strukturiertes Vorgehen und die konsequente Nutzung investitionssicherer Techniken im Bereich des Kabelsystems und der Transportsysteme. *