Der Software-Industrie droht eine Flut von Copyright-Prozessen

Oberfläche von Lotus 1-2-3 ist urheberrechtlich geschützt

27.07.1990

MÜNCHEN (CW) - Ein Copyright-Urteil entzweit Amerikas Softwareindustrie: Nach dreijährigem Hickhack zwischen Lotus (1-2-3) und Paperback Software (VP-Planner) hat ein US-Richter die Bedieneroberfläche des Lotus-Kalkulationsprogramms für urheberrechtich geschützt erklärt. Beobachter befürchten jetzt eine Prozeßwelle. Lotus selbst hat bereits Klagen gegen Borland und SCO eingereicht.

Das Urteil von US-Bundesrichter Robert E. Keeton bezieht sich allein auf die Bedieneroberfläche. Die nämlich, erklärte Keeton, sei "das charakteristischste Merkmal von 1-2-3 und der Aspekt, der das Programm so populär gemacht hat. Daß die Beklagten sich so viel Mühe gegeben haben, dieses Element zu kopieren, ist ein Beweis für seine essentielle Bedeutung."

Die Tatsache, daß die interne Struktur der beiden Programme völlig unterschiedlich ist, war für die Entscheidung damit irrelevant. Am 12. November will der Richter in einer Anhörung ermitteln, welche Schadensersatz-Ansprüche Lotus gegen Paperback geltend machen kann.

"Diese Entscheidung ist ein Sieg für die gesamte Software-Industrie", freute sich Lotus-Hausjurist Tom Lemberg. "Es ist eine gute Nachricht für Entwickler, die ohne Copyright-Schutz keine Möglichkeit hätten, ihre Schöpfungen zu vermarkten, und für Kunden, die auf Neuentwicklungen angewiesen sind, um ihre Arbeit effizienter zu machen."

Die Niederlage der relativ unbedeutenden Software-Firma des PC-Veteranen Adam Osborne - er schied im Juni aus der Unternehmensleitung aus - könnte nach Einschätzung von Marktbeobachtern eine Prozeßlawine auslösen. Dan Bricklin, Koautor von 1-2-3-Vorbild Visicalc, rechnet mit einer "unglaublichen Zahl von Klagen", nicht nur im PC-Bereich, sondern in der gesamten Computerindustrie - in seinen Augen eine Geldverschwendung, die nur die Entwicklungskosten in die Höhe treibt.

Lotus klagt gegen SCO und Borland

Bereits drei Tage nach dem Bostoner Spruch erhob Lotus Klage gegen SCO und Borland. Borlands Kalkulationsprogramme Quattro beziehungsweise Quattro Pro können optional mit 1-2-3-kompatiblen Befehlen bedient werden. Weil sie bei geringeren Hardware-Anforderungen und einem um zirka 20 Prozent geringeren Preis mehr Leistung als die entsprechenden 1-2-3-Varianten bieten, hatte der Spreadsheet-Marktführer in letzter Zeit kräftig Marktanteile eingebüßt. Die Lotus-Klage wird deshalb allgemein als Versuch gewertet, sich einen lästigen Konkurrenten vom Hals zu schaffen.

Obwohl niemand mit einem Ende der Quattro-Familie rechnet - im Notfall muß nur die inkriminierte Option entfernt werden - , fiel der Kurs der Borland-Aktien doch um fast 20 Prozent. Allein die unsichere Zukunft, befürchtet Jeffrey Tarter, Herausgeber des Branchendienstes "Softletter", könnte Quattro erhebliche Probleme bei Großkunden bereiten. Adam Osborne sprach in diesem Zusammenhang erbittert von "Marketing durch Verunsicherung", mit dem sich kleinere Firmen ohne viel Mühe ruinieren ließen.

Supercalc 5 als nächstes Opfer

Die Santa Cruz Operation (SCO), deren SCO-Professional für Unix gemeinhin als 1-2-3-Aufguß gilt, zeigte sich von der Klage überrascht, weil sie, wie eine Sprecherin erklärte, seit langem mit Lotus zusammenarbeite und kürzlich dabei geholfen habe, 1-2-3/Unix in den Markt zu bringen.

Als nächstes Opfer der Lotus-Anwälte haben Beobachter bereits Computer Associates' Supercalc 5 ausgemacht. Hier allerdings dürften sie sich etwas schwerer tun, denn es wird ihnen, wie ein Analyst bemerkte, "kaum gelingen, ein Copyright für den Schrägstrich zu bekommen". Damit wird bei Supercalc wie bei 1-2-3 in den Kommando-Modus des Programms umgeschaltet; abgesehen davon benutzt das CA-Produkt eigene Kommandos und Menüs.

Manche vermuten, daß Lotus sich mit seinem Sieg selbst am meisten geschadet hat: Dataquest-Spezialist Marshall Moseley etwa glaubt, "daß Lotus zwar eine Schlacht gewonnen, wahrscheinlich aber den Krieg (um seine Stellung als Standard-Oberfläche) verloren hat".

Demonstration vor dem Lotus-Hauptquartier

Schon im nächsten Jahr, erwartet Paul Zagaeski von der Yankee Group, werde die Bedeutung dieser Oberfläche schwinden. Während sich die Entwickler bislang an 1-2-3 anlehnten, um den Benutzern neuer Produkte eine gewisse Vertrautheit und Kompatibilität zu bieten, orientierten sie sich jetzt zunehmend an grafischen Oberflächen wie Microsoft-Windows oder IBMs Common User Access (CUA) für SAA. Als Folge der Bostoner Entscheidung und der neuerlichen Klagen wird erwartet, daß Entwickler wie Kunden jetzt noch schneller auf die neuen und risikolosen Oberflächen umsteigen.

Besorgt, daß das Urteil der gesamten Software-Industrie schaden könnte, hat die "League for Programming Freedom" für den 2. August zu einer Demonstration vor dem Lotus-Hauptquartier aufgerufen. Zu den "Freiheitskämpfern" zählen der Nestor der amerikanischen KI-Forschung, Marvin Minsky, der Lisp-Entwickler John McCarthy und Robert Boyer, Miterfinder eines genialen Suchalgorithmus. "Das ist, als würde man ein Copyright für die Tastenanordnung auf der Schreibmaschine vergeben", kommentierte Liga-Gründer Richard Stallman das Paperback-Urteil.