Neubau statt Renovierung

Fit für das Jahr 2020: Die Münchener Rück sorgt vor

10.07.1998

Die Münchener Rück probt den Ernstfall. 1999 wird das Backup-Rechenzentrum zur Jahr-2000-Testumgebung für die komplette DV des Rückversicherers, die Systemuhren gehen dann probeweise um Monate vor. "Das kostet vermutlich eine Menge Geld," fürchtet Udo Bauermann, Mitglied der Direktion Zentralbereich Informatik bei dem Rückversicherer. Doch nur so könne das Zusammenspiel aller 2000 Netz-, Hard- und Softwarekomponenten überprüft werden.

Die Vorbereitungen auf das Jahr 2000 laufen jedoch schon lange. Bereits 1990 unterzog die Rückversicherung ihre Anwendungen einer Bestandsaufnahme. Weg vom Mainframe lautete das Ergebnis. Doch nur ein Viertel der Systeme schien für eine Migration auf Client-Server-Systeme geeignet. Die verbleibenden 75 Prozent der damaligen Anwendungen sollten ausgetauscht werden; eine Hälfte davon gegen Eigenentwicklungen und die andere für die Standardsoftware R/3 von SAP.

Neubau statt Sanierung sei nur möglich gewesen, weil das Transaktionsvolumen der Münchener-Rück-Anwendungen, verglichen mit einer Bank oder einem Erstversicherer, gering ausfalle. Als Beispiel für eine solche Neuentwicklung nennt Bauermann die geschäftskritische Anwendung "Technisches Rechnungswesen", das die Abrechnungen mit den Kunden verwaltet. Das bereits neu programmierte Buchungssystem verarbeitet rund eine Million Datensätze pro Jahr.

Der Anwendung liegt eine Drei-Schichten-Architektur zugrunde, die die Präsentations- von der Logik- und Datenschicht trennt. Für die Tool-Auswahl auf der Präsentationsebene kam nur ein Produkt in Frage, das neben Windows NT auch den Presentation-Manager OSF/Motif unterstützte. "Die OS/2- und Unix-Interfaces und damit Plattformunabhängigkeit waren damals noch im Gespräch", erinnert sich Bauermann. Die Entwickler entschieden sich beim Technischen Rechnungswesen und der "Einzelrisikobestandsführung in der Lebensrückversicherung" sowie bei "ein paar kleineren Systemen" damals für den "Dialog Manager" der ISA Informationssysteme GmbH, Stuttgart.

Die Anwendungslogik wurde und wird noch auf HP-Unix-Servern weitgehend in Cobol implementiert.

Laut Bauermann sprachen mehrere Gründe für die Programmiersprache. Zunächst sei durch die Großrechner-Applikationen internes Cobol-Know-how vorhanden gewesen. Sodann habe es zahlreiche Tools gegeben, mit denen sich Code in dieser Sprache generieren ließ. Das erhöhe die Wartbarkeit der Anwendungen und beschleunige die Entwicklung, zumal Cobol zu einem großen Teil standardisiert sei. Für wissenschaftliche und technische Anwendungen eigne sich Cobol zwar nicht, doch die Münchener-Rück-Anforderungen seien in der Regel mit den Grundrechenarten abzudecken.

Während die Mainframe-Daten in "Sesam"-Datenbanken aus dem Hause Siemens liegen, basiert die neue Datenhaltung auf dem relationalen Datenbank-Management-System von Oracle. Bei der Neuprogrammierung entsteht dafür ein relationales Modell. Wo jedoch Altsysteme zu migrieren sind, soll sich möglichst wenig in der Anwendungslogik und in der Informationsstruktur verändern. Laut Bauermann übertragen die Entwickler die Datenfelder von der hierarchischen Datenbank nahezu eins zu eins in eine Tabellenstruktur. Ausnahmen bilden lediglich Datensätze, die für die Oracle-Datenbank zu lang sind.

Wie früher üblich, sind zwar auch in den Altanwendungen der Münchener Rück die Datenzugriffe hart codiert, doch steuern sie ein zentrales gekapseltes Zugriffsmodul an. Dieses ist in C geschrieben und koordiniert die Abfragen von rund 150 Programmen einschließlich der neuen Anwendungen auf 70 Datenbanken. Damit die migrierten Anwendungen auf die portierten Daten zugreifen können, müssen lediglich die jeweiligen Schnittstellen zu dem Zentralmodul geändert werden.

Die Rückversicherung beschäftigt in der Münchner Zentrale etwa 270 eigene DV-Fachkräfte. Dazu kommen noch einmal so viele Externe. "Mit diesen Beratern und Entwicklern decken wir unsere Spitzen ab", erläutert Direktionsmitglied Bauermann. "Allerdings bilden die vergangenen vier, fünf Jahren eine einzige Spitze." Diese sollte jedoch im Jahr 2001 gekappt sein, denn dann ist die DV bis auf das portierte Viertel nagelneu. Mindestens 20 Jahre könne sie Bestand haben, hofft der IT-Spezialist, der die DV-Systeme des Versicherungs-Versicherers bereits länger als zwei Jahrzehnte betreut.

Zahlreiche Analysten behaupten, daß die DV-Anpassungen an das Jahr 2000 so viele Ressourcen in den Unternehmen bindet, daß notwendige Erneuerungen nicht in Angriff genommen werden können. Während deshalb viele Firmen und Institutionen ihre Altanwendungen mit notdürftigen Jahr-2000-Flicken versehen, leistet sich die Münchener Rück, die bei ihrer Finanzlage nicht knausern muß, Neuprogrammierung. "Weder der Jahrhundertwechsel noch der Euro verschlingen unser Budget", sagt Bauermann. Die Münchener Rück habe einfach von vorneherein ein Drittel mehr für IT-Kosten eingeplant.

Der Euro und weitere DV-Probleme

Die Jahr-2000-Reparaturen an den 25 Prozent migrierter Software nennt Bauermann eine "reine Fleißarbeit", wenn sie auch DV-technisch aufwendiger sei als Anpassungen an den Euro. Das europäische Geld stelle für den Versicherungskonzern im wesentlichen eine zusätzliche Währung dar, obwohl neue Rundungsverfahren und eine höhere Genauigkeit vorgeschrieben werden. Die Umrechnungen erfordern sechs Nachkommastellen, was eine Umstellung der Cobol-Programme von Betrags- auf Gleitkomma-Berechnungen zur Folge hat. Insgesamt werde sich der Aufwand jedoch in Grenzen halten, spielt Bauermann das Problem herunter, da alle Währungsumrechnungen wie die Datenzugriffe über eine zentrale Servicekomponente laufen.

Neben der Euro-Einführung plagt sich Bauermann derzeit auch mit der Umstellung des Geschäftsjahres herum. Bislang bilanziert die Münchener Rück vom 1. Juli bis zum 30. Juni. Ab 1999 soll das Geschäftsjahr dem Kalenderjahr entsprechen. Das ist eine der Folgen, die die Fusionen der vergangenen Jahre, vor allem die Akquisition der Rückversicherung American Re, mit sich brachten (siehe Kasten "Der Konzern"). Diese erforderte darüber hinaus eine Umstellung der deutschen auf die internationale Rechnungslegung nach den amerikanischen General Accepted Accounting Principles (US-GAAP).

Der Aufkauf der American Re hat die Münchener Rück aber auch gezwungen, ihre Applikationen und Tools insgesamt auf internationale Akzeptanz und Verträglichkeit zu überprüfen. So genüge etwa der ISA Dialog Manager den Anforderungen nicht mehr, weil er nur regional verfügbar sei. Statt auf Plattformunabhängigkeit werde der Konzern künftig stärker als bisher auf die Microsoft-Werkzeuge und auf Windows NT als Clients setzen. Die Bürosoftware stammt ohnehin bereits aus der Microsoft-Welt. Die Entscheidung, welches Tool, Anwendungspaket und Gateway, welche Programmiersprache, Middleware und Betriebssystem-Plattform in die DV-Landschaft des Konzerns paßt, fällt eine Stabsstelle mit der Bezeichnung "Strategie und Architektur".

Nicht allein das Jahr 2000 sorgt somit dafür, daß sich der Konzern von Eigenentwicklungen trennt. Unter der Maßgabe Globalisierung hatte er zum Beispiel die Anwendung "Gesellschaftsinformationssystem" abgeschafft, über die Informationen zu Kunden abrufbar waren. Neben den Fakten über die Geschäftsbeziehungen enthielt das System auch Angaben zu den Vorlieben der Kundenvertreter von Musikinteressen bis zu Bewirtungshinweisen - leider für jede Landesgesellschaft separat. Wollten Betreuer sich über einen internationalen Kunden informieren, mußten sie sich auf Papier die Daten aus den verschiedenen Gesellschaften, die ihrerseits Vertretungen in zahlreichen Ländern haben, zusammensuchen. Das soll sich ab Ende dieses Jahres ändern. Dann wird ein Data-Warehouse mit Java-Applikationen fertig sein, das sich via Browser befragen läßt.

Globalisierung erfordert nicht nur neue Anwendungssysteme, wie Bauermann ausführt, sondern darüber hinaus neue Organisationsstrukturen. Dazu zählt ein verteiltes Call-Center, das ungeachtet der Zeitzonen Support rund um die Uhr gewährleistet. In die Entwicklung eines solchen globalen DV-Systems sollten prinzipiell Entwickler aller Konzernniederlassungen und nicht nur die Münchner eingebunden sein, betont das Direktionsmitglied.

Experten via Intranet aufspüren

Welche globalen Anwendungen im Konzern realisiert werden, bestimmt ein sogenanntes Steering Committee, das mit Vorstandsvertretern besetzt ist. Es entscheidet zudem von Fall zu Fall, aus welchem Standort der Projektleiter kommt. Dennoch kristallisieren sich Projektschwerpunkte für einzelne Niederlassungen heraus. Bespielsweise konzentriere sich Toronto, wo es eine große Entwicklungsmannschaft gebe, auf Data-Warehousing, die American Re in Princeton auf Netzwerke und die Münchener Rück in München hingegen auf Sicherheit sowie Intra- und Internet, so IT-Experte Bauermann.

Kern des künftigen Intranet soll eine Wissens- und Profildatenbank sein. Sie enthalte Daten über jeden Mitarbeiter und seinen beruflichen Hintergrund, erzählt Bauermann mit erkennbarer Begeisterung. Die Intranet-Datenbank könne ihm weiterhelfen, wenn er einen Kollegen brauche, der sich in Rückversicherungen von Lachsfarmen auskennt, oder er herausbekommen will, ob ein Tool oder ein Firewall schon einmal getestet wurde und mit welchem Ergebnis.

Mit der Intranet-Anwendung wird Expertenwissen für viele nutzbar, Synergien für das Unternehmen zeichnen sich ab. Das Intranet bekommt aber auch lokal begrenzte Informationen. "My Office" heißen diese Bereiche. "Für München gibt es das natürlich schon", so Bauermann. Es enthält etwa das "Personalhandbuch" der Münchener Rück. Die Mitarbeiter können dort unter anderem nachschauen, wieviel Sonderurlaub bei einer Hochzeit und bei langjähriger Betriebszugehörigkeit herausspringt. Zudem sind die Organisationseinheiten beschrieben. Schließlich erteilt ein Spezial Auskunft über die DV-Richtlinien - vom Jahr 2000 bis zum Intranet.

Auf neun Schwabinger Geschäftsgebäude ist die Zentrale der Münchener Rück verteilt. Sie sind zum Teil durch unterirdische Gänge miteinander verbunden, die Künstler gestaltet haben. Die "Kaulbachpassage Süd" verwandelte Maurizio Nannucci in ein blaues Wunder. Auf dem Boden steht in Lichtern geschrieben: "NOTISOPPOSEDARTSEESTRADESOPPOSITION".Quelle: www.art.dada.it/nannucci

Der Konzern

Die Münchener Rück kann auf eine 117jährige Firmengeschichte verweisen. Der Versicherungskonzern hat eigenen Angaben zufolge etwa 5000 Kunden in rund 160 Ländern. Er beschäftigt an seinem Hauptsitz und in weiteren 60 Städten weltweit mehr als 4500 Mitarbeiter. Mit 54,1 Prozent ist der Rückversicherer der größte Einzelaktionär der Ergo-Gruppe, die mit 21 Milliarden Mark Jahresprämie und rund 40000 Mitarbeitern die zweitgrößte deutsche Versicherungsgruppe bildet. Ihr gehören die Victoria/DAS- und die Hamburg-Mannheimer/DKV-Versicherungen an.

Im Geschäftsjahr 1996/97, das am 30. Juni endete, stellen rund 13000 Aktionäre der Münchener Rück ein Grundkapital von 814752000 Mark zur Verfügung. Mit einem Anteil von 25 Prozent ist die Allianz ihr größter Aktionär. Zugleich ist Allianz mit 10,1 Prozent an der Ergo-Gruppe beteiligt. Die Münchener Rück ihrerseits hält 25 Prozent der Allianz. Im vergangenen Jahr verleibten sich die Münchner die amerikanische Rückversicherung American Re ein.

DV-Inventur

Das Münchener Rück-DV-Inventar listet derzeit etwa 2000 verschiedene Hard- und Software-Komponenten auf. Noch läuft der Großteil der Anwendungen auf BS2000-Großrechnern, die Daten sind in "Sesam"-Datenbanken der Firma Siemens-Nixdorf gespeichert.

Doch der Versicherungskonzern will aus der Mainframe-Welt ausbrechen. Drei Viertel der Anwendungen sollen bis Mitte 1999 komplett neu entwickelt oder durch R/3-Pakete ersetzt sein. Die übrigen 25 Prozent werden lediglich portiert. Als Server sind HP-Unix-Rechner vorgesehen beziehungsweise Windows-NT-Plattformen für die Büroapplikationen. NT ist auch das favorisierte Client-Betriebssystem. In der Datenhaltung steigt die Münchener Rück auf Datenbanken von Oracle um. Sowohl im Großrechnerumfeld als auch beim Client-Server-Computing setzt das Unternehmen auf den Transaktionsmonitor "Open UTM" der Siemens-Nixdorf Informationssysteme AG.