Noch ist die Zeit nicht reif fuer einen Generationswechsel (Teil 1) Die Computer der Post-PC-Aera sind in Labors schon Realitaet Von Alan Kay*

29.10.1993

Damit die elektronische Datenverarbeitung in unserer Gesellschaft den laengst vorhergesagten Durchbruch wirklich schafft, muss die Technologie nochmals einen grossen qualitativen Sprung machen: vom persoenlichen zum intimen Computer, einem unscheinbaren, aber leistungsfaehigen elektronischen Begleiter, der uns staendig drahtlos mit dem Rest der Welt verbindet.

Computerhersteller und ihre Marketing-Leute reden jetzt von Multimedia, wie wenn das das Neuste vom Neuen waere. Dabei ist die Idee schon ueber 40 Jahre alt. Ende der vierziger Jahre ueberlegten sich naemlich kluge Koepfe bereits, was der Computer fuer Auswirkungen haben koennte. Sehr bald realisierten sie, dass man theoretisch alle denkbaren Arten, mit Information umzugehen, auf einem Computer simulieren kann. Diese Gedanken in die Praxis umzusetzen, braucht natuerlich seine Zeit. Heute sind wir - ueber einige Um- und Irrwege - wenigstens in die Naehe dieses Ziels gekommen.

Technologische Fortschritte gibt es tagtaeglich, und fuer Aussenstehende mag das sogar eine Entwicklung sein, die sich im Eilzugstempo vollzieht. Dabei koennte es noch viel schneller gehen, wenn nicht ueberall Verhinderer am Werk waeren. Bei IBM zum Beispiel kamen in den letzten 30 Jahren im Schnitt vier von fuenf funktionierenden Prototypen gar nie auf den Markt.

Verschiedene Perspektiven

Das Paradebeispiel ist und bleibt fuer mich aber der Kleincomputer, den wir ab 1972 am Xerox Palo Alto Research Center (Xerox Parc) entwickelt haben. Er war durchaus vergleichbar mit dem Macintosh- II-Rechner, den Apple 14 Jahre spaeter vorstellte: Unsere Maschine konnte mehrere Millionen Instruktionen pro Sekunde verarbeiten und hatte einen schoenen, grossen Bildschirm, der Programm- und Dateisymbole auf sich ueberlappenden Fenstern zeigte - genau wie heute ein Macintosh oder ein PC unter Windows.

Mit dazu gehoerten die damals neuesten Erfindungen aus den Elektroniklabors: ein lokales Netzwerk namens Ethernet, das den Rechner mit seinesgleichen verband, sowie ein Laserprinter, der - man hoere und staune - praeziser und achtmal schneller druckte als die heute marktgaengigen Produkte. Wir mussten uns naemlich den Drucker aus einem Xerox-Laserkopierer zusammenbasteln, und ein leistungsschwaecherer stand uns damals nicht zur Verfuegung.

1975/76 hatten wir im Xerox Parc rund 700 solcher Rechner gebaut und 100 davon in einem Time-sharing-System zusammengeschlossen. Und was passierte? Die Xerox-Firmenleitung entschied zu unserer grossen Verwunderung, keine solchen Systeme auf den Markt zu bringen!

Natuerlich war die Frustration unter uns Entwicklern riesengross, und nicht wenige verliessen deswegen den Xerox Parc - einige, um die guten Ideen beim 1976 neugegruendeten Unternehmen Apple Computer wiederaufleben zu lassen. Mit welchem Erfolg, brauche ich wohl nicht speziell herauszustreichen...

Als ich ein paar Jahre darauf den Xerox-Manager traf, der fuer den fatalen Entscheid gegen unser Projekt verantwortlich war, stellte ich zu meiner grossen Ueberraschung fest, dass dieser Mann nicht etwa dumm oder naiv, sondern sogar recht intelligent war. Das Problem war also noch viel schlimmer, als ich mir vorgestellt hatte.

Dumme Leute kann man naemlich wenigstens erziehen oder ausbilden, aber dieser Mann lebte schlicht in einer anderen Welt - und da war jeder Versuch von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Was sich damals bei Xerox abgespielt hatte, ist vergleichbar mit dem Konflikt zwischen den Anhaengern von Galileo Galilei, der die Sonne im Mittelpunkt sah, und den Vertretern des ptolemaeischen Weltbildes, das die Erde ins Zentrum stellt: Ein Paradigmenkonflikt, bei dem beide Lager zwar das gleiche Vokabular benutzen (zum Beispiel das Wort Umlaufbahn), aber damit voellig unterschiedliche Dinge meinen. Mit anderen Worten: Die Xerox- Manager hatten keine Ahnung, was unsere Maschine eigentlich war, und so lehnten sie das Ding ab. Als lachender Dritter trat Steve Jobs auf den Plan, der die schoenen Ideen uebernahm und zehn Jahre spaeter in seinen Macintosh implemen- tierte.

Wir nutzen Computer gar nicht richtig aus

Aus solchen Geschichten - es gaebe noch andere Beispiele - kann man eines lernen: Selbst gut gelungene technische Innovationen sind nicht ohne weiteres als solche erkennbar, wenn sie nicht in die gaengigen Denkschemata passen. Und so geschehen technologische Veraenderungen - falls ueberhaupt - eben meist nur in kleinen Schritten. Mit dem Resultat, dass die Anwender ebenfalls keine grossen Spruenge machen: Sie setzen zwar die neuen Hilfsmittel ein, benutzen aber immer noch die herkoemmlichen Arbeitsprinzipien.

So gesehen nutzen wir die Moeglichkeiten, die im Konzept Computer stecken, heute gar nicht richtig aus: Wir imitieren mit ihm vor allem Arbeiten, die wir jahrhundertelang auf Papier erledigt haben. Auch das ist nicht neu: Als 1895 die Filmkamera erfunden wurde, wies man ihr die Funktion eines Zuschauers zu, der an bevorzugter Stelle im Theaterpublikum sitzt. Es dauerte volle 20 Jahre, bis ein Mann namens G.W. Griffith auf die Idee kam, man koennte ja auch mal die Kamera bewegen. Kamerafahrten waren Bestandteil einer neuen Sprache, die Griffith entwickelte, der Sprache des Films.

Weshalb dauern solche Entwicklungen so lange? Nun, die Leute halten sich eben gerne ans Gewohnte und Bewaehrte. Statt selber Neues auszuprobieren, lassen sie lieber andere die Kohlen aus dem Feuer holen und schauen dabei zu. "Wenn es gutgeht, koennen wir ja immer noch einsteigen", glauben sie. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass sie das aeusserst selten tun. Bis es naemlich soweit ist, sind sie auf der alten Schiene so etabliert und haben so viel Geld investiert, dass sich der Wechsel haeufig nicht mehr lohnt.

Was heisst das fuer die Entwickler? Sie muessen in erster Linie die wirkliche Funktion des Mediums (zum Beispiel des Computers) herausfinden und sich dann ueberlegen, wie sie diese den Menschen anpassen koennten, die das Medium tatsaechlich benuetzen werden. Denn Funktionalitaet allein nuetzt nur dann etwas, wenn Menschen das Ding auch benutzen koennen.

Fragt man die Leute, was sie sich an Zukunftstechnik wuenschen, so hoert man haeufig: "Was wir heute schon haben, plus vielleicht 10 Prozent mehr von diesem und jenem: mehr Speicher, mehr Geschwindigkeit, und das Ganze viel billiger." Und die Hersteller in Europa und den USA versuchen, das zu liefern.

Nicht so die Japaner: Sie machen keine Meinungsumfragen, sondern ueberlegen sich selber, was die Leute brauchen koennten. Dann bauen sie ein Dutzend Variationen davon in kleinen Stueckzahlen (5000 bis 10 000 Exemplare), werfen diese auf den Markt und beobachten, was geschieht. Eigentlich logisch: Kundenreaktionen auf reale Produkte sind bestimmt zuverlaessiger als Umfrageergebnisse ueber Dinge, die noch gar nicht existieren.

Fazit: Die meisten Zukunftsvorhersagen auf dem Technologiesektor sind sehr unsicher - ausgenommen solche fuer unspektakulaere Dinge wie Speicher-Chips. All die interessanten Entwicklungen auf Gebieten wie Verkehrsmittel oder Bueroautomation hat niemand richtig prognostiziert - oder zumindest nicht rechtzeitig. In den dreissiger Jahren zum Beispiel hat keine einzige Eisenbahngesellschaft auch nur einen Cent in Fluggesellschaften oder Flugzeughersteller investiert. Weshalb? Weil die Eisenbahnleute nicht einmal im Traum daran dachten, dass sie im gleichen Business taetig seien wie die Fluggesellschaften!

Kann man denn kuenftige Technologieentwicklungen ueberhaupt nicht vorhersehen? Doch - aber nicht, indem man sich staendig darum kuemmert, was die lieben Konkurrenten im Sinn haben. Der beste Weg, die Zukunft vorherzusagen, ist, sie selber zu erfinden. Wer eine technologische Vision hat, findet heute ohne weiteres Fachleute, um seine Ideen in die Realitaet umzusetzen.

Es gibt aber auch andere Wege. Einer besteht darin, Werkzeuge bereitzustellen, mit denen Menschen gut umgehen und ihre Moeglichkeiten - physische und geistige - erweitern koennen. Ein gutes Beispiel fuer ein geistiges Werkzeug ist die Mathematik: Damit lassen sich abstrakte Dinge in reale umsetzen. Werkzeuge sind Dinge, die wir selber manipulieren.

Eine weitere Moeglichkeit, die Zukunft aktiv mitzubestimmen, bieten sogenannte Agenten. Agenten koennen Personen oder sonstige Kraefte sein, die fuer uns taetig sind, waehrend wir selber etwas ganz anderes tun. Aber das Prinzip Agent umfasst noch mehr: Agenten koennen ihrerseits andere Agenten beschaeftigen. Man kann sie also klonen - im Gegensatz zu physischen Werkzeugen. Agenten sind im Prinzip wie Information: Man kann sie weitergeben, ohne sie selber zu verlieren. Auf diese Weise lassen sich Wissen, Ideen und Ziele beliebig verbreiten. Agenten manipulieren wir nicht, wir managen sie. Als in den vierziger Jahren die ersten Computer aufkamen, waren das weder Werkzeuge noch Agenten, sondern einfach riesengrosse Dinger jenseits normaler menschlicher Massstaebe. Normalsterbliche hatten keinen Zugang zu solchen Tempeln der Technik - dafuer brauchte es spezielle Hohepriester der DV.

Mit den Jahren verlor diese Religion aber ihren Reiz, und die Anwender verlangten kleinere Computer. In den Entwicklungslabors fuehrte das in den sechziger Jahren in rascher Folge zu einer ganzen Reihe bemerkenswerter neuer Technologien wie der Computermaus - 1964 vom Amerikaner Doug Englebart erfunden - oder der Windows-Technik. Weshalb kamen diese Erfindungen, die heute jeder PC-Anwender kennt, erst 20 Jahre spaeter auf den Markt? Weil die damaligen Visionaere sich in erster Linie fuer das Medium interessierten und hoechstens am Rande fuer das Marktpotential.

Woraus sich ein weiteres Rezept fuer Technologievorhersagen ableiten laesst: Wer die Zukunft schon nicht selber erfinden will, soll wenigstens in den weltweit 30 oder 40 Forschungslabors anklopfen und schauen, mit welchen Problemen sich die Leute dort auseinandersetzen. Weil es in der Regel zehn bis 20 Jahre dauert, bis aus einer Forscheridee ein Produkt wird, das man kaufen kann, steht auch fest, dass jedes Stueckchen Technologie, das in den naechsten zehn Jahren auf den Markt kommen wird, bereits heute in irgendeiner Form in irgendeinem Labor vorliegt.

Drei Arten des Umgangs mit Computern

Grundsaetzlich gibt es drei Arten, mit Computern umzugehen. Eine davon ist, die Sache in grossem Stil zu betreiben und zu institutionalisieren, eine andere, den Individuen persoenliche Computer zur Verfuegung zu stellen. Bei der dritten Art schliesslich ist jedermann jederzeit und ueberall mit einem winzigen, "intimen" Rechner ausgeruestet.

Typisch fuer die erste Art von Computerei sind weltweite Flugreservations-Systeme. Diese haben mehrere tausend Anwender, die man fuer ihre Aufgaben eigens trainiert hat. Ohne diese Schulung koennten sie das System mit seinen 300 bis 400 Funktionen gar nicht benutzen - sie wuerden hilflos vor dem Bildschirm sitzen.

PC-Anwender kann man hingegen ohne spezielle Schulung werden: Personal Computer bieten eine Umgebung an, die zumindest teilweise selbsterklaerend ist. Es waere auch schlicht unmoeglich, Millionen von PC-Besitzern bis ins letzte Detail zu zeigen, was sie mit dem Geraet alles machen koennen. Ganz abgesehen davon waeren die Schulungskosten auch nicht tragbar - sie wuerden sehr rasch die Anschaffungskosten der gesamten Computeranlage uebersteigen. PCs sind fuer den Benutzer leistungsfaehige Werkzeuge. Die intimen Computer werden sogar Milliarden von Anwendern haben. Damit das ueberhaupt funktioniert, muessen sich die Rechner dem Menschen anpassen und nicht umgekehrt wie bisher. Und sie muessen ueberdies in einem flaechendeckenden, drahtlosen Netz untereinander verbunden sein.

(Wird fortgesetzt)