Linux auf dem Desktop: Trend oder Träumerei?

18.06.1999
Der schwedische Möbelriese Ikea denkt - offiziell - nicht daran, die Polizei in Baden-Württemberg schwört darauf, und die DV-Abteilung der König-Versicherungen aus Bremen würde gerne, bekommt jedoch den Segen der Geschäftsführung nicht - nach knapp zehnjähriger Betriebssystem-Monotonie sorgt Linux für frischen Wind in der Branche. Doch die Euphorie der Open-Source-Anhänger gilt bislang fast ausschließlich dem Einsatz von Linux auf Servern (siehe Seite 19). Fraglich ist hingegen, ob das Pinguin-Betriebssystem auch das Zeug hat, Microsofts Windows NT beziehungsweise Windows 95/98 in naher Zukunft vom heimischen Desktop oder der Workstation im Büro zu verdrängen.

Die Software AG spricht im Zusammenhang mit Open Source neuerdings vom "verstandenen Business-Modell", Corel-Chef Michael Cowpland schwärmt von der "aufregendsten Entwicklung der letzten Jahre", und selbst Ex-Compaq-Chef Eckhard Pfeiffer bekannte sich noch zu Amtszeiten zur Unterstützung von Linux. Alarmstufe Rot indes bei Microsoft: Der Redmonder Konzern warnt in einem internen Memo vor der "ernstzunehmenden Gefahr für Windows, die von Linux ausgeht", obgleich President Steve Ballmer die Gründe für den Erfolg des Unix-ähnlichen Betriebssystems "nicht ganz klar sind".

Klarheit herrscht hingegen in den Glaskugeln der Auguren: Das Marktforschungsinstitut International Data Corp. (IDC) registriert ein rasantes Wachstum von 212 Prozent und eine Verdreifachung des Linux-Absatzes auf rund 750000 Exemplare im vergangenen Jahr. Dan Kisnetzky, Analyst bei IDC, nennt die drei wichtigsten Faktoren: "Anti-Microsoft-Haltung, starke Performance und sehr niedriger Preis." Windows bekommt - so die einhellige Meinung von Marktforschern und Herstellern - ernstzunehmende Konkurrenz.

Dennoch unterscheidet sich der immense Zuspruch für Linux bei genauerer Betrachtung in einem wichtigen Detail: Während das Open-Source-Betriebssystem im Server-Bereich an Microsofts installierter NT-Basis nagt, beißt es sich im Desktop-Bereich an Windows 95/98 die Zähne aus.

Dieser Trend bestätigt sich, fragt man deutsche Linux-Pioniere, wo sie das Open-Source-Betriebssystem einsetzen. Ob Miele & Cie GmbH & Co., der Anlagenbauer Babcock-BSH aus Krefeld, der Lebensmittelkonzern Edeka aus Baden-Württemberg, Büroring oder etwa der Landeskontrollverband Westfalen-Lippe e.V. - Linux gilt in all diesen Unternehmen als Standardplattform für Datenbank-, WWW-, FTP-, Proxy- und DNS-Server beziehungsweise Router oder Firewall. Auf den Clients hingegen Fehlanzeige - meistens.

"Ich bin davon überzeugt, daß sich Linux über kurz oder lang auch auf dem Desktop durchsetzen wird", kommentiert Frank Bartels, Geschäftsführer der Westfälischen Textilgesellschaft aus Salzkotten, seinen eigenen Weg. Für den Manager, dessen tägliches Geschäft mit Bettwäsche, Möbel, Campingauflagen, Kinderwagen oder Tischdecken von einem Motorola-Host gesteuert wird, ist es nur noch "eine Frage der Zeit, bis der komplette Betrieb, also rund 50 Windows-95- und Windows-NT-PCs, auf Linux umgestellt ist". Bis jetzt sind die ersten zwölf Rechner mit der Linux-Distribution des Nürnberger Anbieters Suse ausgerüstet.

Die Erfahrungen der Westfälischen Textilgesellschaft mit dem Pinguin-Betriebssystem auf den Desktops sind nach den Worten von Bartels durchweg positiv. Abgesehen von einer ersten Umgewöhnungsphase für die Anwender seien die funktionellen Unterschiede zwischen der verwendeten Office-Suite von Microsoft und der Linux-Suite "Applixware" kaum erwähnenswert, erklärt der Chef des mittelständischen Unternehmens.

Ihn haben "selbstverständlich der günstige Preis von Linux" sowie "die hohen Lizenzkosten und das Monopol Microsofts" darin bestärkt, Windows langsam, aber sicher den Rücken zu kehren. Wesentlich wichtiger waren jedoch technische Aspekte: "Trotz der hochgelobten Stabilität von Windows NT läuft Linux wesentlich zuverlässiger", so ein erster Erfahrungsbericht des Managers.

Bartels: "Wenn sich ein Novell-Server aufhängt, zieht er häufig auch den Client in den Tod." Mit Windows NT auf dem Client wiederum "sind unsere DV-Mitarbeiter rund um die Uhr damit beschäftigt, sich um die Wehwehchen der Anwender zu kümmern, weil irgend etwas wieder einmal abgestürzt ist". Mit Linux sei die Arbeit ungleich effizienter. Die Verbindung zwischen dem Motorola-Host und den Linux-Clients bewerkstellige die Textilgesellschaft aus Salzkotten mit dem Open-Source-Produkt "K-Telnet" via "R-Login-Protokoll" und dem Linux-eigenen "KVT-Terminal". "Diese Verbindung ist wesentlich stabiler und vor allem schneller als unsere Windows-Vernetzung", resümiert der Geschäftsführer.

Ganz verzichten kann Bartels allerdings auf Microsofts Betriebssysteme noch nicht. So sucht der Firmenleiter noch nach brauchbaren Applikationen für T-Online (Datex-J) für die Open-Source-Umgebung. Unerwartete Schwierigkeiten bereite ferner die Buchhaltung, "die momentan über einen NT-Server auf eine SQL-Datenbank zugreift und unter Linux noch nicht richtig funktioniert".

Ähnlich positive Erfahrungen machte der Hamburger Spezialist für die Nachbehandlung von Filmmaterial VCC GmbH: Nachdem das Unternehmen bereits sämtliche Server auf das Betriebssystem des Finnen Linus Torvalds umgerüstet hat, erwägt VCC nun, auch Client-seitig voll und ganz auf Linux zu setzen. "Wir möchten uns eine neue Warenwirtschaft zulegen und die Programmiersprache Java unternehmensweit einsetzen", so Frank Hellmann, Systemadministrator beim hanseatischen Experten für Werbespots und Kinofilme. Die Devise laute: "Nichts wie weg von Microsoft." Nicht weniger als 80 Workstations - davon rund 25 unter Linux - leisten mittlerweile ihren Dienst beim Multimedia-Studio aus Norddeutschland.

Die Microsoft-Lizenzen gingen einfach zu sehr ins Geld. Mit Linux erhalte das Unternehmen E-Mail, Office-Paket und Fax-Management quasi kostenlos. Seit grafische Linux-Oberflächen wie "K Desktop Environment" (KDE) oder "Gnome" an die Leistung der Microsoft-Produkte heranreichten, "ist die Verlockung wirklich groß". In puncto Stabilität und Skalierbarkeit teilt Hellmann die Meinung seines Linux-Kollegen Bartels: "Einfach konkurrenzlos."

Anders liegen die Dinge bei der Windows- beziehungsweise Linux-Installation: "Windows läßt sich in einer Stunde aufsetzen. Bei Linux muß man sich hingegen vorher intensivere Gedanken über das künftige System machen." Eindeutig die Nase vorn hat das freie Betriebssystem nach den Worten von Hellmann aber in Sachen Support: "Ich habe erst kürzlich eine Beschwerde auf der Microsoft-Seite im Internet abgegeben und prompt eine Fehlermeldung vom Server bekommen", entrüstet sich Hellmann. "Da fehlen einem die Worte." Linux-Probleme dagegen bekam das 65köpfige Team aus Hamburg bis dato mit Hilfe diverser Internet-Foren stets schnell in den Griff. Noch einen anderen Grund für den Einsatz von Linux nennt der DV-Profi abschließend: Bei Linux komme keiner auf die Idee, Spiele von zu Hause mitzubringen. Mit Windows müßten die Systeme jedoch alle drei Monate neu eingerichtet werden, weil der Benutzer das System mit eigener Software zum Absturz gebracht habe.

Wesentlich nüchterner betrachtet Niev Drory, Systemadministrator der Unternehmensberatung Kürbers Informationsmanagement aus München und langjähriger Linux-Spezialist, die Zukunftschancen des offenen Betriebssystems auf dem Desktop.

Grundsätzlich gehe es nicht darum, welches Betriebssystem technologisch besser ist. "Was Linux fehlt, um Windows vom Thron zu stoßen, sind echte Killerapplikationen", vertritt Drory eine verblüffende Meinung. Dies gelte sowohl für den Heimbereich, in dem Spiele die treibenden Faktoren für Umsätze in der Hard- und Software-Industrie seien, als auch für den Einsatz in Unternehmen, in denen der Erfolg eines Betriebssystems mit Office-Paketen steht und fällt - und da sei der Haken.

Zwar existierten mit "Star Office" und "Applixware" technologisch gleichwertige oder gar bessere Pakete als mit Microsofts Suite. "Office 95" oder "Office 97" seien nicht deshalb so populär, weil sie die besten Produkte seien, "sondern weil Microsoft draufsteht". Drory: "Entscheider wollen unbedingt Produkte einsetzen, die sich auch bei Kollegen etabliert haben. Ein Unternehmen, das im internationalen Vergleich in Kontakt mit anderen Unternehmen treten muß, wird garantiert auf Microsoft Office zurückgreifen - schon alleine wegen der Kompatibilität der Dateien." Applixware sei jedoch alles andere als 100prozentig MS-Office-kompatibel.

Darüber hinaus sei der Aufwand für die bevorstehende Schulung der Applikationen nicht zu vergessen. Unter anderem weil das Gros der Benutzer quasi mit MS-Word bereits in den heimischen vier Wänden aufwachse, ist die Textverarbeitung auch in den Betrieben zum Standard avanciert.

Die Mängel einer dürftigen Oberfläche für Linux seien hingegen längst passé. Mit dem K Desktop Environment (KDE) und Gnome von der Free Software Foundation um Linux-Apostel Richard Stallman existierten zwei professionelle Oberflächen, die es jederzeit mit Windows oder Mac-OS aufnehmen könnten. Einziges Problem: "Ich befürchte, daß da zwei Oberflächen rivalisieren, die Standardisierungsaspekte ähnlich wie bei Unix wieder zunichte machen."

Anders als unter Windows seien Systemadministratoren mit dem offenen Betriebssystem in der Lage, Workstations so einzurichten, daß im gesamten Unternehmen stets die gleiche Oberfläche hochgefahren wird. Darüber hinaus ließe sich das Linux-System wesentlich effizienter einsetzen, weil mit X-Windows eine Schnittstelle existiere, auf die jeder Windows-Manager - ob KDE oder Gnome - aufsetze. Schluß macht Drory zudem mit dem Vorwurf, Linux fehle es an benötigten Hardwaretreibern: "X-Windows hat Treiber für nahezu sämtliche aktuelle Hardware integriert." Lediglich bei sehr exotischen Geräten "wie einem taiwanischen Barcode-Scanner" könne es noch Probleme geben, erklärt der Münchner Linux-Profi.

Interessant sei Linux jedoch in erster Linie aufgrund seines klaren Client-Server-Konzepts: "Ich kann Netscape auf dem Server im Keller des Unternehmens starten und auf meinem 386er PC im ersten Stock ausgeben. Das soll mir jemand mit Windows zeigen", so Drory.

Das Thema Support sieht er realistischer als mancher Linux-Enthusiast: "Natürlich ist der Support besser als bei jeder Hotline kommerzieller Hersteller", aufgrund der offenen Software und ihrer zahlreichen Spielarten seien die potentiell auftretenden Probleme allerdings auch vielfältiger. Drory nennt ein Beispiel: Innerhalb von zwei Monaten habe sich der Linux-Kernel von der Version 2.2.0 auf 2.2.9 verändert. Zehn Releases in 60 Tagen bedeuten eine rasend schnelle, womöglich zu schnelle Entwicklung. Drorys Fazit: "Ich glaube nicht, daß sich Linux in absehbarer Zeit auf dem Desktop durchsetzt." Server-seitig sehe dies ganz anders aus: "Seit die SAP R/3 auf Linux portiert hat, dürfte auch dem letzten Skeptiker klargeworden sein, daß es eine Alternative zum NT-Server gibt." R/3 und die großen Datenbanken seien die ersten wirklich großen Killerapplikationen, vor denen sich Microsoft so fürchtet, zumal die Migration von R/3 unter NT zu R/3 unter Linux keine allzu großen Aufwände bereite.

Andy Butler, Analyst beim Beratungsunternehmen Gartner Group, schlägt in dieselbe Kerbe: "Linux hat wesentlich weniger Chancen, sich im Client-Markt zu etablieren, als im Server-Geschäft." Das Open-Source-Betriebssystem werde auch künftig ausschließlich bei technisch versierten Anwendern auf Workstations installiert. Die breite Masse der "technisch nicht so kompetenten Benutzer oder der Unternehmen, die ihr tägliches Geschäft mit DV bewerkstelligen, werden Linux jedoch nicht auf den Desktops einsetzen". Diese Anwender erwarteten in erster Linie eine einfache Bedienung, umfangreiche Dokumentationen und einen First-Level-Support. Butlers ernüchterndes Fazit: "Alles in allem sehen wir keine weite Verbreitung von Linux auf Client-PCs in den nächsten fünf Jahren, sofern nicht Softwarehäuser, die derzeit Programme für Windows entwickeln, massiv in eine Entwicklung von Applikationen investieren.

Linux im Internet

Nachrichten rund um Linux

http://www.slashdot.orghttp://www.linux.dehttp://www.linux-verband.dehttp://www.linux-magazin.dehttp://www.linuxnews.com

Linux-User-Groups

http://www.linux.de/groups

K Desktop Environment

http://www.kde.org

US-Vereinigung von Linux-Anwendern und -Anbietern

http://www.li.org

Die Kathedrale und der Basar

(englisch)http://www.tuxedo.org/esr/writings/cathedral-bazaar/index.html

(deutsch)http://www.linux-magazin.de/ausgabe. 1997.08/Basar/basar.html

Forum von rund 80 deutschen Linux-Support-Firmen

http://linux-biz.de

Linux-Bibliothek in deutscher Sprache

http://www.lunetix.de

Microsoft, Mindcraft und Mauscheleien

Zu den weltweit größten Linux-Anwendern gehört die schweizerische Kernforschungsanstalt Cern. Nicht weniger als 700 Linux-Rechner - davon etwa 630 Open-Source-Clients - hat der Konzern mittlerweile im Einsatz. Damit ist Linux verglichen mit etwa 3500 Windows-95- und -NT-Systemen und 2300 Unix-Maschinen noch in der Minderheit. Aber Linux ist auf dem Vormarsch. Monatlich kommen 50 bis 60 neue Rechner mit der Linux-Distribution von Red Hat dazu.

Doch noch weniger als der großflächige Einsatz von Linux dürfte Microsoft ein kürzlich absolvierter Test zwischen NT und dem Open-Source-Betriebssystem schmecken. Anders als das Testinstitut Mindcraft unter Regie von Microsoft vor wenigen Wochen in einem von Szenekennern als parteiisch und unseriös kritisierten Test herausgefunden haben will (siehe CW 17/99, Seite 1), konnte Cern keine wesentlichen Leistungsunterschiede zwischen den beiden rivalisierenden Server-Betriebssystemen feststellen.

Zu einem noch peinlicheren Ergebnis für die Gates-Company kommt das französische Forschungszentrum Institut National de Recherche en Informatique et en Automatique nach einem Datenbanktest: Das Institut hat "Oracle 8" ohne Tuning auf Windows NT und Linux einem TPC-D-Benchmark-Test unterworfen, der komplexe Datenbankabfrage- und Mutationsroutinen miteinander vergleicht. Das Resultat: Windows NT war bis zu 35mal langsamer als die Linux-Variante. Die Web-Seite brach kurz nach der Veröffentlichung des Tests aufgrund des immensen Interesses zusammen.