Produktneuheiten auf der Lotusphere Europe

Lotus verschiebt Raven auf nächstes Jahr

13.10.2000
BERLIN - Wer geglaubt hat, Lotus werde die Berliner Hausmesse Lotusphere Europe nutzen, um die mit Spannung erwartete Knowledge-Management-Suite "Raven" endlich freizugeben, wurde enttäuscht. Stattdessen standen "K-Station" als eine Art Zwischenprodukt sowie die "Bluejay"-Erweiterungen von Domino 5.05 im Mittelpunkt der Veranstaltung, von der Volker Weber* berichtet.

Erstmals angekündigt wurde das Knowledge-Management-(KM-)Projekt bereits vor einem Jahr auf der gleichen Veranstaltung. Seitdem verstreichen die als "wahrscheinlich" bezeichneten Erscheinungstermine für den KM-Server - zuletzt auf der Lotusphere vor zwei Wochen. Ähnlich wie schon bei Release 5 von "Domino" und "Notes" heißt es abzuwarten: Den offiziell als "Anfang nächsten Jahres" genannten Termin interpretieren Lotus-Kenner als Frühjahr 2001. Das in zwei Komponenten zerlegte Produkt besteht aus einem Frontend, das schon sehr früh fertig war, sowie aus dem "Discovery"-Server, an dem der Hersteller derzeit noch arbeitet. Weil die Anwender laut Lotus-CEO Al Zollar drängen, liefert man ab November die bereits fertig gestellten Teile als K-Station aus.

Aufbau persönlicher AnwendungsportaleDabei handelt es sich um einen Portal-Server, der Komponenten von Domino und den Collaborative-Produkten "Quickplace" und "Sametime" enthält. Das Portal erlaubt den Aufbau personalisierter Seiten mit so genannten Knowledge-Windows, die verschiedenste Anwendungen enthalten können, unabhängig davon, ob sie auf Domino-, Exchange- oder Apache-Servern gehostet werden. Für jedes Knowledge-Window lässt sich eine Spalte mit Benutzernamen definieren, um das Fenster damit automatisch für Sametime-Funktionen zu erweitern. Über die "Place-based Awareness", auf die Lotus Patente hält, lässt sich anzeigen, wer von den in einer Window-Spalte aufgelisteten Benutzernamen gerade online ist. Mit diesen Personen kann man dann durch ein Kontextmenü zum Beispiel eine Chat-Session aufbauen.

K-Station bedient sowohl Web-Browser als auch Notes-R5-Clients. Die Komponenten nutzen dabei die Fähigkeiten des jeweiligen Clients, werden also nach Lotus-Angaben nicht einfach als Browser-Fenster im Notes-Client ausgeführt.

Auch wenn Lotus mit K-Station sozusagen eine Light-Version von "People, Places & Things" liefert, die allemal mit Microsofts "Digital Dashboard" konkurrieren kann, fehlt bis zum Erscheinen des Discovery-Servers die eigentliche Intelligenz, die man sich vom Raven-Projekt verspricht. Der Discovery-Server soll unterschiedliche Datenquellen von Domino-Servern über Dateisysteme bis hin zu Web-Servern in einem "Content Catalog" auf Basis von IBMs DB2 indexieren. Dieser Katalog wird dann von verschiedenen Werkzeugen, etwa einem interaktiven "Taxonomy Generator", einem "Expertise Locator" und einem "Affinity Mapping" bearbeitet, um eine Wissenslandkarte (Knowledge Map) der indexierten Informationen anzulegen.

Mit K-Station und später dann mit dem Discovery-Server spricht Lotus nicht nur die eigene Domino-Kundschaft an, sondern auch Microsoft-Shops, die beim Messaging auf Exchange setzen. Dass diese Strategie funktionieren kann, weist Lotus durch einige Quickplace- und Sametime-Kunden nach. So setzt Ericsson etwa Quickplace für seine "Global Information Plaza" ein.

Erweiterungen in Richtung Microsoft hat Lotus auch an der soeben erschienenen Domino-Version 5.05 vorgenommen. Das Update ist nicht nur ein weiteres Quarterly Maintenance Release, sondern integriert eine ganze Reihe neuer Technologien, an denen Lotus zum Teil bereits ein Jahr arbeitet. Unter dem Codenamen "Bluejay" entwickelte der Hersteller vier Komponenten: Domino Network File Store (DNFS), I-Notes für Outlook, COM Components sowie einen OLE DB Connector für SQL Server 7 und Access. Bluejay läuft aktuell nur auf Domino Servern unter Windows NT 4 und Windows 2000.

DNFS exponiert Domino-Datenbanken als SMB-Shares (SMB = Server Message Block). Ein Windows-95-Client etwa sieht diese Shares dann wie alle anderen freigegebenen Windows-Laufwerke. Mit I-Notes für Outlook können Windows-Anwender Outlook als MAPI-Client für Mail und Kalender mit einem Domino-Server statt Exchange benutzen. Über die "Domino Off-Line Services" (Dols) lassen sich dabei auch die Replikationsfunktionen von Domino verwenden. Die COM Components stellen Domino-Ressourcen in Windows-Anwendungen zur Verfügung, die beispielsweise mit Visual Basic entwickelt wurden. Der OLE DB Connector schließlich ersetzt die bisher benutzte ODBC-Schnittstelle zwischen Domino und SQL Server respektive Access. Dieser Connector kann sowohl für Domino Enterprise Connection Services (Decs) als auch Lotus Enterprise Integrator (LEI) eingesetzt werden.

Domino 5.05 bringt neben Bluejay noch eine ganze Reihe weiterer Verbesserungen. So hat Lotus das Mail-Template dahingehend abgerüstet, dass die beiden Java-Komponenten für Ordner und Ansichten gestrichen wurden. Auch der Java Rich Text Editor wird nur noch auf Anforderung geladen, so dass man letztlich erhebliche Performance-Verbesserungen erreicht hat und der Web-Zugriff auf den Postkorb auch bei langsamen Modemverbindungen noch erträglich ist. Lotus liefert dabei zwei verschiedene Mail-Templates: Mail R5 (mail50.ntf) und Extended Mail R5 (mail50ex.ntf), wobei letzteres die erwähnten Dols enthält.

Die nächste Stufe von Webmail soll in Kürze in Form von "I-Notes Web Access" folgen. Die Entwicklung mit dem Codenamen "Shimmer" löst sich von Notes als Designvorbild und wird vollständig in DHTML ohne Java-Komponenten entwickelt. Als Rich Text Editor etwa benutzt Shimmer ein natives Control des "Internet Explorer". Minimalvoraussetzung für diese Anwendung wird zunächst der Internet Explorer 5.x sein, eine Unterstützung von "Netscape Navigator 4.7x" und "Mozilla 6" soll folgen. Das Nachsehen haben damit OS/2-Anwender etwa in Banken und Versicherungen, da für OS/2 kein neuerer Browser als Netscape 4.6x existiert.

Als dritte technische Neuerung neben K-Station und Domino 5.05 präsentierte Lotus in Berlin die Beta 2 von Sametime 2.0. Das Produkt steht offensichtlich kurz vor der Fertigstellung und soll noch dieses Jahr verfügbar sein. Sametime ist damit komplett überarbeitet und enthält unter anderem auch Audio- und Video-Funktionen neben den bekannten Komponenten wie Chat, Konferenz und Application Sharing.

Ein ebenfalls wichtiges Thema der Lotusphere war der erneute Vorstoß in Richtung Application-Service-Provider (ASP). Lotus hat mit Quickplace 2.0 ein Produkt, das sich geradezu für eine Vermarktung via ASP anbietet. Zusätzlich bietet der Hersteller nun ein "ASP Solution Pack" und neue Lizenzierungsmöglichkeiten ("pay as you go") für Lotus-Technologien an. Damit sind ASPs in der Lage, Anwendungen pro Monat und Benutzer in Lizenz zu nehmen und dem Kunden in Rechnung zu stellen. Das ASP Solution Pack liefert entsprechende Verwaltungsfunktionen, nutzt dabei aber für die eigentliche Rechnungsstellung Schnittstellen zu bestehenden Systemen. Das Produkt ist damit Nachfolger der "Instant-Host"- und "Inter-Community"-Lösungen.

Pay-as-you-go für ASP-LizenzenNeben der Pay-as-you-go-Lizenzierung bietet Lotus als Option für ausgewählte Partner auch eine Allianz an, bei der sich die Beteiligten zu bestimmten Umsätzen verpflichten. Das wird zum Beispiel von Siemens Business Systems oder Andate genutzt. Andate wurde von ehemaligen Mitarbeitern der Deutschen Bank und der Kathadin Consulting als 100prozentige Tochter der Mannesmann Telecommerce GmbH gegründet.

An dieser Stelle schließt sich nun der Kreis, wie zwei Andate-Ankündigungen zeigen:

-Lotus und Andate vereinbaren eine gemeinsame Erschließung des europäischen ASP-Marktes.

-IT Factory und Andate gründen eine strategische Allianz zur Entwicklung von ASP-Lösungen der nächsten Generation (siehe Kasten).

*Volker Weber ist freier Journalist in Darmstadt.

Lotus und LPS kontra IT FactoryKein offizielles Kongressthema war in Berlin die "Lotus I-Net Solution Architecture" (Lisa). Eigentlich wollte Lotus den Nachfolger der bislang eher glücklosen LSA zum Mittelpunkt der Veranstaltung küren, zog dann aber eine Woche vorher die Notbremse, weil die Lotus Business Partner sehr deutlich murrten.

Die bisherige Entwicklung von Lisa entbehrt ohnehin nicht einer gewissen Brisanz. IT Factory, laut eigenen Angaben größter Lotus-Business-Partner, möchte eine eigene Architektur zur Entwicklung von Domino-Anwendungen als Standard etablieren. Vor zwei Jahren kündigte IT Factory in Orlando eine Partnerschaft mit Lotus an, mit dem Ziel, LSA und die eigene Architektur gemeinsam zu vermarkten. Von Lotus-Seite wurde diese Partnerschaft jedoch nicht bestätigt - der erste Eklat einer längeren Leidensgeschichte. Während IT Factory in den letzten Jahren mehr als 250 Business-Partner und 500 Kunden gewann, verhandelten Lotus und der Partner weiter hinter den Kulissen über eine Zusammenführung der beiden Architekturen - mit keinem greifbaren Ergebnis.

Lotus schiebt nun eine Weiterentwicklung der LSA unter der Bezeichnung Lisa an und wird dabei von IT Factory mit Argusaugen beobachtet. Schließlich geht es darum, ob sich die einem potenziellen Partner offengelegten technischen Details nach der Trennung in dessen Produkten wiederfinden. Grundsätzlich sind sogar juristische Händel zu befürchten, weil IT Factory seine Architektur zum Patent angemeldet hat.

Als Ergebnis der "Scheidung" treten nun Lotus Professional Services (LPS) und IT Factory mit zwei verschiedenen Architekturen als Konkurrenten auf und buhlen um die Unterstützung der Partner Community. Die sieht sich, zumindest, was die großen deutschen ISVs angeht, weder zur einen noch zur anderen Seite hingezogen. Eine Umstellung auf eine neue Architektur ist für bestehende Anwendungen, die sich jetzt schon schleppend verkaufen, nicht besonders attraktiv, wenn Lotus zugleich neue Technologien ankündigt. Investitionen müssen hier sinnvoll geplant werden.

LPS hat wenigstens in Deutschland ein leichteres Spiel als IT Factory, weil ein exklusiver Zugang zu den Top-Kunden besteht und in eigenen Projekten Unteraufträge an Business-Partner vergeben werden können. Das macht LPS bei den Partnern nicht sonderlich beliebt, aber doch einflussreich. Zugleich wird IT Factory zur Exchange Conference in Dallas eine Portierung der Architektur auf die Microsoft-Plattform ankündigen - es kann also ein neues Spiel beginnen.