Experten diskutieren IT-Strategien für globale Unternehmen

IT-Chefs müssen Komplexität erneut den Kampf ansagen

14.02.1997

Im Zeitalter virtueller Märkte kommt es, so die meisten Diskutanten, mehr denn je auf ein funktionsfähiges Corporate Computing an. Standardsoftware und organisatorische Flexibilität sowie moderne Client-Server-Architekturen und eine Vereinheitlichung der Systeme müssen dabei keine Widersprüche sein."Die Handelshemmnisse sind bis auf Rudimente abgebaut, die Grenzen für den Kapitalverkehr gefallen. Nimmt man dazu die gigantischen Fortschritte in der Informationstechnik, dann hat man die wesentlichen Zutaten, die die Globalisierung ausmachen. Weltweit agierende Unternehmen sind heute in der Lage, 24 Stunden am Tag an Entwicklungsprojekten zu arbeiten, weil sie, dem Lauf der Sonne folgend, die Daten innerhalb von Sekunden per Knopfdruck von einem Kontinent zum anderen befördern können." Dieses von der "Süddeutschen Zeitung" unlängst beschriebene Szenario ist (leider) noch keine Realität. Jedenfalls nicht aus der Sicht der IT-Verantwortlichen hierzulande, die sich mit einer aus der Wirtschaft längst bekannten Tendenz auseinandersetzen müssen - der zunehmenden Globalisierung.

Welchen Stellenwert hat die IT künftig in Unternehmen, die weltweit im Markt agieren wollen? Welche IT-Strategie ist angesichts der gleichzeitigen Forderung nach dem Abbau komplexer Strukturen und globaler Präsenz vonnöten? Muß die DV für die Anforderungen des Electronic Commerce lediglich optimiert oder im Zuge eines Re-Engineerings vom Kopf auf die Beine gestellt werden? Und last, but not least, was darf IT in Zukunft kosten? Mit diesen Fragen beschäftigten sich die rund 300 IT-Experten auf dem Strategieforum in Deutschlands Bankenmetropole und waren sich zumindest in einem Punkt einig: Zu besagtem Idealzustand, dem via Knopfdruck steuerbaren virtuellen globalen Unternehmen, ist es noch ein weiter Weg.

Dies gilt insbesondere für die Europäer, die nach Ansicht von Tom Sommerlatte, Senior Vice-President von Arthur D. Little, in vielerlei Hinsicht ins Hintertreffen geraten sind - nicht nur bei der Höhe der IT-Ausgaben (siehe Abbildung), sondern generell, was das Verständnis von der künftigen Rolle der IT im Unternehmen angeht.

Der Consultant forderte in seinem Vortrag die anwesenden IT-Chefs zum Umdenken auf. Sie seien heute nicht mehr in dem Maße wie früher getrieben von Einflüssen wie etwa Re-Engineering oder den Produktzyklen der Hersteller, sondern müßten selbst "über ihren spezifischen Verantwortungsbereich hinaus die Dinge vorwärtsentwickeln".

Sommerlatte sprach sich in diesem Zusammenhang vehement für die Verankerung eines selbständigen IT-Ressorts in den Vorständen der Unternehmen aus. Wer Begriffe wie "Digital Workplace" und "Cyber Community" ernst nehme, müsse die entsprechenden Konsequenzen ziehen. Die künftig virtuellen Märkte erforderten "bereits in der Phase der Produktkonzeption und -entwicklung Interaktivität mit dem Kunden".

Der IT-Bereich müsse daher nicht nur selbst über eine geeignete Strategie nachdenken, sondern zentral in die Entwicklung der Geschäftspolitik und der damit zusammenhängenden kunden- und anwendungsorientierten Lösungen eingebunden sein - mit entsprechenden Konsequenzen für die Gestaltung der IT-Ausgaben. Der Consultant wörtlich: "Es genügt nicht mehr, pauschal einen gewissen Prozentsatz vom Umsatz in den IT-Bereich zu investieren. Man muß erst Märkte sowie Umsatzpotentiale definieren und sich dann fragen, was benötige ich hierzu an IT und gibt es ein Return on Investment?"

Bei zwei deutschen Großunternehmen, die derzeit im einen Fall mehr, im anderen Fall weniger durch eine neue Ausrichtung der Konzernstrategie von sich reden machen, hat man zur künftigen Rolle der IT längst entsprechende Überlegungen angestellt, nämlich bei Daimler-Benz und Hoechst. Für Klaus Mühleck, Vice-President IT-Anwendungskonzepte bei Daimler-Benz, ist dabei nicht nur angesichts des Großreinemachens von Konzernchef Jürgen Schrempp in den Vorstandsetagen die Frage nach der Schaffung eines eigenen IT-Vorstandsbereichs offen, sondern das künftige Grundverständnis von IT. Sein Credo, das auch in einem dem Daimler-Benz-Vorstand vorliegenden Strategiepapier zum Ausdruck kommt, hört sich in diesem Zusammenhang zunächst geradezu banal an: "Ohne IT ist das Geschäft wirtschaftlich nicht mehr zu bewältigen."

Doch für Mühleck und seine Mitstreiter dürften, wie er den Teilnehmern der Konferenz berichtete, auch ohne "politische Fragen" die nächsten Wochen und Monate spannend werden. Es geht zum einen um die Neu- oder Umverteilung eines Etats von jährlich rund 2,8 Milliarden Mark und um mehr als 3000 Mitarbeiter. Und es geht vor allem um die Abbildung geänderter Organisations- und Produktionsabläufe im Spannungsfeld alter Legacy-Systeme und neuer Anwendungen oder, wie der Daimler-IT-Manager es formulierte, was von "ganzheitlichen Re-Engineering-Konzepten in der Praxis übrigbleibt".

Die Anforderungen, denen die IT in funktionalen Organisationen mit tayloristischen Strukturen genügte, waren Mühleck zufolge durch die Unterstützung vieler Hierarchiebenen und Schnittstellen gekennzeichnet. Heute spiele - gerade angesichts der im Konzern stattfindenden Reduktion von Geschäftsfeldern - die Unterstützung einzelner Prozeßabläufe die entscheidende Rolle. "IT muß an das Front-end", formulierte der IT-Experte etwas plakativ das künftige Szenario bei Daimler-Benz - jedenfalls dort, wo es Sinn macht und wo man es mit alten Strukturen kombinieren kann. Denn für Mühleck steht trotz aller (IT-)Aufbruchsstimmung im Konzern fest: "Man kann über Electronic Commerce und den Cyberspace reden, so lange man möchte. Wir werden noch geraume Zeit mit Legacy-Systemen arbeiten müssen, die einen Haufen Geld gekostet haben."

Die sich abzeichnende "IT-Revolution" bei Daimler-Benz skizzierte Mühleck wie folgt: Der Betrieb der eigenen IT-Strukturen wird noch stärker als in der Vergangenheit ausgelagert (Debis). Wo immer möglich, soll bei der Entwicklung neuer Automodelle oder dem Bau neuer Produktionsstätten eine auf die jeweiligen Anforderungen optimal zugeschnittene IT-Landschaft quasi auf der grünen Wiese entstehen. Der IT-Manager nannte als schon erfolgreich abgeschlossenes beispielhaftes Projekt das neue Mercedes-Werk in Alabama, wo nur noch 50 bis 60 Prozent aller IT-Strukturen auf Standardlösungen (IBM, Baan) basieren, der Rest besteht aus "adaptierten, selbstentwickelten Lösungen". Andere Töchter des Konzerns, etwa die Dasa, könnten im Rahmen einer "begrenzten Vielfalt" Insellösungen (Lotus Notes) einsetzen, aber es müsse eine Schnittstelle für ein konzernübergreifendes Reporting (R/3) und Basisdienste (X.400) geben.

Das mit der grünen Wiese wörtlich genommen hat man indes schon seit gut zwei Jahren bei der Hoechst AG. Dort will man, wie Ulrich Bos, vormals IT-Chef des Pharmakonzerns und jetzt Geschäftsführer der vor kurzem ausgegliederten beziehungsweise neu gegründeten Hoechst International Services GmbH (Hiserv), berichtete, spätestens im Jahr 2001 "das letzte Legacy-System" abschalten. In einer für deutsche Unternehmen beispiellosen Aktion wurden bei dem Chemieriesen unter anderem mehr als 100 Mainframe-Spezialisten auf R/3 umgeschult; am Front-end hat seit 1994 Microsoft (Windows/Office) weitgehend das Sagen. Für Bos ist dieser Kraftakt die Konsequenz aus einer kompletten Restrukturierung des ehedem in seinen Geschäftsabläufen zentral organisierten Hoechst-Konzerns, der weltweit dabei ist, seinen einzelnen Units die auf das jeweilige Land und den Markt zugeschnittene volle operative Verantwortung zu übertragen.

Legacy-Leute sollen Freaks in Schach halten

In Sachen IT-Strategie hatte der Frankfurter IT-Spezialist seiner Zuhörerschaft daher einiges mitzuteilen. Zum Beispiel den Erfahrungswert, daß es sich durchaus lohnt, eine "kulturelle Revolution" durch das "Zusammenwürfeln von Legacy-Leuten mit Client-Server-Spezialisten" anzuzetteln - "Sicherheit kontra Freaks", wie Bos es auf den Punkt brachte. Oder die Tasache, daß Standardsoftware durchaus ihre aufwandsbezogenen Grenzen hat; wenn es etwa um die Frage geht, ob "jede Bleistiftbestellung über die R/3-basierte Rechnungsprüfung laufen soll". Ansonsten steht man auch bei Hoechst vor dem Problem der Verknüpfung alter und neuer IT-Welten. Eine selbstentwickelte Toolbox names "Cobra" verrichtet hier Bos zufolge bis zum Abschalten des letzten Mainframes die Kärrnerarbeit.

Wie überhaupt beim Frankfurter IT-Event viel von der Komplexität vermeintlich zeitgemäßer DV-Lösungen die Rede war. "Tools statt Lösungen" war dabei eine Forderung vieler IT-Chefs, wenn es darum geht, aus dem oft zu engen Korsett der Standardsoftware mehr Flexibilität und damit mehr operative Selbständigkeit am Desktop zu erzielen - ein Anforderungsprofil, das sich geradezu zwangsläufig aus dem Modell des virtuellen Unternehmens von morgen ergibt. Und natürlich die ewig aktuelle Frage, was IT kosten darf. Zunächst soviel wie nötig, meinte Daimler-Manager Mühleck in bezug auf die "grüne Wiese" in Alabama. Wenn die Planer "im Kopf anfangs frei" seien, bleibe man, so seine Erfahrung, am Schluß unter 1,5 Prozent der Gesamtkosten. Wenn Daimler-Benz die Umstellung seiner IT-Landschaft abgeschlossen habe, könnten im Idealfall 15 bis 20 Mitarbeiter in der Holding das "Informations-Management konzernweit übernehmen". Eine - auch das machte die Konferenz deutlich - nicht nur, was die Frage der IT-Kosten betrifft, mehr denn je umstrittene Sicht der Dinge.