Einkauf wird zur Querschnittsfunktion

18.06.2001
Von Nicolas Reinecke
MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Für viele Unternehmen ist E-Procurement die Eintrittskarte in die B-to-B-Welt. Schließlich lässt sich hier jede Menge Geld sparen. Doch ist E-Procurement mehr, nämlich ein Wandlungsprozess, an dessen Ende sich der Einkauf von seinen operativen Aufgaben löst und zu einer strategischen Querschnittsfunktion wird.

In den vergangenen Jahren hat die E-Welle nahezu alle Unternehmensbereiche erfasst. Dem elektronischen Einkauf kommt dabei eine besondere Rolle zu, weil die Vorteile des Mediums Internet hier am offensichtlichsten sind:

Globale Verfügbarkeit von Produkten und Dienstleistungen, maximale Transparenz des Angebots und bessere Verbindung von Angebot und Nachfrage. Kein Wunder also, dass die elektronische Beschaffung als Flaggschiff der B-to-B-Szene gilt. Ein Analyst drückte es folgendermaßen aus: "E-procurement is the Internet return on investment (ROI) super-star."

Derzeit werden die Möglichkeiten des Internet zwar nüchterner gesehen als noch vor wenigen Monaten - und das ist auch gut so, denn viele Internet-Projekte sind fehlgeschlagen, der Aktienmarkt hat sich merklich abgekühlt, und das Investitionsklima ist rauer geworden. Unternehmen planen ihre Internet-Aktivitäten heute wie andere Investitionsentscheidungen auch: nach strategischen und betriebswirtschaftlichen Grundlagen.

Beim Umsetzen einer E-Procurement-Strategie ist es mit dem Einrichten eines geeigneten Softwaresystems nicht getan. Vielmehr ist es äußerst wichtig, den Umsetzungspfad gut zu durchdenken - schließlich geht es um weit reichende organisatorische Anpassungen.

Umsetzung im Drei-Stufen-Modell

Erfolgreiche Unternehmen wie beispielsweise General Electric oder auch Oracle nehmen die erforderlichen organisatorischen Anpassungen schrittweise vor. Dabei orientieren sie sich an den verschiedenen Materialgruppen und der Komplexität der Einkaufsprozesse.

   Materialfokus von E-Procurement-Anwendungen.  
   Materialfokus von E-Procurement-Anwendungen.  


Dieses Vorgehen lässt sich mit einem Drei-Stufen-Modell beschreiben:

Die erste Stufe umfasst den Einkauf von indirektem Material, also von Produkten oder Dienstleistungen, die nicht unmittelbar zur Fertigung des Endprodukts benötigt werden, wie zum Beispiel Büromaterial oder auch Instandhaltung.

Auf den Stufen zwei und drei geht es um die Beschaffung von direktem Material, das zur Produktion benötigt wird, wie zum Beispiel Rohmaterialien, Komponenten oder auch Technologien. Ziel ist in der dritten Stufe das "e-enabled strategic sourcing", also die elektronisch unterstützte strategische Beschaffung.

Das bearbeitete Einkaufsvolumen ist auf allen drei Stufen unterschiedlich, es steigt von Stufe eins zu Stufe drei kontinuierlich an. Während es sich in Stufe eins bei der elektronischen Abwicklung nur um durchschnittlich fünf bis zehn Prozent des Gesamtbeschaffungsvolumens handelt, erweitert sich dieser Wert auf Stufe zwei um weitere 30 bis 40 Prozent. Der Löwenanteil des bearbeiteten Volumens liegt mit 40 bis 50 Prozent des Gesamtbeschaffungsvolumens in Stufe drei.

Mittelfristig ist zu erwarten, dass nahezu der gesamte Beschaffungsvorgang elektronisch abgewickelt wird. Dies setzt allerdings voraus, dass für die zweite und besonders für die dritte Stufe geeignete Softwareverfahren und -methoden entwickelt werden.
So wurden breite Erfolge im elektronischen Einkauf bislang dadurch verhindert, dass die Materialien und die Beschaffungsvorgänge zunehmend komplexer werden.

Die Schritte im Einzelnen

Abwicklung für indirektes Material:
Erfolgreiche Unternehmen beginnen den organisatorischen Wandlungsprozess im E-Procurement zunächst mit den einfacheren Einkaufsaufgaben im Bereich des indirekten Materials. Auf dieser Stufe geht es vor allem darum, die Effizienz der Prozesse zu steigern. Dies gilt vor allem dort, wo eine Vielzahl von Bestellern eine überschaubare Menge von Materialgruppen beschafft.
Klassisches Beispiel sind hier Büromaterialien oder einfache Dienstleistungen wie Hotel- oder Flugbuchungen, die entsprechend vorverhandelter Rahmenverträge direkt von Mitarbeitern über Online-Systeme bestellt werden können.

Hier eingesetzte Systeme sind typischerweise Katalogsysteme oder Anwendungen zur Abwicklung von Selbstbestellungen innerhalb des Unternehmens. In diesem Bereich tummeln sich viele Anbieter, die Softwarelösungen sowohl hinter der Firewall (lokal) als auch per ASP (remote) anbieten. Außerdem gibt es auf dieser ersten Stufe eine Reihe von Geschäftsmodellen - ob Einkaufsdienstleister oder Marktplätze-, die Services wie Volumenaggregation, Abwicklungsintegration, vollständige Fakturierung und Reklamationsabwicklung anbieten.

Abwicklung für einfacheres direktes Material:
Auf der zweiten Stufe lassen sich E-Procurement-Aktivitäten auf einfach zu beschaffendes direktes Material ausweiten. Dabei steht in den meisten Fällen ebenfalls zunächst die Effizienz der Prozesse im Vordergrund. Allerdings spielt zunehmend auch die direkte Senkung der Materialkosten, also die Effektivität, eine Rolle.

Hier eingesetzte Systeme sind im Wesentlichen Online-Auktionen oder automatische Anfrage- und Verhandlungssysteme. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem Handling der Transaktion. Im Vordergrund steht dann häufig nicht so sehr die Software als vielmehr die Fähigkeit der Organisation oder des Dienstleisters, diese sinnvoll einzusetzen.

Ein Beispiel sind Online-Auktionen. Da stellen sich Fragen wie: Welche Materialien können auktioniert werden? In welchen Lots? Mit wie vielen Anbietern? In wie vielen Runden?
Für den Bereich der Auktionen findet sich ebenfalls eine Vielzahl von Geschäftsmodellen und Anbietern. Da es sich bei den meisten reinen Softwarelösungen um relativ einfach umzusetzende Transaktionen handelt, ist davon auszugehen, dass in diesem Segment der Preisverfall der Angebote besonders ausgeprägt sein wird. Für Unternehmen bedeutet dies, dass die Auswahl des unterstützenden Dienstleisters immer wichtiger wird und die Systementscheidung zunehmend in den Hintergrund tritt.

Abwicklung für wichtiges direktes Material:
Der strategische Einkauf von wichtigen direkten Materialien wird bislang nur von sehr wenigen Unternehmen auf elektronischem Wege unterstützt. Dabei handelt es sich beispielsweise um Investitionen, Technologien oder Dienstleistungen, die eine enge Zusammenarbeit mit den Lieferanten erfordern, dafür aber relativ viel Spielraum für die Spezifikation lassen.

Derartige Materialien werden heutzutage mit hoch entwickelten Offline-Prozessen beschafft - mit einem eindeutigen Schwerpunkt auf dem Material und nicht auf dem Beschaffungsprozess.

Im Online-Bereich stehen für derartige Aufgaben bisher nur wenige Softwarewerkzeuge zur Verfügung. Während bislang direkte Materialien eher von der Supply-Chain-Management-Seite elektronisch verarbeitet wurden, ohne dabei den Einkaufsprozess zu unterstützen, ist zu erwarten, dass auch in diesem Bereich schon bald anspruchsvolle Softwarewerkzeuge entstehen werden. Wegen des hohen Einkaufsvolumens muss das Hauptaugenmerk dabei auf der Steigerung der Prozesseffektivität liegen und weniger auf der Verringerung der Prozesskosten.

Im Wesentlichen dürfte es sich hier zunächst um die Online-Versionen von bestehenden Offline-Verfahren handeln wie zum Beispiel Linear Performance Pricing (LPP) oder Multi-Supplier Benchmarking (MSB). Später ist allerdings auch hier damit zu rechnen, dass neue Verfahren beziehungsweise Applikationen hinzukommen, mit denen sich die Vorteile der beschleunigten Transaktionsabwicklung vollständig nutzen lassen.

Die Triebfedern des Wandels

In der Offline-Welt gibt es nur zwei Typen von Einkaufskanälen: den indirekten Bezug über Händler und den direkten Bezug von Lieferanten. Diese Auswahl erweitert sich mit E-Procurement dramatisch: Neben den Online-Versionen der klassischen Kanäle gibt es hier zusätzlich zahlreiche Marktplätze und in wachsendem Maße auch Einkaufsplattformen, die von Unternehmen hinter der eigenen Firewall aufgebaut werden.

Für das Einkaufs-Management eines Unternehmens wird es künftig von zentraler Bedeutung sein, diese vielen verschiedenen Kanäle und Produkte der entsprechenden Softwareanbieter als Portfolio zu managen. Entscheidungskriterium für die Auswahl eines Kanals werden sowohl das eingekaufte Material als auch der optimale Beschaffungsprozess sein.

Um die vielfältigen Beschaffungskanäle optimal in die unternehmenseigene IT-Infrastruktur zu integrieren, ist es sinnvoll, möglichst offene Architekturen bei den Einzelanwendungen zu wählen.
Der Expertenstreit zwischen Vertretern einer "Best-of-Breed"-Lösung und Verfechtern der integrierten Gesamtlösung ist in diesem Zusammenhang noch lange nicht entschieden. Aber es ist zu erwarten, dass sich die elektronische Einkaufsfunktion dem Bann des unternehmensinternen ERP entziehen wird und auf Web-basierende Plattformen ausweicht. Offene Architekturen dienen hier wegen ihrer vielseitigen Integrationsmöglichkeiten als optimale Basis.

Die Möglichkeiten des elektronisch unterstützten Einkaufs lassen sich nur realisieren, wenn auch erhebliche organisatorische Änderungen umgesetzt werden. Und gerade sie sind entscheidend für erfolgreiche E-Procurement-Strategien.

Effektive ERP-Installationen der vergangenen Jahren bestätigen diese Vermutung: Wenn ein Unternehmen oder Unternehmensbereich den organisatorischen Wandel auch umsetzen kann, so wird dies allgemein als wichtiger eingestuft als die eigentliche Systemauswahl.

Die notwendigen organisatorischen Änderungen werden hauptsächlich durch drei Elemente getrieben:

- Automatisierte Transaktion: Da einige einfache Transaktionen vollständig elektronisch abgewickelt werden können, führt die Einkaufsfunktion künftig lediglich die Konfiguration der Transaktion und das Erfolgs-Controlling durch.
Die Abwicklung dagegen erfolgt vollautomatisch, teilweise auch dezentral. Indizien hierfür sind bereits in Hightech-Industrien zu finden, wo einige Beschaffungsvorgänge - zum Beispiel die Beschaffung von Standardkomponenten - schon jetzt vollautomatisch abgewickelt werden, von der Bedarfsidentifikation über die Verhandlung bis hin zur Abwicklung der Transaktion.
Damit wird die Einkaufsfunktion von vielen zeitraubenden operativen Arbeiten entlastet.

- Durch die elektronische Abwicklung werden die Transaktionskosten gesenkt. Geringere Schnittstellenkosten fördern die Integration der Lieferanten, was wiederum dazu führen wird, dass diese noch früher in Produktentstehungsprozesse eingebunden werden können.
Das gesamte Unternehmen öffnet sich damit nach außen mit der Einkaufsfunktion als Manager der Schnittstelle.

- Transparente Information: Die neuen E-Procurement-Systeme machen die Einkaufsinformationen im Unternehmen weit gehend transparent. Diese Informationen werden damit im Rahmen eines Management-Informationssystems (MIS) einsetzbar; deshalb können sie auch viel stärker als bisher zur Entwicklung strategischer Entscheidungen herangezogen werden.

Ebenso stehen diese Einkaufsinformationen auch anderen Funktionen zur Verfügung, zum Beispiel Entwicklung und Produktion sowie der Logistik, und unterstützen damit auch in diesen Bereichen die Entscheidungsfindung.

Organisatorische Auswirkungen

Für die Einkaufsfunktion haben die genannten drei Elemente im Wesentlichen zwei organisatorische Auswirkungen:

Zum einen wird sich die Einkaufsfunktion mehr aus der Einzelaufgabe der "Auftragsbeschaffung" lösen. Und zum anderen wird der Einkauf künftig stärker funktionsübergreifende Aufgaben übernehmen - als Mittler zwischen anderen Unternehmensfunktionen sowie über das Unternehmen hinaus, zum Beispiel über mehrere Zulieferstufen hinweg.