Kreatives Chaos der DV-Experten am Ende Fuehrungskraefte liebaeugeln mit Benchmarking fuer Mitarbeiter

16.06.1995

Von Helmut Hofstetter*

Verbreiterung der Hierarchie und kraeftiges Sparen bei der Schulung der Mitarbeiter kennzeichnen die Situation der Personalentwicklung in DV-Abteilungen. Das Beratungshaus Hofstetter & Partner hat im Auftrag der CW DV-Verantwortliche und Personal-Manager befragt, wie sich die Personalpolitik auf den DV-Bereich auswirkt.

Mit Hilfe von Frageboegen und Tiefeninterviews wurde versucht, die Auswirkung der Lean-Management-Welle auf die betriebliche Realitaet zu erforschen. 150 Befragte kamen in die Endauswertung, 40 Prozent davon aus der Industrie, 30 Prozent aus Dienstleistungsunternehmen, 20 Prozent aus dem Handel und jeder zehnte aus einer staatlichen Institution.

Ist aus der Personal"entwicklung" eine klammheimliche Personal"abwicklung" geworden? Zumindest berichtet die Haelfte der Befragten von gezielten Entlassungen im IV-Bereich: Nicht nur technisches, sondern Human Downsizing ist in Zeiten der Kostenreduzierung angesagt; kein Wunder - machen doch Personalausgaben im Durchschnitt immerhin 35 Prozent der Gesamtkosten aus.

Interessant ist, dass dem bislang eher stimulierenden Instrument Potentialanalyse eine neue Stossrichtung zugeschrieben wird: Drei Viertel der Befragten berichten, dass damit heute Kollegen, auf die man am leichtesten verzichten zu koennen glaubt, aussortiert werden.

Die Frage ist, wie sorgfaeltig und unbeeinflusst eine derartige Selektion durchgefuehrt wird. Wer die Auswirkungen der gesetzlichen Sozialauswahl einerseits und die Macht innerbetrieblicher Seilschaften andererseits je erlebt hat, weiss, dass nicht unbedingt die Fittesten an Bord bleiben. Erfahrungen im Schwerwetter- Management sind in der Computerszene zudem wenig verbreitet, so dass kaum auf das Gleichgewicht des Portfolios an Human Resources geachtet wird.

Ohnehin ist die Gretchenfrage, ob und wie geeignete Nachfolger zur Verfuegung stehen, psychologisch und politisch verzerrt: Befragt man Manager, so glauben drei Viertel davon, dass fuer sie kurzfristig kein geeigneter Ersatz gefunden wird, dagegen meinen zwei Drittel der Mitarbeiter, dass sie ohne weiteres den Job ihres Chefs uebernehmen koennten.

An Bord bleiben nicht immer die Besten

"Lean" schwimmt auf einer gewissen Welle - Lean Cuisine, Lean Body, Lean Climbing, Lean Education, Lean Staff - und meint Verschlankung, also das Auskommen mit dem absolut Notwendigen. In der Praxis der Rationalisierung von Unternehmen versteht man darunter haeufig die Eliminierung hierarchischer Ebenen. Tatsaechlich berichten 75 Prozent der befragten DV-Leiter, dass sich die Fuehrungsspanne in ihrem Bereich verbreitert habe. So kommen heute auf eine Fuehrungskraft zehn bis 15 Mitarbeiter.

Am meisten gespart wird bei der Weiterbildung: 80 Prozent der Studienteilnehmer geben an, dass hier auf das absolute Minimum gekuerzt wurde. Zuerst spueren das natuerlich die Seminaranbieter. Wer sich nicht zeitig auf diesen neuen Trend eingestellt hat, zaehlt schnell zu den Havaristen. Vielleicht sind die Abkehr von der Bildung per Giesskanne und die Marktbereinigung ja sogar positive Effekte.

Gefragt nach den Auswirkungen der neuen IV-Strategien wie Client- Server und End-User-Computing faellt die allgemeine Irritation auf: Die Haelfte der befragten DV-Leiter bekennt sich zur Ratlosigkeit. Offensichtlich gibt es keine einfachen Leitsterne mehr wie IBM 370 oder VMS, sondern viele Biotope: SAP, Microsoft, Novell, Unix. Dazu ist der frueher ziemlich klare Auftrag an die DV, die betriebswirtschaftlichen Abrechnungsprozesse zu unterstuetzen, diffus geworden.

Die konzeptionelle Windstille wird oft durch operative Hektik ausgeglichen; fast alle setzen auf Fachschulung, ein bisschen Unix und DB2 fuer die Profis, etwas Windows fuer die Novizen. Kursanbieter, die das inszenieren, was gern gehoert wird, machen immer noch ein gutes Geschaeft.

Dramatischer zeigen sich die neuen Strategien der Informationsverarbeitung in den Umstrukturierungen: Die Abkehr von monolithischen, zentralistischen Strukturen bringt eine Umgruppierung der Mitarbeiter mit sich (bei 80 Prozent der Befragten), die meist von Umschulungsmassnahmen begleitet wird. Wo die Reise dabei hingeht, erscheint weniger klar: "Benutzerservices" und "Solution Centers" sind zwei Stichworte, aber ohne parallele Abbaumassnahmen geht es nicht.

Vielen Fachidioten fehlt unternehmerisches Denken

Und da auch auf Herstellerseite ein betraechtlicher Konzentrationsprozess tobt (Siemens - Nixdorf, NCR - AT&T, CAP - Debis, Central Point - Symantec), stellt sich fuer Computerfachleute die Frage, ob sie noch in der DV bleiben sollen und koennen.

Ein Hoffnungsschimmer koennte sich in der starken Zunahme (87 Prozent) von gemischten Workshops mit Anwendern und DV-Leuten abzeichnen: Geschaeftsprozess-orientiertes Handeln und interdisziplinaere Teams weisen den Weg, Unternehmen und Mitarbeiter fuer den Wettbewerb fit zu machen.

Auf die Frage "Welche Entwicklungen in der IV bereiten Ihnen die staerksten Sorgen" klagen 70 Prozent der Befragten ueber den schnellen Versionswechsel der Software. Standardanwendungen von Microsoft und SAP aendern sich schneller, als Hersteller und Anwender das "verdauen" koennen, und bei massgeschneiderten Eigenprodukten sind mittlerweile ueber 20 Prozent der vorhandenen Mitarbeiter allein mit Anpassung und Pflege beschaeftigt: Aus dem Anwendungsstau ist ein Altlastenproblem geworden.

Eine seit langem kritisierte Entwicklung bereitet zunehmend Sorgen: heterogene Inselloesungen - 62 Prozent der Interviewpartner nennen diesen Punkt. Zwar versucht man die vielen Eigenmaechtigkeiten immer wieder mit Standards in Griff zu bekommen - das Ganze gleicht jedoch eher dem Kampf gegen eine Hydra. In einem Luftfahrtkonzern sind drei verschiedene, untereinander nicht kompatible Textverarbeitungssysteme im Einsatz, und von einem Autohersteller wurde berichtet, dass man jeder Fachmesse mit Bangen entgegensehe, weil sich die Fachabteilungen von dort immer etwas "Nettes" mitbraechten.

Andererseits fuehrt auch das zwanghafte Ueber-einen-Kamm-Scheren zu teuren Kuriositaeten: In einem groesseren Bundesverband wird die Budgetierung mit dem Finanzmodul erfolgreich durchgefuehrt, nun soll auch die simple Reisekostenabrechnung automatisiert werden. Statt ein einfaches Spreadsheet zu nehmen, waehlt man den aufwendigen Weg und dockt das komplette SAP-HR-Modul an.

Wer bei den bisherigen Ausfuehrungen auf mangelhafte Strategie tippte, sieht sich von der Haelfte der Umfrageteilnehmer bestaetigt: Sie vermissen eine stringente Hard- und Softwarestrategie. Offensichtlich werden noch immer oder sogar noch mehr alte Prozesse auf neue Systeme gelegt, statt "Turning data into dollar". Hierzu passt, dass mit dem bereits erwaehnten SAP-HR-Modul das schlechte Image der Reisekostenstelle verbessert werden sollte (bezeichnend, was internen und externen Projektteams so alles an Problemloesungen einfaellt).

Der Leidensdruck der DV wird aber nicht nur in diesen eher technologischen Problemkreisen festgestellt: 69 Prozent der Befragten sehen die staerkste Herausforderung fuer die Personalentwicklungsarbeit der DV im persoenlichen Verhalten.

Schon in der Online-Untersuchung von 1992 kritisierte die Haelfte der DV-Chefs, ihre Mitarbeiter seien blosse Fachidioten ohne soziale und unternehmerische Kompetenz. Auch diesmal beschwert man sich ueber Einzelgaenger, Primadonnen, Recht-

haber und Experten, die ihr fachliches Know-how und ihre Verhaltensmuster nicht integrieren koennten. Das rein technokratisch ausgerichtete Denken und Handeln bei Beschaeftigten scheint mittlerweile sogar noch ausgepraegter zu sein.

Diese Defizite im Mindset und Verhalten finden vor dem Hintergrund einer konfliktreichen Fuehrungskultur (58 Prozent) statt, und es ist nicht ueberraschend, dass die Veroeffentlichungen von "Nieten in Nadelstreifen" bis "Die Leiden der Leitenden" boomen. Was tun?

In Mitarbeiterbefragungen wird als Patentrezept zur Loesung vieler Probleme gern "Training" angekreuzt. Auch Unternehmer setzen auf Schulungen, um die Kompetenz ihrer Human Resources zu verbessern und sicherer durch das schwerere Wetter des Wettbewerbs zu schippern. Die Inhalte und Form der Bildungsaktivitaeten haben sich signifikant veraendert: Kulturveraenderungen (Kaizen, Total Customer Care, TQM), Learning Organisation, Lernen am Arbeitsplatz und Coaching sind hier die Trends.

Eine weitere Frage der Studie lautete, ob sich angesichts dieser markanten Neuausrichtung auch die Qualitaetsmassstaebe fuer Trainings geaendert haben. Die Ergebnisse sind eher ernuechternd. Wie frueher fuehrt hier mit Abstand der Test durch Kollegen (71 Prozent), sie sind die Versuchskaninchen bei neuen Themen und Formaten. Neu ist, dass diese Kollegen sich nicht mehr im eigenen Unternehmen befinden (muessen): Unter dem Segel "Benchmarking" schaut man, was erfolgreiche Organisationen machen, und so mancher Unternehmensfuehrer ruft unverholen zu

"S.I.S" auf (steal ideas shamelessly).

Nur die Haelfte der befragten Unternehmen betreibt eine systematische Bildungsbedarfsanalyse, und ebenfalls nur die Haelfte macht sich Gedanken ueber Soll-ist-Profile bezueglich fachlicher, sozialer und methodischer Kompetenzen. Hier hat sich offensichtlich seit der ersten Weiterbildungsenquete (SCS 1984) kaum etwas geaendert. Man hat nur wenig Vorstellung davon, was man in sich schnell veraendernden Maerkten an Kompetenzprofilen morgen wirklich braucht, und scheut sich davor, durch individuelle Entwicklungsplanung Erwartungen zu wecken, die man haeufig nicht erfuellen kann.

Ein Hoffnungsschimmer koennte in der hohen Zahl zur Transfersicherung zu sehen sein. Zwei Drittel der befragten Unternehmen halten Meetings ab, die den Transfer des Gelernten in den betrieblichen Alltag foerdern sollen. Das Management hat also gemerkt, dass gezielte Nacharbeit einen hoeheren Return on investment bringt als die Methode, Trainingsabsolventen nur ueber die Guete des Seminarhotels und die Entertainment-Qualitaeten des Trainers erzaehlen zu lassen.

Qualitaetsgedanke hat sich noch nicht etabliert

18 Prozent der befragten DV-Manager geben zu, dass es in ihrem Haus keine besonderen Qualitaetssicherungsmassnahmen gibt. Da Fuehrungskraefte nicht gern zugeben, Geld aus dem Fenster zu werfen, ist hier eine hohe Dunkelziffer zu vermuten; die ISO-Welle hat den Personalentwicklungsbereich wohl noch nicht erfasst.

"Welche Ziele verfolgen Sie ueberhaupt mit Ihrer Personalentwicklung", fragten wir die Teilnehmer der CW-Enquete. 80 Prozent moechten damit das Leistungsverhalten ihrer Mitarbeiter verbessern. Das war nicht immer so: In der Online-Befragung von 1992 waren es nur drei Viertel und 1991 gar nur ein Drittel der befragten DV-Leiter, die darin das Instrument zu einer Steigerung der Produktivitaet sahen. Zeichnet sich hierin das Denken in "Wertschoepfungsketten" ab, naemlich nichts zu tun, was nicht einen Zuwachs an Wertschoepfung fuer das Unternehmen oder Nutzen fuer den Kunden bringt?

Auf jeden Fall ist das Thema Performance nicht mehr auf Systeme beschraenkt, sondern zu einem tabulosen Kriterium fuer die Human Resources geworden. Die Schonzeit, im Closed Shop seine persoenliche Kreativitaet auszuleben, ist endgueltig vorbei.

Der Sinn der Personalentwicklung ist "Turning data into dollars", und die Benchmark-Unternehmen zeigen auch, dass sich eine integrierte Personal- und Organisationsentwicklung mit einer DV- gestuetzten Wertschoepfungskette auszahlt.

Selbstverstaendlich sehen fast alle Unternehmen den Sinn der Personalentwicklung in der Anpassung der Qualifikation an die Notwendigkeiten des veraenderten Arbeitsplatzes. Sinn und Unsinn scheiden sich bei dieser Zielsetzung an der Frage, was tatsaechlich "notwendig" ist, welche Veraenderungen strategisch sind.

*Helmut Hofstetter ist Berater fuer Personal- und Organisationsfragen in Gauting bei Muenchen.