Bei Implementierung, Support und Service die Nase vorn

Kleine ERP-Anbieter zeigen keine Angst vor SAP & Co.

01.05.1998

Um deutsche mittelständische Standardsoftware-Anbieter steht es schlecht, glaubt man Analysten und den Marketiers der Softwaremultis von SAP, Baan und Co. Trends wie Internet, Data-Warehousing, Komponentensoftware und E-Commerce würden verschlafen, es fehle an Internationalisierung, das Management sei überaltert, die Investitionskraft gering, lauten die gängigen Vorwürfe. Doch viele kleinere Anbieter scheinen sich ganz wohl zu fühlen, sie legen sogar kräftig zu: 20 bis 30 Prozent Wachstum pro Jahr sind keine Seltenheit. Auch neue Technologien wie Java und Internet sind für die meisten keine böhmischen Dörfer.

"Die Situation ist für uns nicht so erdrückend, wie sie von Analysten immer beschrieben wird", sagt Hannes Merten, Vorstand der Soft-M AG, einem Anbieter von betriebswirtschaftlicher Standardsoftware für AS/400-Systeme. Der zunehmend härter werdende Wettbewerb im mittelständischen Softwaregeschäft, etwa durch das verstärkte Agieren von SAP, J.D. Edwards und SSA, bereitet dem Soft-M-Chef keine Kopfschmerzen: "Sobald wir mit Kunden über Funktionen verhandeln, haben wir gegenüber den Marketing-Maschinen unserer großen Konkurrenten die Nase vorn." Doch unterschätzen sollte man die Branchenriesen nicht, denn die Kampagnen zeigten zum Teil Wirkung: Immer häufiger stoße man auf Wettberber in Bereichen, an die vor Jahren noch kein Soft-M-Vertriebsmitarbeiter gedacht habe. Mertens Company beliefert schwerpunktmäßig die Pharma-, Chemie- und Lebensmittelbranche sowie den technischen Großhandel.

Trotz aggressiver Initiativen wie "Höherer Unternehmens IQ" - den die SAP Mittelständlern durch Einsatz ihrer R/3 Software verspricht - konnte Soft-M 1997 um 20 Prozent zulegen. Die 205 Mitarbeiter erwirtschafteten 40 Millionen Mark Umsatz. Für das laufende Geschäftsjahr rechnet Merten mit einem Wachstum von rund 30 Prozent. Noch sei "genügend Luft im AS/400-Markt". Doch ausschließlich mag er sich zur Verwirklichung seiner ehrgeizigen Pläne künftig nicht mehr auf diese Plattform verlassen: Die Münchner haben deshalb ein Projekt gestartet, in dem untersucht wird, ob neben der AS/400 auch Windows NT als Datenbank- und Applikationsplattform unterstützt werden soll - ein Zukunftsmarkt, dem sich Merten nicht verschließen will. Mit den Ergebnissen ist im Herbst zu rechnen. Am Front-end biete man ohnehin eine komplett neue grafische Oberfläche, die mit Visual Basic realisiert wurde. Auch dem Trendthema Sales Force Automation (SFA) stellt sich Soft-M: Eine PC-basierte 32-Bit-Lösung für Windows 95 und NT läßt sich für den Außendienst einsetzen und verfügt über eine zentrale Komponente, mit der der Anwender die Daten entsprechend konsolidieren kann, erklärt Merten.

Der Vorteil kleinerer Anbieter basiert auf dem Dienstleistungsangebot. Das zumindest beobachten das Institut für Automation, Informations-Management GmbH (AIP) in Hagen und das Aachener Forschungsinstitut für Rationalisierung (FIR). Klaus-Martin Gubitz, Prokurist des AIP, sieht deutliche Vorteile in den Bereichen Support und Service.

Dort können die kleineren Softwerker ihre Vorteile wie lokale Präsenz und gewachsene Strukturen gegenüber den Big Playern ausspielen. "Anwenderunternehmen, die unter einer bestimmten Größe liegen, werden nicht von der SAP selbst bedient." Dienstleistungen werden für sie vielmehr über "verlängerte Werkbänke", die Partner der Großen, erbracht, und da den richtigen mit dem geforderten Branchen-Know-how zu finden sei schwierig.

Gleichzeitig warnt Gubitz die mittelständischen Anbieter vor Euphorie: "Die Umstellung für das Jahr 2000 und die Einführung des Euro stehen bevor. Hauptsächlich deshalb rennen Anwender ihren Lieferanten derzeit die Türen ein." In zwei Jahren sei mit diesen Themen jedoch kein Geschäft mehr zu machen.

Felix Hamann, Analyst bei Input aus Langgöns, setzt noch eins drauf: Seiner Auffassung nach beschert insbesondere die antiquierte Haus-und-Hof-Lieferanten-Mentalität vieler kleinerer und mittlerer Anwenderfirmen den lokalen Anbietern derzeit noch gute Umsatzzuwächse: "Viele Unternehmen sehen in Software auch heute noch ein simples Hilfsmittel, um ihre Prozesse irgendwie zu unterstützen und die dringlichsten Probleme wie das Jahr 2000 zu lösen." Die lokale Präsenz und gewachsene Beziehungen zu den Lieferanten gäben Anwendern die Sicherheit, im Ernstfall nicht im Regen zu stehen.

Betriebe, die Software aber nicht nur als Problemlöser, sondern als strategisches Instrument verständen, mit dem sich neue Kunden und Märkte erobern ließen, seien mit dem Angebot mittelständischer Anbieter eher schlecht beraten. Es fehle vielen Kleinen neben einem mehrsprachigen Produkt an ausreichender Kapitalkraft, um in der internationalen Arena überhaupt tätig zu werden. Aus seiner Sicht ist das Argument kleinerer Betriebe gegen eine große integrierte Lösung in den meisten Fällen gleich: "Viele Anwender glauben, sie brauchen das mächtige Leistungsspektrum nicht, und vergessen dabei mögliche strategische Potentiale, die etwa durch Internet-Techniken, Optionen für E-Commerce und Data-Warehousing mit solchen Produkten geboten werden", sagt Hamann.

Helmut Polzer, geschäftsführender Gesellschafter der BIW, läßt diese Vorwürfe nicht auf sich sitzen. Er hat sein Unternehmen beispielsweise durch Kooperationen für die zunehmende Internationalisierung gerüstet und sich finanzstarke Partner ins Haus geholt: Im vergangenen Herbst stiegen die IBM und das Beratungsunternehmen Schitag Ernst & Young zu je einem Drittel bei dem Weinstädter Unternehmen ein. "Damit verfügen wir über eine weltweite Präsenz", sagt er. Zudem hat die IBM die aktive Vermarktung ihres totgesagten Mittelstandsprodukts "MAS 90" aufgegeben und die weitere Betreuung des Paketes an BIW übertragen. Selbst davon verspricht sich Polster noch einen weiteren Umsatzschub.

Technologisch habe man den Anschluß ebenfalls nicht verpaßt: MAS 90 und die eigene Lösung "Brain AS" sollen auf Basis von Komponententechnik, der Entwicklungsumgebung "Nextstep" und der "Common Apps Architektur" binnen der nächsten zwei Jahre zusammengeführt werden. Mittels dieser Baukastentechnik (Framework) sei das System für das Web-Zeitalter gerüstet.

Im Gegensatz zu BIW stillt die Breisacher Remboldt + Holzer GmbH (R+H) ihre Expansionsgelüste durch eigene Kräfte: Dazu gehören laut Jürgen Geppert, Marketing-Leiter der Gruppe, ein mittelstandgerechtes "Alles-aus-einer-Hand-Angebot" sowie eigenständige international agierende Geschäftsstellen. Die lokale Präsenz verhalf dem Spezialisten für die Automobilzulieferindustrie zu einem Projekt bei Siemens im mexikanischen Aguascalientes, obwohl der Konzern am nahegelegenen Hauptstandort Puebla seit 1996 SAP R/3 einsetzt. Siemens produziert in Aguascalientes Bordnetz-Module sowie komplette Kabelbäume für Autos und liefert diese an das Bordnetzzentrum in Puebla. Dort werden sie von VW Just-in-time in den New Beetle oder in den Golf Jetta eingebaut.

Beim Beetle beißt sich R/3 die Zähne aus

Die rund 70 Anwender in Aguascalientes waren jedoch nach einjährigen Einführungsversuchen und rund einer Millionen Mark für Implementierungsleistungen mit der Walldorfer Software nicht glücklich. Hauptkritik von Siemens: Das SAP-Team mußte aus Deutschland eingeflogen werden. Mit einer Mannschaft aus insgesamt zehn R+H- sowie drei Siemens-Mitarbeitern war die Automotiv-Software binnen sieben Wochen mit den entsprechenden Schnittstellen zu den SAP-Bausteinen Finanzen und Controlling installiert und startbereit.

Kürzerer Implementierungszeiten sind, so Analyst Hamann, derzeit tatsächlich noch ein Vorteil kleinerer Softwarelösungen. Der Vorsprung schmelze jedoch durch vorkonfigurierte Pakete, bessere Customizing-Werkzeuge und straff vorgegebene Einführungsleitfäden, wie sie SAP und Co. derzeit propagierten, dahin. Die Walldorfer bieten seit letztem Herbst "R/3 Ready to Run" zum Festpreis an. Dabei handelt es sich um Pakete, die speziell für die Anforderungen des Mittelstands geschnürt werden. Sie umfassen Hardware, Software und Dienstleistungen. Implementiert wird von Partnern. Ähnliche Angebote haben auch Baan ("Baan on Board") und Oracle ("Fast forward") seit der CeBIT '98 im Programm. "Damit können die Multis preislich mit dem Angebot kleinerer Anbieter mithalten", konstatiert Hamann.

Das Argument gilt für Norbert Voll, DV-Leiter der mittelständischen Mahr GmbH in Göttingen, nicht: "Was nutzt mir denn der niedrige Einstiegspreis, wenn sich die Fachabteilungen dann jahrelang mit der Anpassung ihrer Geschäftsprozesse an die Abläufe der Software herumschlagen." Das Unternehmen produziert weltweit mit über 1000 Mitarbeitern Meßgeräte. Zu den Hauptkunden zählen Firmen aus der Automobilindustrie und deren Zulieferer.

SAPs Mittelstandspakete für Grüne-Wiese-Projekte

Die verlockenden Mittelstandspakete der SAP eignen sich am ehesten für Unternehmen, die mit der DV auf der grünen Wiese beginnen, so Volls Urteil nach einer fast sechsmonatigen Einsatzuntersuchung, die vom Beratungshaus Plaut begleitet wurde. Nach dem Motto "Friß oder Stirb" müsse der Standard übernommen werden, ohne daß der Anwender auf organisatorische Gegebenheiten Rücksicht nehmen könne. "Wir haben unsere Geschäftsprozesse aber in den letzten Jahren stark optimiert und den Bedürfnissen unserer Kunden angepaßt", sagt der IT-Boß. Also müsse eine Software flexibel an die Abläufe der Anwender anpaßbar sein und nicht umgekehrt.

Die objektorientierte Architektur der Standardsoftware "Psipenta" des gleichnamigen Berliner Softwarehauses kam den Anforderungen der Göttinger daher sehr viel näher. Bedingt durch die Komponentenstruktur sowie durch mitgelieferte Tools kann das System ohne Programmierung an die unterschiedlichen Geschäftsprozesse angepaßt werden. Dadurch ist es mit geringem Aufwand möglich, das System gleichermaßen in produzierenden Unternehmensbereichen und in reinen Vertriebsniederlassungen zu nutzen.

"So erfolgreich einige mittelständische Standardsoftware-Häuser auch agieren, eine Konsolidierung in diesem Markt ist nicht von der Hand zu weisen", sagt AIP-Prokurist Gubitz. Untersuchungen der Hagener Uni zeigten, daß jährlich durchschnittlich rund fünf Prozent der hiesigen Software-Unternehmen vom Markt verschwänden, ob durch Kooperationen, Verschmelzungen oder Konkurse.

Das unterstreicht auch Dieter Wendel, Analyst der Diebold Deutschland GmbH in Eschborn. Sein Tip für die mittelständischen Software-Anbieter: "Die besten Chancen haben diejenigen, die die Lücken und Nischen im Angebot von SAP und Co. schnell füllen und nicht den Fehler machen, eine eigene integrierte Standardsoftware anbieten zu wollen.".

Bücher zum Thema

Übersichtswerke zum Thema integrierte betriebliche Standardsoftware:

- PPS- und integrierte betriebliche Standardsoftware, Institut für Automation, Informations- und Produktions-Management (AIP), Hagen, G. Fandel, P. Froincois, K.-M. Gubitz, Tel: 02331-987-0

- Marktspiegel: PPS-Systeme auf dem Prüfstand, Forschungsinstitut für Rationalisierung (FIR), Aachen, Tel: 0241-47705-0

- PPS-Zukunftsstudie, Verlag Management-Wissen Zukunft GmbH, Remseck, G. Schäfer, J. Wilmes, Tel: 07146-891403