OS/2-Trends/IBM strebt nach erweiterten Kundenkreisen

Neue OS/2-Varianten sollen vor allem Firmen ansprechen

31.05.1996

Die Werbeausgaben von Microsoft für Windows 95 entsprechen in etwa dem, was IBM mit OS/2 an Gesamtumsatz macht. So jedenfalls sah 1995 das ungefähre Verhältnis zwischen den beiden Betriebssystem-Rivalen aus. Doch IBM gibt sich immer noch hoffnungsvoll.

"Das vergangene Jahr war ein sehr erfolgreiches für die OS/2-Warp-Familie, das wir mit einem Rekordverkauf an OS/2-Versionen abgeschlossen haben", erklärt John Thomsen, IBM General Manager Personal Software Products. Der Mann, der die weltweite Verantwortung für das PC-Softwaregeschäft und die Entwicklung sowie Vermarktung von OS/2 trägt, meint weiterhin: "Wir sind alle gespannt, ob wir den Erfolg des letzten Jahres noch übertreffen können."

Seine Zielvorgabe für dieses Jahr sind fünf Millionen OS/2-Lizenzen. Da 1995 nach Angaben von IBM auch schon über fünf Millionen OS/2-Lizenzen verkauft wurden, scheint diese Vorgabe nicht gerade hochgesteckt. Andere Unternehmen würden dieses Ziel - die Stagnation der Verkaufszahlen - wohl eher als Mißerfolg deuten.

Um aber zumindest diese Vorgabe zu erreichen, unternimmt IBM einige Anstrengungen. OS/2 Server ist seit März dieses Jahres verfügbar und Merlin, welches das bisherige OS/2 und OS/2-Connect ablösen wird, soll im Herbst auf den Markt kommen. Offiziell hat IBM als Zielgruppe die kleinen und mittelständischen Unternehmen im Auge "und strebt dort die Marktführerschaft an", wie es in einer IBM-Pressemitteilung vom 29. Februar 1996 heißt.

Die Verantwortlichen bei IBM haben anscheinend inzwischen erkannt, daß man nicht bei allen Rechnertypen über Nacht zum Marktführer werden kann. Daher ist zunächst einmal Konzentration der Kräfte angesagt. Die Absage von OS/2 für die Power-Architektur hat sicher nicht zuletzt ihren Grund auch darin, daß IBM den größten Teil ihrer PC-Software für Intel-Maschinen verkauft. Hohe Leistung und symmetrisches Multiprocessoring (SMP) sind ja für eine CPU leichter und entsprechend schneller zu programmieren als für die schnellen Rechner mit mehreren Prozessoren.

Die Power-Absage macht insofern durchaus Sinn. Da OS/2 für den Power-PC auf der neuen Microkernel-Version aufsetzt, wäre die Basis für die verschiedenen OS/2-Versionen wahrscheinlich zu unterschiedlich. Schließlich wird Merlin nach Aussage von IBM-Experten auf dem bisherigen, für Intel-CPUs optimierten OS/2-Warp-Kernel basieren.

Um den Hintergrund bei IBM und damit deren Strategie zu verstehen, ist ein kurzer Ausflug in das Microkernel-Prinzip nützlich: Jedes Betriebssystem hat einen Kern, der hardware- und vor allem Prozessorspezifisch programmiert ist. Beim Microkernel-Betriebssystem überläßt man dem Kern nur noch wenige Grundfunktionen. Andere Funktionen, die im sogenannten Usermode laufen, greifen ihrerseits auf den Kernel zu.

Die Kunden nicht mit RAM-Bedarf abschrecken

Diese Auslagerung macht den Mikrokernel klein und übersichtlich. Übliche Größen liegen unter 500 KB - im Gegensatz zu den monolithischen Kernen mit über 1 MB. Da der Mikrokernel zudem häufig in den Cache-Speicher paßt, eignet sich dieses Prinzip grundsätzlich auch hervorragend für skalierbare Multiprozessor-Systeme.

Microsofts Windows NT ist ein Mikrokernel-Betriebssystem, an dem sich die Vor- und Nachteile erkennen lassen. NT ist für verschiedene Plattformen verfügbar, es unterstützt SMP und ist in weitem Rahmen skalierbar. Diese Skalierbarkeit reicht bei NT vom Einzelplatzrechner bis hin zum SMP-Server. NT ist aber auch ressourcenhungrig: Ein schneller Prozessor, eine leistungsfähige Platte plus mindestens 16 MB Hauptspeicher sind unabdingbar.

Unter anderem dieser hohe RAM-Bedarf ist im Moment noch eine Hürde, die IBM seinen Unternehmenskunden anscheinend nicht bei jedem Arbeitsplatz-PC zumuten möchte. Bisher jedenfalls sind nur wenige dieser Rechner mit entsprechend Speicher ausgerüstet. Schon die Tatsache, daß Windows 95 mindestens 8 MB braucht, um auch nur halbwegs sauber zu laufen, ließ etliche Klagen laut werden. Würde OS/2 jetzt eine Minimalanforderung von 16 MB stellen, wären die Umsatzchancen voraussichtlich erheblich geringer als mit einem Betriebssystem, das auch mit 4 bis 8 MB RAM auskommt.

Microkernel-Technik gehört die Zukunft

Weil aber die Microkernel-Architektur die eindeutig bessere ist, wird sich dieses Prinzip langfristig bei allen modernen Betriebssystemen durchsetzen. Es ist nur eine Frage der Zeit. Deshalb hieß es noch im Dezember letzten Jahres von offizieller IBM-Seite aus, Merlin werde auf dem Microkernel beruhen, doch gehen Experten mittlerweile davon aus, daß Merlin noch mit dem Intel-optimierten OS/2-Kernel kommt.

Merlin wird aber wohl die letzte Nicht-Microkernel-Version von OS/2 sein. Sicher, solange die Intel-optimierte Version noch aktuell ist, will man noch einmal alle Kräfte auf diese Plattform konzentrieren. Das bringt im Moment unter anderem den Vorteil, daß OS/2 auf Rechnern mit Standardausstattung läuft und sich außerdem auf relativ großen Servern einsetzen läßt. Da Microsoft für diese beiden Varianten Windows 95 und Windows NT, also im Kern sehr unterschiedliche Betriebssysteme, bemühen muß, kann IBM, eben weil NT nicht auf jedem kleinen PC läuft, in diesem Punkt gegen Microsoft stänkern - und tut dies kräftig.

Aber auch IBM verkauft verschiedene Betriebssystem-Versionen. Für Einzelplatzrechner sind das OS/2 Warp und OS/2 Connect, die im Herbst durch Merlin abgelöst werden sollen. Für größere Umgebungen gibt es OS/2 Server und OS/2 SMP, welches auf OS/2 Connect, also auch auf der Intel-optimierten Version, aufsetzt.

Vom Kleinunternehmen bis zum Mittelstand läßt sich mit diesen Systemen der Markt abdecken. Damit Unternehmen aus diesem Bereich auch die IBM-Produkte kaufen, hat Big Blue darauf geachtet, daß die Systeme relativ leicht zu installieren sind und nicht viel Verwaltungsaufwand kosten.

IBM spricht sogar davon, daß "die Installation und Konfiguration eines kompletten Server-Betriebssystems in wenigen Minuten" möglich sei. Was IBM hier unter "wenigen Minuten" versteht, widerspricht allerdings gängigen Zeitbegriffen.

OS/2 Server ist eine Kombination aus OS/2 WARP, Version 3, dem LAN Server 4.0, System-Management-Diensten, Backup-Programmen und Remote-Access-Services. Damit deckt es im Grunde alles ab, was ein normaler Server benötigt.

Der für Multiprozessor-Systeme optimierte SMP-Server soll einige Monate später als kostenloses Update zur Verfügung stehen. Ebenfalls noch innerhalb dieses Jahres soll der Directory- und Security-Server (DSS) als Zusatz zum Warp-Server für das Management komplexer Netzwerke kommen. Vor allem für größere Unternehmen gibt es darüber hinaus den Warp-Server Advanced, der Features wie das Hochleistungsdateisystem "386HPFS", Plattenspiegelung und laut IBM Unterstützung für "über 1000 Clients" biete.

Auf der Client-Seite werden die Produkte unter anderem alle Microsoft-Betriebssysteme unterstützen, auch wenn IBM auf der Seite der Endanwender natürlich am liebsten Merlin sähe. Im wesentlichen sind bei dieser neuen OS/2-Version Verbesserungen der Bereiche Installation, Bedienung und Benutzbarkeit (Usability), Netzfunktionalität, Konfiguration sowie Wartbarkeit und Servicefunktionalität angekündigt. Freilich, "auch der spaßige und kreative Teil der Computerarbeit wird nicht zu kurz kommen", so IBM.

Kein Betriebssystem läßt sich heute mehr an den Kunden bringen ohne die Möglichkeit der Anbindung an weltweite Netze. Bei manchen heißt dies Internet-Zeitalter IBM nennt diese "dritte Entwicklungsstufe", in der sich das Arbeiten mit dem Computer befinden soll, "Network Centric Computing".

OS/2 unterstützt das Arbeiten im Internet, gibt aber auch die Möglichkeit, sich vom Heim-PC ins Unternehmen einzuwählen. Sogar Java, das man wohl schon als den Internet-Programmierer-Standard bezeichnen kann, soll in der neuen OS/2-Version integriert sein.

Ein weiterer Pluspunkt ist die Spracherkennung, die in Merlin enthalten sein soll. Dabei geht es um zwei unterschiedliche Dinge. Das eine ist die Navigation innerhalb des Betriebssystems und seiner Programme, die mit allen Programmen funktionieren soll, die ein Menü besitzen. Zum anderen soll es möglich sein, ganze Dokumente zu diktieren. Doch wird beides wohl kaum auf jedem Rechner funktionieren. Ein leistungsfähiger (Pentium-) Prozessor und reichlich Arbeitsspeicher dürften dafür schon notwendig sein.

Da der Markt bisher bekanntlich nicht gerade mit OS/2-Software überschüttet ist, sollen die Kunden erst gar nicht in die Verlegenheit geraten, nach den grundlegenden Anwendungen suchen zu müssen. Deshalb werden einige Programme gleich mitgeliefert, darunter Adreßverwaltung und Textverarbeitung. Damit ist OS/2, anders als die MS-Konkurrenz schon mit einem Grundstock von Anwendungssoftware ausgestattet.

Dennoch, einen entscheidenden Haken wird Merlin aller Voraussicht nach haben: Neuere Windows-95-Programme werden darauf nicht laufen. Lee Reiswig, IBMs ehemaliger General Manager der Personal Software Products Division, erklärte dazu in einem 1995 geführten, bei IBM weiterhin unter http://www.austin.ibm.com/pspinfo/ lrstrat.html verfügbaren Interview bezüglich der OS/2-Strategie: "Ich glaube, es werden ein paar Jahre vergehen, bevor wir wirklich neue verlockende Windows-95-Applikationen sehen werden." Wenn sich da "the Blue Ninja", so Reiswigs Spitzname, mal nicht entschieden getäuscht hat.

Das eigentliche Ziel von Big Blue ist es natürlich, daß auf dem IBM-Betriebssystem auch Software des Konzerns - inklusive Lotus - zum Einsatz kommt. Das wäre letztlich das erwünschte Geschäft, wie Iris Neumeier-Mackert, IBM-Leiterin Marketing Software Zentraleuropa, klarstellt: "Für jede Mark, die wir mit OS/2 verdienen, verdienen wir drei weitere mit darauf basierender IBM-Software."

Kurz & bündig

IBM kapituliert nicht im Kampf gegen die Übermacht der Microsoft-Konkurrenz im Sektor PC-Betriebssysteme. Allerdings lassen die jüngsten OS/2-Varianten und Ankündigungen erkennen, daß für Big Blue nicht mehr die Akzeptanz bei den Massen der privaten PC-Anwender die entscheidende Rolle spielt. Das Hauptaugenmerk gilt jetzt den Unternehmen, wobei IBM nicht bloß die klassische Klientel bei großen Banken und Versicherungen, sondern verstärkt auch kleine und mittelgroße Firmen ansprechen will. Insbesondere in puncto Netzwerkfähigkeiten bieten die neuen OS/2-Varianten einige Eigenschaften, die für solche Kunden interessant sein könnten.

**Christian Schreiber ist freier Fachjournalist in München.