"Man muß sich auf eine Plattform konzentrieren"

04.09.1992

Mit George Grayson, dem Geschäftsführer von Micrografx, dem neben Corel größten Hersteller von PC-Grafikanwendungen, sprach CW-Mitarbeiter Karsten Weide über die strategische Bedeutung der verschiedenen PC-Betriebssysteme für den Grafiksoftware-Markt.

CW: Herr Grayson, wie werden sich Ihrer Meinung nach die Marktanteile der verschiedenen Betriebssysteme auf dem Grafiksoftware-Markt entwickeln?

Grayson: Es ist wohl ziemlich klar, daß Windows in Zukunft eine beherrschende Rolle im Markt spielen wird. Wenn man sich die Trends ansieht und daraus extrapoliert, dann ergibt sich, daß das gegenwärtige Übergewicht von DOS in etwa 18 Monaten von einem Gleichgewicht zwischen DOS und Windows abgelöst werden wird. Und wenn man noch etwas weiter in die Zukunft blickt, dann wird Windows einen Marktanteil von 50 bis 60 Prozent erreichen. Und bei dieser Schätzung sind die Macintosh- und die Unix-Gemeinde schon eingerechnet.

CW: Sie haben Ihre Anwendungen bisher nur für Windows angeboten. Neuerdings sind sie auch für OS/2 erhältlich. Warum haben Sie dieses Betriebssystem bei Ihrer Prognose nicht erwähnt?

Grayson: IBM wird mit OS/2 kurzfristig wohl höchstens einen Marktanteil von zehn Prozent erreichen. Ich bin aber vorsichtig optimistisch, daß es seinen Anteil auf längere Sicht ausbauen kann, wenn IBM noch einige Mängel beseitigt. Ich bin mit OS/2 nicht so glücklich, wie ich es gerne wäre. Insgesamt geht IBM damit schon in die richtige Richtung, aber es wurde der Fehler gemacht, sich ein Einführungsdatum zu setzen, das dann um jeden Preis eingehalten werden mußte, statt einen Leistungskatalog aufzustellen, ihn umzusetzen und das Produkt erst dann einzufahren.

CW: Mußte denn IBM nicht versuchen, einen möglichst großen, Vorsprung vor Windows NT zu gewinnen?

Grayson: Das ist ein Fehler. Man muß dem Markt geben, was er verlangt. Es geht nicht darum, ob man vorne oder hinten liegt, denn wenn man zu früh mit einem unfertigen Produkt herauskommt, scheitert man.

CW: Aber müssen die Software-Entwickler nicht die Balance zwischen der Qualitätskontrolle und der rechtzeitigen Produkteinführung halten?

Grayson: Das ist sicher richtig. Auch Micrografx mußte sich damit in der Vergangenheit auseinandersetzen. Im Laufe der Jahre sind wir jedoch zu dem Schluß gekommen, daß wir keine Wahl haben: Wenn man Erfolg haben will, muß man das beste Produkt präsentieren. Natürlich lassen sich zunächst Umsatz generieren und Marktanteile gewinnen, wenn man sehr früh mit einem Unvollständigen Produkt herauskommt. Aber was dann fehlt, ist die Mund-zu-Mund-Propaganda, die ein Programm erst erfolgreich macht. Lieber für kurze Zeit zwei oder drei Prozent Marktanteil verlieren, weil man sich die Zeit nimmt, ein Produkt fertigzustellen, als auf lange Sicht 20 oder 30 Prozent zu gefährden, weil man unfertige Anwendungen herausbringt.

CW: Warum entwickeln Sie denn überhaupt für OS/2, wenn Sie glauben, daß der Marktanteil verhältnismäßig klein bleiben wird?

Grayson: Wir wollen ein Gegengewicht zu Microsoft haben. Microsoft gibt im Augenblick bei den Betriebssystemen die Richtung an. Wenn es dort keine Konkurrenz gibt, wird Microsoft sich weniger darum kümmern, Windows auszubauen, sondern sich auf die Entwicklung der eigenen Anwendungen konzentrieren. Wir als Software-Entwickler sehen es natürlich lieber, wenn sich Microsoft hauptsächlich um das Betriebssystem kümmert. Im Augenblick tut Microsoft mehr für sich selbst und für die Microsoft-Anwendungen als für die Industrie - und das ist ein Problem.

CW: Glauben Sie, daß andere Entwickler das auch so sehen?

Grayson: Ja, ganz bestimmt. Ich würde sogar sagen, daß wir im Vergleich zu Software-Entwicklern wie Lotus oder Wordperfect noch eher ein Windows- als ein OS/2-Unterstützer sind. Die wollen, daß OS/2 sich durchsetzt.

CW: Warum übertragen Sie Ihre Anwendungen nicht auch auf andere Systeme, zum Beispiel auf den Mac?

Grayson: Unsere Strategie ist es, in erster Linie eine breite Produktpalette für Windows anzubieten. Indem wir uns auf ein Betriebssystem konzentrieren, von dem wir glauben, daß es sich durchsetzen wird, können wir bessere Programme entwickeln, und wir können unsere Produkte schneller in neuen, besseren Versionen herausbringen.

Die Benutzer wenden sich immer der besten Anwendung zu. Sie benutzen nicht die zweit- oder drittbeste Applikation, nur weil jemand, der einen Macintosh hat, die gleiche Anwendung kaufen kann. Wenn ein Unternehmen versucht, das gleiche Produkt auf mehreren Plattformen zu unterstützen, tut ihm das nicht gut.

Unternehmen müssen sich auf eine Plattform konzentrieren. Bei Adobe hat sich zum Beispiel das Entwicklungstempo verlangsamt, weil sich die Firma nicht mehr ausschließlich um die Plattform gekümmert hat, die dem Unternehmen den meisten Umsatz bringt, nämlich den Macintosh.

CW: Aber verlieren Sie dadurch nicht zuviel Boden an andere Anbieter, die für mehrere Plattformen entwickeln? In den Vereinigten Staaten hat sich beispielsweise der Marktanteil der Macintosh-Rechner im letzten Jahr von neun auf 19 Prozent mehr als verdoppelt.

Grayson: Im gleichen Zeitraum war der Umsatz mit Windows-Anwendungen weltweit doppelt so hoch wie der mit Mac-Anwendungen. Der Marktanteil der Macintosh-Rechner hat sich vor allem wegen der neuen Low-end-Macs wie dem Classic verdoppelt, die sich nicht besonders gut dazu eignen, High-end-Anwendungen laufen zu lassen. Außerdem sind die Käufer der Billig-Macs sehr preisbewußt. Seien wir doch mal ehrlich: Die kopieren eine Menge Software. Ich glaube, daß die meisten Mac-Entwickler über diese Entwicklung ziemlich enttäuscht sind.