Clay Shirky im Interview

"Eine offene Kultur zahlt sich langfristig aus"

25.03.2009

Wie unterscheiden sich OSS-Projekte und Firmen?

Open-Source-Projekte oder die Wikipedia kommen auch nicht ohne Hierarchie aus. Worin unterscheiden sie sich denn von der typischen Firmenorganisation?

Der vom Web am besten unterstützte Führungsstil ist der des wohlwollenden Diktators und nicht Demokratie. Dieser unterscheidet sich vom Management in Unternehmen in zweierlei Hinsicht. Erstens bestimmen das Geld und die Meinung des Chefs nicht die Richtung des Projekts. Das gilt selbst dann, wenn die Teilnehmer bezahlte Mitarbeiter eines Unternehmens sind, etwa Linux-Entwickler von IBM oder Novell. Das ist radikal neu im Kapitalismus, dass der Geldfluss und die intellektuelle Kontrolle entkoppelt werden.

Der zweite Grund liegt in den Lizenzbedingungen. Jeder, der dazu in der Lage ist, kann den Code nehmen und in seinem eigenen Projekt fortführen. Eine jederzeit mögliche Abspaltung setzt die Manager unter Druck. Sie wissen, dass sie keine andere Legitimation haben als die Akzeptanz der Projektbeteiligten. Sie können ihren Job nur aufgrund ihrer Kompetenz behalten.

Ist gerade Letzteres ein Grund, warum sich die Kooperationsmodelle aus dem Web schwer auf Unternehmen übertragen lassen, wie dies unter dem Begriff "Enterprise 2.0" propagiert wird?

In Open-Source-Projekten wird man keinen Projektleiter finden, der nicht selbst Programmierer ist. Das ist anders als in der kommerziellen Softwareentwicklung, wo der CEO aus der Finanzindustrie oder aus dem Marketing kommen kann. Wenn ein Open-Source-Manager eine bestimmte Entscheidung trifft, dann ist sie also nicht nur durch formale Autorität legitimiert.

Unternehmen fällt es hingegen in der Regel sehr schwer, etwa Softwareentwickler in das Top-Management zu befördern. Besonders börsennotierte Firmen können das Management-Modell von Open Source nicht kopieren, aber wie die IBM einen hybriden Ansatz wählen und das offene Konzept punktuell adaptieren. Das erhöht den Druck auf alle Projektmanager, weil jene, die selbst Programmierer sind, ein ganz anderes Verhältnis zu ihresgleichen aufbauen.

Ist somit die Aussicht auf höhere Produktivität der einzige Anreiz für Unternehmen, Kollaborationsmodelle aus dem Web aufzunehmen?

Der Wert, der von kooperierenden Individuen im Web geschaffen wird, wächst von Tag zu Tag. Damit Firmen davon profitieren können, brauchen sie eine bestimmte Kultur. In den nächsten fünf Jahren wird sich bei den Technologiefirmen die Spreu vom Weizen trennen und es wird sich zeigen, wer am besten aus diesem enormen Pool schöpfen kann.

Leute arbeiten vor allem aus Idealismus an Open-Source-Projekten oder an der Wikipedia. Sie selbst nannten Liebe als Triebkraft für das Web 2.0. Angestellte lieben in der Regel ihren Boss nicht, manchmal auch nicht ihre Kollegen. Warum sollten sie in einem solchen Kulturwandel beispielsweise ihr exklusives Wissen allen zugänglich machen?

Leute versuchen dann Informationen zu horten, wenn sie dafür belohnt werden. Gerade in technischen oder kreativen Berufen haben sich die meisten für ihren Job entschieden, weil sie ihre Arbeit gerne machen. Man kann natürlich ein Arbeitsklima schaffen, bei dem sie ihre Freude am Job verlieren. Aber es ist zweifellos ein Wettbewerbsvorteil, wenn sich die Mitarbeiter engagieren, weil sie sich in einer Umgebung wohl fühlen. Gerade talentierte Leute legen großen Wert darauf, dass ihre Fähigkeiten gefördert werden und dass sie sich laufend verbessern können. Der einfachste Weg, besser und smarter zu werden, besteht im permanenten Austausch mit Kollegen.

Aus diesem Grund engagieren sich viele Programmierer zum Ausgleich für den beruflichen Trott in Open-Source-Projekten. Sie möchten damit auch ihre Karrierechancen erhöhen. Bewirken sie aber nicht das Gegenteil, wenn sie so die Softwareindustrie schwächen?

Diese Ansicht beruht auf dem Trugschluss, dass nur eine begrenzte Menge an Arbeit existiere und dass eines Tages die letzte Zeile Code geschrieben würde. Unternehmen bezahlen Programmierer nun für andere Leistungen, beispielsweise die Anpassung von freier Software. Es geht nicht mehr darum, ein und dasselbe Problem tausend Mal in isolierten Projekten zu lösen. Vielmehr kann sie sich die Softwareentwicklung auf höherwertige Leistungen konzentrieren, wenn die Grundlagen ein für alle mal geschaffen wurden. Beispielsweise kann man mit der Implementierung von TCP/IP heute kein Geschäft mehr machen, aber erst die allgemeine und freie Verfügbarkeit des Protokolls hat die ungeahnten neuen Möglichkeiten des Internet geschaffen.

Zur Person

Clay Shirky ist Professor an der New York University und gibt im Rahmen des Interactive Telecommunications Program Kurse zu den Wechselwirkungen zwischen technischen und sozialen Netzen. Er publizierte in den letzten zehn Jahren eine große Zahl an viel beachteten Essays zu den Themen Open Source, Medien und Internet.

Im letzten Jahr erschien sein Buch " Here Comes Everybody: The Power of Organizing Without Organizations", das als eines der Grundlagenwerke zum Web 2.0 gilt. Es landete in der Amazon-Bestsellerliste unter den 50 meistverkauften Büchern in der Kategorie "Computer & Internet".