Ein Jahr GenAI-Revolution

Happy Birthday, ChatGPT!

30.11.2023
Von 


Manfred Bremmer beschäftigt sich mit (fast) allem, was in die Bereiche Mobile Computing und Communications hineinfällt. Bevorzugt nimmt er dabei mobile Lösungen, Betriebssysteme, Apps und Endgeräte unter die Lupe und überprüft sie auf ihre Business-Tauglichkeit. Bremmer interessiert sich für Gadgets aller Art und testet diese auch.
In den vergangenen zwölf Monaten hat ChatGPT die Landschaft der KI - und im weiteren Sinne der Technologie - grundlegend verändert. Ein Rück- und Ausblick.
ChatGPT und andere GenAI-Tools haben binnen eines Jahres für zahlreiche Überraschungen gesorgt.
ChatGPT und andere GenAI-Tools haben binnen eines Jahres für zahlreiche Überraschungen gesorgt.
Foto: SvRud - shutterstock.com

Als OpenAI am 30. November 2022 ChatGPT auf den Markt brachte, konnte wohl kaum jemand ahnen, dass die Lösung die Technologielandschaft binnen kurzer Zeit in ihren Grundfesten erschüttern wird. Aber tatsächlich: Dank ChatGPT & Co. entwickelte sich (generative) künstliche Intelligenz (KI) schnell von einer Randerscheinung zu einem frei verfügbaren Massenprodukt. Der Grund: Trotz einiger Totalausfälle und Pleiten konnte Generative AI (GenAI) Aufgaben übernehmen, die nie für möglich gehalten wurden.

Es besteht kein Zweifel daran, dass die Einführung von ChatGPT eine riesige neue Welle der Begeisterung über das Potenzial von KI in Unternehmen ausgelöst hat, erklärt Neil Ward-Dutton, Vice President bei IDC und zuständig für das Thema KI in Europa. Bereits vor dem Debüt von ChatGPT hätten einige Organisationen - einschließlich Google und natürlich OpenAI selbst - seit Jahren an generativen KI-Technologien gearbeitet, räumt er ein. Und natürlich werden andere Arten von KI-Technologien schon seit vielen Jahren in Unternehmen eingesetzt - zur Interpretation von Bildern und Videos, zur Erstellung von Vorhersagen und Empfehlungen, zur Implementierung ausgefeilter Optimierungen und vielem mehr.

Laut IDC-Analyst Neil Ward-Dutton sind für den KI-Durchbruch vor allem die einfache Nutzung und der kostenlose Service von ChatGPT verantwortlich.
Laut IDC-Analyst Neil Ward-Dutton sind für den KI-Durchbruch vor allem die einfache Nutzung und der kostenlose Service von ChatGPT verantwortlich.
Foto: IDC

Aber erst die benutzerfreundliche Konversationsschnittstelle und der kostenlose Service von ChatGPT hätten es geschafft, in außerordentlich kurzer Zeit ein hohes Maß an Bewusstsein für die Möglichkeiten der Technologie zu wecken, erklärt der IDC-Analyst.

Auswirkungen auf alle Märkte, Produkte und Kunden

"Die breite Verfügbarkeit großer Datensätze und Tools hat GenAI für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht", kommentiert Annette Zimmermann, VP Analyst im Team Emerging Technologies and Trends bei Gartner, das starke Interesse an ChatGPT und anderen GenAI-Lösungen. Dies treibe wie keine andere Technologie zuvor die Entwicklung von Unternehmensanwendungen und das Wachstum von Citizen Developern an. Die Zugänglichkeit von GenAI spiegele die Anwendungsfälle wider, die sie adressieren kann, so Zimmermann weiter, denn es gehe sowohl um Automatisierung und Effizienz (generative Agenten) als auch um intuitivere Erfahrungen (konversationelle KI) und Bequemlichkeit (etwa Zusammenfassungen).

"Diese beispiellose Technologieverbreitung wirkt sich auf praktisch alle Märkte, ihre Produkte und Kunden aus", erklärt die Gartner-Analystin. Infolgedessen werde GenAI zu erheblichen Verschiebungen der Wettbewerbskräfte führen und neue Geschäftsmöglichkeiten für Technologie- und Dienstleistungsanbieter erschließen. So prognostiziert Gartner, dass 80 Prozent der Anbieter von KI-Diensten bis 2025 bereichs- und branchenspezifische GenAI-Modelle entwickeln oder verwenden, um Unternehmen davon zu überzeugen, GenAI-fähige Dienste zu nutzen. 2023 waren es noch 0 Prozent.

GenAI bringt Unternehmen auf Trab

Die Nachfrage bei den Anwenderunternehmen ist vorhanden, wie ihr Branchenkollege Ward-Dutton anhand einiger Zahlen einer Studie darlegt, die IDC im August 2023 durchgeführt hatte. Die wichtigsten Ergebnisse:

  • In Deutschland arbeiten bereits 81 Prozent der befragten Unternehmen in irgendeiner Form mit GenAI. 25 Prozent hatten bereits Investitionen in Schulungen, Software und Dienstleistungen für die kommenden 18 Monate zugesagt.

  • 18 Prozent der deutschen Unternehmen haben das Gefühl, dass generative künstliche Intelligenz ihr Geschäft bereits verändert hat. Weitere 49 Prozent rechnen zumindest damit, dass GenAI in den kommenden 18 Monaten entweder einen signifikanten oder einen moderaten Einfluss auf ihr Geschäft haben wird.

  • 53 Prozent der Befragten berichteten, dass ihre C-Suite-Führungskräfte sich regelmäßig aktiv mit IT-Führungskräften über GenAI austauschen. Dabei interessiert sie insbesondere, wie GenAI sich auf die Kundenerfahrung auswirken kann (23,1 Prozent), sowie, wie es die Entscheidungsfindung (22 Prozent) und die Produktivität der Mitarbeiter (18,7 Prozent) verbessern kann.

  • In Deutschland wollen die C-Suite-Führungskräfte schnell handeln: 90 Prozent der Befragten gaben an, dass ihre C-Suite-Führungskräfte GenAI innerhalb von 18 Monaten in Anwendungen und Prozesse integrieren wollen.

"Wie man sehen kann, hat ChatGPT eine riesige neue Marktchance geschaffen", erklärt Neil Ward-Dutton, weshalb viele andere Anbieter in den Markt eingetreten seien, um kommerzielle GenAI-Modelle anzubieten. So sei OpenAI zwar ein wichtiger Akteur bei der Bereitstellung von Modellen, habe aber inzwischen Konkurrenz von AWS, Google und IBM sowie von anderen Spezialisten (in Deutschland etwa Cohere, Anthropic, Mistral, Inflection und Aleph Alpha) bekommen. Und Anbieter von Enterprise-Anwendungen wie SAP, Salesforce und ServiceNow nutzten Open-Source-Alternativen und gingen Partnerschaften mit einer Vielzahl von kommerziellen Modellanbietern ein, um GenAI-Funktionen in ihre Anwendungssuiten und Plattformen einzubetten.

OpenAI strebt nach Höherem

Der Unterschied zwischen OpenAI und den meisten seiner Konkurrenten, so Ward-Dutton: "Während sich diese in erster Linie auf die Entwicklung von Produkten für Unternehmen konzentrieren, ist OpenAI auch bestrebt, das zu entwickeln, was es 'AGI' (Artificial General Intelligence) nennt - ein Projekt, das viele Kommentatoren für sehr langfristig halten."

"OpenAI ist sowohl ein kommerzielles Unternehmen als auch eine Forschungsorganisation", fährt der IDC-Analyst fort. Und weil es sich zumindest teilweise auf diese langfristige Aufgabe konzentriere, sei das Unternehmen im Gegensatz zu seinen Konkurrenten deutlich weniger darauf ausgerichtet, die aktuellen Bedürfnisse der Geschäftskunden zu erfüllen. "Das bedeutet, dass OpenAI zwar den Markt geschaffen hat, den wir heute sehen, seine Zukunft als bedeutende Kraft auf dem Markt aber keineswegs gesichert ist", so Ward-Dutton.

Wie wackelig OpenAIs Position im Markt ist, zeigte sich auch Mitte November, als der Verwaltungsrat der Company erst CEO Sam Altman feuerte und dann nach Protesten und Abwanderungsbewegungen vieler Mitarbeiter wieder installierte. Nachdem Investor und Großkunde Microsoft den geschassten Altman und seine Gefolgsleute in der Zwischenzeit mit Handkuss aufnahm, kann man davon ausgehen, dass das Kapitel noch nicht zu Ende geschrieben ist.

Faszination trifft auf Halluzination

Und auch was das Thema Verantwortung und AI Safety angeht, ist noch einiges im Fluss, befindet Gartner-Analystin Zimmermann. In den letzten 10 Monaten hätten die Anbieter wöchentlich neue Iterationen ihrer Large Language Models (LLM - große Sprachmodelle) veröffentlicht, die im Mittelpunkt dieser GenAI-Ära stehen.

GenAI wirkt sich auf praktisch alle Märkte, ihre Produkte und Kunden aus, erklärt Annette Zimmermann von Gartner.
GenAI wirkt sich auf praktisch alle Märkte, ihre Produkte und Kunden aus, erklärt Annette Zimmermann von Gartner.
Foto: Gartner

Die von großen Investitionen und hohem Forschungsaufwand getriebene, rasante Entwicklung führe jedoch zum größten Problembereich - nämlich zu Halluzinationen, die zu unerwünschten Ergebnissen wie Voreingenommenheit, Fehlinformationen und letztlich Misstrauen führten, erklärt sie. Wenngleich Post-hoc-Methoden zur Verringerung von Halluzinationen eine immer wichtigere Rolle spielten, könne dieses Manko nur überwunden werden, wenn der Anbieter des Foundation-Modells Verantwortung übernehme und Maßnahmen ergreife.

Ob Regulierung hier ein wirksames Mittel darstelle, sei fraglich, so Zimmermann: "Da fast täglich neue Anwendungsfälle auftauchen, besteht die Herausforderung darin, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen immer einen Schritt hinter den neuesten technologischen Entwicklungen zurückbleiben. Unternehmen müssten selbst verantwortungsvolle AI-by-Design-Ansätze übernehmen und in Halluzinationsmanagement-Funktionen investieren, um die Modellleistung zu verbessern."