Tendenz zur Einbindung von Middleware

Neue Programmier-Tools zielen auf Enterprise-Einsatz

07.08.1998

Zwei Aspekte fallen bei der Betrachtung des neuen Tool-Angebotes auf: Der Windows-Desktop hat seine Bedeutung als Entwicklungsplattform weitgehend verloren, und der bloße Verkauf von Programmierwerkzeugen ist nicht mehr lukrativ. Die Anbieter streben deshalb nach höheren Weihen, ihr Ehrgeiz gilt der Entwicklung von unternehmensweiten Anwendungen. Ihr Ziel ist es dabei, nicht nur Tools für die Programmierung zu verkaufen, sondern gleich die Infrastruktur für die Ausführung der Anwendungen mitzuliefern.

Für das schwindende Interesse am PC als Anwendungsplattform ist der Vormarsch mehrstufiger Applikationsarchitekturen verantwortlich. Der Client-Anteil der Software reduziert sich auf die Präsentationslogik inklusive der Behandlung von Benutzerereignissen. In vielen Fällen reicht dafür schon das universelle Front-end Web-Browser aus, eventuell erweitert durch Applets. Die Anwendungslogik läuft bei diesem Modell auf Applikations-Servern ab. Freilich werden Entwickler in der Mehrzahl nicht die nötige Infrastruktur selbst schreiben, etwa die Protokolle für die Kommunikation zwischen den Programmschichten oder Container zur Aufnahme von Anwendungsobjekten. Vielmehr empfiehlt sich dafür die Nutzung standardbasierter Middleware, die etablierte Tool-Hersteller mittlerweile im Portfolio haben.

Neben Errungenschaften der Client-Server-Ära wie visuelle Programmierung, Objektorientierung und wiederverwendbare Komponenten gehören daher die enge Verzahnung mit Middleware, die Fähigkeit zur Einbeziehung von Legacy-Programmen und die Unterstützung großer Projekte über ihre gesamte Entwicklungsdauer hinweg zu den Merkmalen der Enterprise-Tools.

Abhängig von ihrem Produktportfolio und ihrer bisherigen Ausrichtung reagieren Anbieter unterschiedlich auf die neuen Rahmenbedingungen. Dies betrifft auch den Stellenwert des Tool-Geschäfts innerhalb der Firmenstrategie.

Als traditioneller Desktop-Anbieter versucht Microsoft vehement, mit Windows NT auch den Sprung in den Server-Markt zu schaffen. Die durch das Web beschleunigte Umstellung auf mehrstufige Architekturen setzte die Gates-Company nicht nur bei den Betriebssystemen unter Zugzwang, sondern verlangte auch die Ausdehnung des hauseigenen Komponentenmodells COM über den Client-PC hinaus.

Microsoft propagiert nun mehrstufige Anwendungen

Dieses "Distributed Component Object Model" (DCOM) gehörte ebenso zu den Leistungen der letzten zwei Jahre wie die darauf basierende Middleware "Transaction Server" (MTS) und "Message Queue Server" (MS MQ). Microsofts Fahrplan sieht vor, die Tools für die Zusammenarbeit mit dieser verteilten Windows/COM-Infrastruktur zu befähigen. So besteht beispielsweise eine wesentliche Neuerung von "Visual Basic 6.0" in der verbesserten Unterstützung für das Midletier-Kernstück MTS. Daneben ist Microsoft bemüht, die traditionell Desktop-lastige Entwicklergemeinde durch diverse Programme auf die neue Architektur einzuschwören. Nur wenn diese den Schwenk zu mehrstufigen Windows-Applikationen schafft, kann Microsoft die eigene Technologie erfolgreich für den unternehmensweiten Einsatz positionieren.

Auch wenn für Microsoft der Verkauf von Programmierwerkzeugen einträglich ist, so folgt er doch einem übergeordneten Imperativ: die eigene Plattform für Entwickler attraktiv machen. Dazu gehört für den Windows-Anbieter auch das Bundling von Programmiersprachen, Middleware und Datenbanken zu einem wuchtigen Paket namens "Visual Studio". Dieses kommt nun in seiner zweiten Ausführung auf den Markt, trägt aber bereits die Versionsnummer 6.0. Einen Überblick über die Bestandteile der Tool-Sammlung und die Neuerungen der aktuellen Ausgabe gibt es unter http://www.microsoft.com/ germany/msdn/vs6beurteilung/ neu.htm.

Borland will Desktop-Nische verlassen

Zu den Firmen mit Desktop-Tradition und einer Neuausrichtung auf Enterprise-Computing gehört auch Inprise (ehemals Borland). Der kalifornische Hersteller arbeitet daran, die über den Zukauf von Visigenic erworbene Middleware mit den hauseigenen Tools zu integrieren. Im Zuge der Umbenennung will Inprise vom bloßen Verkauf abgepackter Software wegkommen und die Einnahmen aus dem Lizenzgeschäft mit solchen aus Consulting-Diensten aufstocken. Letzteres soll umgekehrt der Verbreitung der eigenen Produkte auf die Sprünge helfen. Für ein Bundling ê la Microsoft sieht der Hersteller keine Nachfrage. "Wenn unsere Kunden nach einem Inprise-Studio verlangen, werden wir ein solches anbieten", meint Richard Carney von der deutschen Niederlassung des Herstellers. Er weist aber darauf hin, daß die wenigsten Programmierer mit mehreren Sprachen gleichzeitig entwickeln - und nur unter dieser Bedingung bringen die großen Pakete einen Vorteil, da sie lizenzrechtlich auf die Nutzung durch einen Anwender eingeschränkt sind.

Außerdem verfolgt Inprise derzeit eine Update-Politik, bei der jedes Quartal eine neue Produktversion auf den Markt kommt. Vor kurzem erschien das Java-Werkzeug "Jbuilder" in der Variante 2.0, "Delphi" folgt in Kürze mit der Ausführung 4.0, und dann trifft es "C++ Builder". Da für Inprise Tools zum Kerngeschäft gehören, kann der Hersteller nicht die Freigabe einzelner Produkte zugunsten eines einheitlichen Paket-Updates zurückhalten. Freilich schnürt auch Inprise Pakete und ergänzt die einzelnen Programmiersprachen um eine Reihe von Zusatzprodukten. In der Enterprise-Version von Delphi, Jbuilder oder C++-Builder findet sich neben der Entwicklerlizenz der Datenbank "Interbase" unter anderem der Object Request Broker "Visibroker", eine Reihe von Datenbanktreibern oder die Middleware "Midas" (siehe http://www.inprise.com/products.html). Als zentrale Komponente für objektbasierte, verteilte Anwendungen befindet sich der hauseigene Application Server erst in Vorbereitung und soll im vierten Quartal auf den Markt kommen.

Sybase positioniert sich als Lösungsanbieter

Als Hersteller, der ebenfalls mit Client-Server groß wurde, ist Sybase dabei, sich für die unternehmensweite Anwendungsentwicklung zu positionieren. Seit letztem Jahr vertreibt der Datenbankanbieter seine Tools nach dem Vorbild von Microsoft im Paket. Für "Power Studio" gilt die gleiche lizenzrechtliche Beschränkung wie für Visual Studio. Für Oktober ist die Version 1.5 angekündigt, die sich durch engere Integration der Programmiersprachen und damit durch einfachere Bedienung auszeichnen soll. Zum Lieferumfang des Bundles http://www.sybase. com/products/powerstudio/ ps_index.html gehört neben den Programmiersprachen C++, Java und der 4GL "Powerbuilder" der TP-Monitor "Jaguar CTS", der Anwendungs-Server "Power Site" sowie das Modellierungswerkzeug "Power Designer". Sybase definiert sich dabei als Lösungsanbieter, versteht darunter aber weniger Consulting und Projektgeschäft, sondern in erster Linie die Fähigkeit, alle Bestandteile für übergreifende Anwendungen liefern zu können.

Die IBM führt bei der Legacy-Integration

Bestimmt kein Neuling im Enterprise-Geschäft ist IBM, die ihr Tool-Angebot um die "Visual-Age"-Familie gruppiert. Sie wird im vierten Quartal um die Version 2.0 des Java-Werkzeugs aktualisiert. Zur Produktstrategie von Big Blue gehört die durchgängige Unterstützung mehrerer Plattformen. Zusammen mit Sybase unterscheidet sich die IBM damit von Inprise, vor allem aber von Microsoft. Die Tools der Gates-Company eignen sich nur für die hauseigenen Betriebssysteme und COM. In puncto Komponentenmodelle setzt die IBM klare Akzente für Corba und Javabeans, die Unterstützung für das Microsoft-Modell spielt nur eine untergeordnete Rolle. Auch bei der Gerstner-Company hält man nichts von einem alles umfassenden Paket, treibt aber auch so die Integration der Programmiersprachen durch gemeinsame Entwicklungsumgebungen voran. Ähnlich wie Inprise bietet auch IBM kleinere Bundles an, beispielsweise "Visual Age for Java, E-Business Edition". Dieses enthält neben dem Java-Programmierwerkzeug und Web-Tools wie "Net Object Fusion" auch eine Entwicklerversion von "Lotus Domino". Die IBM benutzt das Tool-Geschäft ebenfalls zur Aufwertung der eigenen Plattformen, darunter AIX, OS/390 und OS/2. Hinzu kommen spezifische Fähigkeiten für die Programmierung von CICS oder Lotus Domino. Der Fokus auf das Plattformgeschäft zeigt sich auch darin, daß die IBM "Visual Age for Java" zur Middle- ware für verteilte Objekte "Component Broker" packen will - bei typischen Tool-Anbietern gehören umgekehrt Object Request Broker zum Lieferumfang von Programmiersprachen.

Abhängig vom Hintergrund eines Herstellers weisen die einzelnen Anbieter unterschiedliche Lücken oder Inkonsistenzen im Kriterienkatalog für die Enterprise-Entwicklung auf. Mit schierer Produktmasse glänzen die beiden Großen, IBM und Microsoft. Sie können fast jede Kategorie abdecken - auch wenn Big Blue in puncto objektorientierte Applikations-Server Schwächen aufweist und Microsoft bei der Integration von Legacy-Anwendungen erst am Anfang steht. Es überrascht andererseits wenig, daß IBM bei der Einbeziehung von bestehenden Anwendungen mit den "Enterprise Access Builders" das weitestgehende Angebot vorlegen kann. Inprise und Sybase mangelt es noch an einem Repository für die Verwaltung komplexer Projekte.

Kriterien für Enterprise-tools

Berücksichtigung für mehrere verteilte Anwendungsmodelle

Dazu zählt die Fähigkeit, Anwendungen auf Basis zwei- und dreistufiger Architekturen oder des Web-Modells erstellen zu können. Die Unterstützung betrifft Clients, Applikations-Server, TP-Monitore und Datenbanken. Die Werkzeuge müssen auf einfache Weise die Trennung von Präsentations-, Geschäfts- und Datenzugriffslogik erlauben.

Integration von Altanwendungen

Der Stellenwert von Legacy-Anwendungen im Unternehmen erfordert, daß Werkzeuge in der Enterprise-Kategorie mit solchen Altbeständen umgehen und sie in Neuentwicklungen einbinden können. Die Funktionalität bestehenden Codes kann auf diese erweitert werden, ohne sie neu implementieren zu müssen.

Programmierunterstützung für die gesamte Lebensdauer der Anwendung

Komplexe und unternehmenskritische Anwendungen erfordern Support über ihre gesamte Lebensdauer. Nötig ist dafür eine enge Anbindung an Werkzeuge zur Spezifikation (Daten- und Anwendungsmodellierung), Qualitätssicherung (Debugger und Test-Tools) und Teamfunktionen (Versions-Management).