Microsoft blamiert sich mit Vista

27.03.2006
Die neuerliche Verspätung der nächsten Windows-Version "Vista" setzt vor allem die PC-Hersteller unter Druck. Firmenkunden bleiben dagegen gelassen.

Wir brauchen ein paar Wochen länger." Mit dieser Äußerung löste Jim Allchin, Co-President von Microsofts Platforms & Services Division und verantwortlich für die Windows-Entwicklung, am 21. März ein Beben in der weltweiten IT-Branche aus. Auf einer Entwicklerkonferenz in Las Vegas kündigte er an, Vista werde in zwei Stufen auf den Markt kommen. Zunächst sollen Firmen- sowie Volumenlizenzkunden im November dieses Jahres die neue Windows-Generation erhalten. Das hatten Marktbeobachter bislang auch so erwartet. Neu ist dagegen, dass Microsoft die Retail-Version für den Consumer-Markt erst im Januar 2007 freigeben wird. Bislang hieß es, das neue Betriebssystem werde rechtzeitig zum diesjährigen Weihnachtsgeschäft ausgeliefert.

Die Chronik eines angekündigten OS

• April 2002:

Jim Allchin, Leiter der Windows-Entwicklung, spricht erstmals von "Longhorn" als Nachfolger des 2001 herausgebrachten Windows XP. Das neue Windows-Release soll Ende 2003 auf den Markt kommen.

• September 2002:

Longhorn wird Allchin zufolge erst 2005 erscheinen. Microsoft werde sich nicht unter Druck setzen lassen und krampfhaft irgendwelche Termine halten, hieß es.

• Oktober 2003:

Microsoft-Gründer Bill Gates bezeichnet Longhorn als wichtigstes Betriebssystem der Dekade. Es werde Features wie das Dateisystem "WinFS" enthalten. Analysten warnen vor der drohenden Komplexität.

• März 2004:

Gates kündigt eine Alpha-Version von Longhorn für Ende des Jahres an. Im Vordergrund stünden die technischen Neuerungen. Man lasse sich nicht vom Termindruck leiten.

• August 2004:

Microsoft verspricht Longhorn für die zweite Hälfte 2006 und verabschiedet sich von dem Dateisystem WinFS. Das Feature soll nachgereicht werden.

• Juli 2005:

Microsoft tauft Longhorn in "Vista" um. Eine erste Betaversion wird an 500000 Testkunden ausgeliefert.

• Dezember 2005:

Verzögerungen im Beta-Programm schüren Gerüchte, Vista werde sich verspäten.

• März 2006:

Microsoft verschiebt den Erscheinungstermin für die Consumer-Version von Vista auf Januar 2007.

Der Vista-Aufschub im Detail: Kommt Microsoft mit einem blauen Auge davon?

Inwieweit hat Microsoft den Fahrplan geändert?

Das nächste Windows-Release Vista wird in der Consumer-Version statt im Herbst dieses Jahres erst im Januar 2007 ausgeliefert. Die Variante für Firmenkunden kommt nach heutigem Stand wie geplant im November 2006. Auch das kommende "Office 2007" wird in der Endkundenversion erst Anfang nächsten Jahres erscheinen.

Welche Folgen hat das für Microsoft?

Obwohl die Windows-Sparte den Löwenanteil am Microsoft-Geschäft trägt, gehen Analysten nicht von negativen Folgen für die Microsoft-Bilanz aus. Nach wie vor laufen die Geschäfte mit dem Betriebssystem gut. Im zurückliegenden zweiten Quartal des Fiskaljahres 2006 erwirtschaftete die Client-Sparte mit knapp 3,46 Milliarden Dollar rund 29 Prozent vom Gesamtumsatz in Höhe von 11,84 Milliarden Dollar. Rund 2,64 Milliarden Dollar operativer Gewinn bedeuten einen Anteil von 57 Prozent am gesamten Betriebsergebnis von 4,66 Milliarden Dollar.

Welche Folgen sind für die Partner zu befürchten?

Die Analysten rechnen mit deutlichen Einbußen im vorweihnachtlichen PC-Geschäft. In dieser Zeit machen die Hersteller in der Regel rund ein Drittel ihres Jahresgeschäfts. Neben den PC-Anbietern müssten sich auch die Hersteller von Komponenten wie Prozessoren und Speicherchips auf ein schwieriges Endjahresgeschäft einstellen. Davon profitieren könnte in erster Linie Konkurrent Apple. Gartner zufolge schwächt sich das Wachstum im weltweiten PC-Markt weiter ab. Für 2006 rechnen die Marktforscher mit einem Absatz von 234,5 Millionen Geräten, 10,7 Prozent mehr als im vergangenen Jahr. Ob die Prognose zu halten ist, bleibt fraglich. 2005 hatte das Plus noch 15,5 Prozent betragen.

Wie reagiert Microsoft?

In der für Windows zuständigen Platforms & Services Division wird es künftig acht Gruppen geben. Die neuen Einheiten "Windows Live Platform Group", "Online Business Group" und "Market Expansion Group" deuten darauf hin, dass Microsoft auf die Bedrohung durch Firmen wie Google reagiert und seine Softwareentwicklung stärker in Richtung Internet-basierte Dienste trimmen will. Die Windows-Entwicklung wird künftig Steve Sinofsky leiten. Jim Allchin, bislang für die Windows-Sparte verantwortlich, wird sich nach dem Vista-Launch zurückziehen.

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Qualität bestimmt den Zeitplan

"Die Produktqualität hat erste Priorität", begründete Allchin die neuerliche Verspätung. Microsoft benötige noch etwas Zeit, um alle Fehler zu beseitigen. Da auch die PC-Hersteller ihre Rechner nicht von heute auf morgen mit dem System ausstatten könnten, gebe es keinen Sinn, noch vor dem Weihnachtsfest fertig werden zu wollen. Die Consumer-Version von Vista verschiebe sich deshalb um insgesamt acht bis zehn Wochen.

Grundsätzlich liege Microsoft mit seinen abschließenden Entwicklungsschritten jedoch im Plan, beteuerte Allchin. Demnach wird im Laufe des zweiten Quartals 2006 eine weitere Beta-Version ausgeliefert, die weltweit rund zwei Millionen Anwender testen sollen. Allchin zufolge gibt es keinen Anlass, die eigenen Prognosen zu revidieren. Die Verzögerungen würden keine Auswirkungen auf das Geschäft Microsofts haben. Auch für die Partner hat die Verspätung laut Allchin keine negativen Folgen.

Das sehen Analysten ganz anders. Microsoft und seine Partner werden in diesem Jahr die Gelegenheit verpassen, Vista-PCs zu verkaufen, urteilen Paul Jackson und Ted Schadler, Analysten von Forrester Research. Im schlimmsten Fall werden die potenziellen Käufer ihr Weihnachtsbudget anderweitig anlegen und dann kein Geld mehr haben, wenn die neuen Rechner im kommenden Jahr auf den Markt kommen. Roger Kay, Analyst von Endpoint Technologies taxiert die möglichen Ausfälle im PC-Jahresendgeschäft auf rund vier Milliarden Dollar. "Die neuerliche Verschiebung ist eine Blamage für Microsoft", höhnt David Bradshaw, Principal Analyst von Ovum. Erstaunlich sei die Beherrschung, die PC-Hersteller an den Tag legten, wundert sich der Analyst. Öffentlich täten sie die Verzögerungen mit einem Achselzucken ab. Man könne jedoch davon ausgehen, dass die Verantwortlichen hinter verschlossenen Türen einen ganz anderen Ton gegenüber Microsoft anschlügen.

Tatsächlich scheinen die PC-Hersteller gute Miene zum bösen Spiel zu machen. "Wir unterstützen Microsofts Entscheidung, der Qualität von Vista höchste Priorität einzuräumen", wird in einer Microsoft-Mitteilung Todd Bradley zitiert, Executive Vice President der Personal Systems Group (PSG) von Hewlett-Packard.

Nicht ganz so verständnisvoll äußert sich Jörg Hartmann, Leiter Marketing und Business Development von Fujitsu-Siemens Computers (FSC): "Wenn ein Hersteller eine Roadmap hat, sollte er diese auch einhalten, beziehungsweise von vornherein einen gewissen Puffer einplanen." Allerdings sei es nachvollziehbar, Sicherheit und Stabilität eines Systems wie Vista höchste Priorität einzuräumen. Gerade weil es mit XP und dem Service Pack 2 ein vernünftiges und stabiles Windows-System auf dem Markt gibt, wolle Microsoft keinen Rückschritt riskieren.

Wie muss ein Vista-PC aussehen?

Bis die PC-Hersteller endlich mit Vista loslegen könnten, gibt es Hartmann zufolge jedoch noch einige Dinge mit Microsoft zu klären. So stehe bislang nicht fest, wie ein "Vista-ready"-Rechner aussehen muss. "Microsoft geht mit seinen Informationen sehr restriktiv um." Dies sei für PC-Hersteller insofern ein Problem, als die Kunden beim Kauf neuer Rechner auch nach der künftigen Windows-Version fragten. Man könne zwar davon ausgehen, dass aktuelle PCs mit einer auf drei Gigahertz getakteten CPU und einem Arbeitsspeicher von 1 GB genug Leistung bieten. Kritisch werde es aber für Unternehmen, die ihre PC-Anforderungen weit nach unten schraubten und Preise von etwa 400 Euro pro System anvisierten.

Befürchtungen über mögliche Einbußen im PC-Geschäft hat Hartmann indes nicht. So gebe es beispielsweise die Möglichkeit, Kunden mit einem Update-Gutschein zum Kauf eines neuen Rechners zu bewegen.

Weitere Verspätungen drohen

Microsoft habe die Branche rechtzeitig über die Verspätung informiert, gestehen die Marktforscher von Gartner dem Konzern zu. Damit könnten die PC-Hersteller ihre Produkt-und Geschäftspläne frühzeitig anpassen. Microsofts Begründung, bestimmte Qualitätsstandards einhalten zu wollen, sei zwar nachvollziehbar, genau so gut könne es aber sein, dass der Softwarehersteller noch grundsätzliche Probleme in der Vista-Entwicklung zu lösen habe. Nach der schmerzhaften Verschiebung auf Januar 2007 seien weitere Verzögerungen im Laufe des kommenden Jahres nicht ausgeschlossen.

Alle Zeichen deuten darauf hin, dass Microsofts Windows-Entwicklung nicht rund läuft. Bereits 2004 soll Allchin intern von einem möglichen Scheitern Vistas gesprochen haben: "Es wird nicht funktionieren", habe der Windows-Verantwortliche das Top-Management um Firmengründer Bill Gates und CEO Steve Ballmer gewarnt. Die Komplexität des Vorhabens sei so groß, dass die Entwickler kaum in der Lage sein würden, einen funktionierenden XP-Nachfolger auf die Beine zu stellen.

In der Folge verstärkte sich trotz regelmäßiger Rekordergebnisse die Kritik am weltgrößten Softwarekonzern. Microsoft sei zu unbeweglich und erstarre in bürokratischen Strukturen, monierten zahlreiche Analysten. Die Zukunft gehöre Firmen wie Google und Salesforce.com, die immer mehr Software als Service über das Internet anbieten. Microsoft drohe, auch die nächste Stufe der Web-Entwicklung zu verschlafen, nachdem das Unternehmen schon die erste Welle in den 90ern verpasst hatte.

Microsoft baut wieder um

Microsoft-Chef Ballmer reagierte und baute den Konzern im September vergangenen Jahres um. Damals hieß es, die Straffung und Neuordnung in drei Geschäftsbereiche solle in erster Linie die Entwicklung Service-orientierter Software fördern. Doch offenbar geht den Verantwortlichen der Veränderungsprozess nicht schnell genug. Wenige Tage, nachdem Microsoft die erneute Verspätung von Vista eingestehen musste, kündigte das Unternehmen den kompletten Umbau der Platform & Services Division an. Die Sparte soll sich künftig aus acht Gruppen zusammensetzen. Steve Sinofsky, bislang verantwortlich für die Office-Entwicklung, wird künftig die weitere Windows-Entwicklung leiten. Allchin hatte bereits im vergangenen Jahr angekündigt, sich nach dem Abschluss des Vista-Projekts in den Ruhestand zurückzuziehen.

Während die Analysten über die möglichen Folgen der Verspätung spekulieren und Microsoft mit seinem Umbau beschäftigt ist, bleiben Unternehmenskunden gelassen. Es gebe derzeit keinen Druck, unbedingt auf Vista zu wechseln, beschreibt Ralf Feest von der deutschen NT-Anwendergruppe die aktuelle Situation. "Daher macht es keinen Unterschied, ob das System nun ein paar Monate früher oder später auf den Markt kommt."

Microsofts Entscheidung, Stabilität und Sicherheit des neuen Systems zu betonen, sei richtig, meint der Microsoft-Kenner. Unternehmen zögen ein Produkt vor, das gleich einsetzbar ist, statt wieder auf ein Service-Pack warten zu müssen. "Lieber soll der Hersteller seine Hausaufgaben ordentlich erledigen."

Trotzdem werde es Microsoft schwer haben, den Unternehmen Vista schmackhaft zu machen, prognostiziert Feest. Zum einen seien viele Kunden verärgert, die in den zurückliegenden Jahren einen Software-Assurance-Vertrag abgeschlossen hatten, um automatisch aktuelle Produktversionen von Microsoft zu erhalten, aber kaum einen Gegenwert dafür erhalten hätten. Zudem mache sich auch unter der Windows-Klientel zunehmend das "Good-enough"-Syndrom breit. Für viele Anwender seien die bestehenden Produktlinien völlig ausreichend. "Ob die Fenster nun durchscheinen oder nicht, spielt keine Rolle."