PC-Netz ersetzt den Großrechner

Downsizing beim Vertrieb der Münchener Abendzeitung

08.05.1992

Robert Bäurle ist freier Journalist in München.

Am Anfang stand die Idee: Unabhängigkeit vom Großrechner und mehr Flexibilität. Zwei Jahre später ist es soweit: Der Münchner Verlag "Die Abendzeitung" wickelt sein gesamtes Vertriebsgeschäft über eine Client-Server-Lösung mit einer SQL-Datenbank ab und spart dabei 60 Prozent der bisherigen Kosten.

In München geben lokale Blätter den Ton an: Neben "Süddeutsche", "TZ", "Münchner Merkur" erscheint hier die "Abendzeitung". 240000 Exemplare produziert der Verlag an Wochentagen, an den Wochenenden sind es sogar 290 000. Die meisten Zeitungen werden über Kioske, Austräger oder Zeitungskästen vertrieben, doch über 50 000 Abonnenten finden ihre Zeitung jeden Morgen im Briefkasten - bei Bedarf sogar weltweit.

Angesichts solcher Zahlen läßt sich die logistische Leistung der Vertriebsabteilung erahnen. Christoph Mattes, DV-Leiter der Abendzeitung, erzählt, daß sein Bereich noch bis vor eineinhalb Jahren an ein Großrechner-System angebunden war, obwohl es dort keine auf seinen Bedarf zugeschnittene Startdardsoftware gab.

Drei High-end-PCs dienen als Server

"Wir waren mit dieser Lösung nicht mehr zufrieden", beschreibt Mattes den damaligen Zustand. Die Bedürfnisse der Abendzeitung waren zu individuell. Es fehlte an Flexibilität." Im Sommer 1990 reifte deshalb der Plan einer eigenen Lösung heran. Adam und Eva heißen die Komponenten der gefundenen Lösung. Adam steht dabei für "Abonnementprogramm der Abendzeitung München", Eva bedeutet "Einzel-Vertriebsprogramm Abendzeitung", und weil es nahe lag, wurde Paradies zum Code-Namen des gesamten Projekts.

Die Hardwarebasis bilden derzeit drei Server und 20 daran angeschlossene Arbeitsplätze. Der Haupt-Server, ein 486er PC mit 33 Megahertz Taktrate und 1 GB Festplattenkapazität auf der SCSI-Platte, enthält die Versanddatei mit den Daten aller Abonnenten und Einzelhändler. Derzeit hat diese Datei eine Größe von etwa 210 MB. Auf zwei 386er Servern mit je zweimal 330 MB befinden sich die Abonnement- und Handelsdatenbank. Diese sind kreuzweise auf Sicherungskopien dupliziert, wobei die Kopien jedesmal neu erzeugt werden.

Eine permanente Spiegelung während der Bearbeitung wäre zu aufwendig und würde die Gesamt-Performance zu sehr belasten. Doch auch so ist die Datensicherheit gewährleistet: Denn alle Datenveränderungen werden zusätzlich zu den durchgeführten Änderungen in der Hauptdatei als Log-Files auf dem 486er gespeichert.

Beim Ausfall eines dieser Server ist die Datei auf jeden Fall geschätzt: Fällt der Haupt-Server aus, läßt sich die Abo-Datei mit der Backup-Datei und der Log-Files vollständig rekonstruieren. Fällt einer der beiden anderen Server aus, geschieht der Hauptdatei überhaupt nichts - lediglich der entsprechende Server muß ersetzt werden.

Bei den Vertriebsdaten wurde der umgekehrte Weg gewählt. Der Server, der die Log-Files der Abo-Daten enthält, dient hier als Haupt-Server, und der Server für die Abo-Daten enthält die Log-Files der Vertriebsdaten. Am Server hängen 20 PCs unter MS-Windows als Arbeitsstationen. Sie sind mit Festplatten ausgestattet, auf denen neben DOS, Windows und der Datenbankanwendung noch Excel und Word für Windows installiert wurden. Aufgrund der Raumnot in der Münchner Innenstadt sind Rechenzentrum und Datenerfassung in getrennten Gebäuden untergebracht, so daß die Gesamtlänge des Netzwerks 500 Meter beträgt. Mit Hilfe eines Repeaters konnten Probleme jedoch vermieden werden.

Das Konzept der drei Server erwies sich bislang in der Praxis als kostengünstig und sicher. Die Performance wird sowohl von Mattes wie auch den Anwendern an den Arbeitsplätzen als ausreichend beschrieben.

Interessanter als die Hardware ist die eingesetzte Software. Die drei Server arbeiten unter dem Betriebssystem OS/2, 1.3, für das Netzwerk wird der LAN Manager eingesetzt und als Datenbank SQL-Base von Gupta. Die Entscheidung für die Microsoft-Produkte OS/2 und LAN Manager begründet Mattes so: "Als wir uns im Sommer 1990 für ein System entscheiden mußten, lief das Zusammenspiel Betriebssystem, Netzwerksoftware und SQL-Server in dieser Kombination am reibungsärmsten."

Dieses Faktum bewahrte den DV-Leiter aber nicht vor Schwierigkeiten: OS/2 arbeitete in der Version 1.1 anstandslos, die Version 1.21 dagegen bereitete zu Beginn große Probleme - vor allem die Treiber erwiesen sich immer wieder als fehlerhaft. Mit der Version 1.3 dagegen gab es bislang noch keinen Grund zur Klage. Auch der LAN Manager erwies sich als unausgereift: Version 2.0 hatte viele Probleme, Version 2.1 dagegen läuft inzwischen stabil.

Keine Schwierigkeiten hatten Anwender dagegen mit Windows 3.0: Obwohl diese Version in Netzwerken als instabil gilt und auch die Performance im allgemeinen nicht sehr überzeugend ist, war Mattes zufrieden. Der Trick: Er setzte nicht die Netzwerkversion ein, sondern nur Einzelplatzssysteme von Windows. Die Textverarbeitung Word für Windows und die Tabellenkalkulation Excel sind auf jedem Arbeitsplatz installiert und greifen nur seiten auf Daten vom Server zu.

Ähnliches gilt für den Datenbankbetrieb. Auch die dafür mit SQL-Vision erstellte Anwendung ist auf jedem Arbeitsplatz installiert. Die Datenverwaltung erfolgt ausschließlich über den SQL-Server. In der Folge wird das Netz nur selten als File- und gar nicht als Daten-Server benötigt.

Die Großrechnerlösung basierte auf einem IBM-Mainframe und einer Software, die auf Basis der Datenbank Adabas von der Software AG erstellt worden war. Zuständig für Programmierung und Wartung war ein Softwarehaus.

Dem Großrechner von IBM entwachsen

Diese Lösung, die für einen anderen großen Verlag zugeschnitten war, wird von diesem heute noch eingesetzt. "Dieser Verlag verkauft weniger über Kiosk und Zeitungskasten, sondern setzt verstärkt auf Abonnenten", erklärt Mattes. "Auf diese Anforderungen ist die Software zugeschnitten."

Die "AZ" war über Terminals an diesen Großrechner angeschlossen. Sonderwünsche, mit denen die eigenen Probleme besser in den Griff zu bekommen wären, ließen sich nicht realisieren - die Großrechner-Software erwies sich als zu komplex. Daneben bestand auch noch die Abhängigkeit vom externen Softwarehaus, das bei allen auftretenden Schwierigkeiten einzuschalten war. Und da diese Lösung außerdem noch sehr teuer war, stand für Mattes bald fest, daß nur eine eigene Lösung den gestellten Anforderungen gerecht werden konnte.

Im Sommer 1990 fiel die Entscheidung, diese eigene Lösung zu realisieren, und bis zum erbst 1990 war ein exaktes Pflichtenheft erstellt. Dieses umfaßte die Abonnentenerwaltung und die komplette Buchhaltung.

Die Abrechnung sollte monatlich, vierteln, halb- und ganzjährlich erfolgen. Vorausgesetzt wurde dabei eine monatliche Kapazität von mindestens 40 000 maschinellen und 3000 manuellen Buchungssätzen sowie von 4000 manuellen Datenbankbewegungen. Eine weitere Forderung war eine grafische Benutzeroberfläche, damit die Lösung so bedienerfreundlich wie möglich ausfallen konnte.

Als Datenbanksystem kamen drei Produkte in Betracht: SQL-Base von Gupta, der Oracle-Server sowie der SQL-Server von Sybase und Microsoft. Oracle war schwer handhabbar - seine Herkunft vom Großrechner erwies sich immer wieder als Handikap. Für den SQL-Server gab es zum Zeitpunkt der Entscheidung noch keine Produktfreigabe - aufgrund der häufig nicht eingehaltenen Versprechungen bei fast allen Herstellern schien die Entscheidung für ein unfertiges Produkt als ein zu großes Risiko für den DV-Verantwortlichen.

Blieb SQL-Base von Gupta, das weniger aufgrund der durchaus vorhandenen Leistungen, sondern durch SQL-Vision überzeugte. Dieses Datenbankentwicklungs-Tool schien geeignet, die benötigte Lösung in kürzester Zeit zu realisieren. Da das Produkt im Sommer 1990 nur SQL-Base unterstützte, stand die Entscheidung schließlich fest.

Schwieriges Zusammenspiel verschiedener Komponenten

Innerhalb von neun Monaten entstand mit einem Aufwand von insgesamt 18 Mannmonaten die gewünschte Lösung. Dabei handelte es sich nicht um eine 1:1-Umsetzung der existierenden Mainframe-Datenbankanwendung, sondern um eine komplette Neuentwicklung, die exakt auf die Bedürfnisse des "AZ"-Verlags zugeschnitten ist. 90 Prozent wurden dabei mit SQL-Vision erstellt, etwa zehn Prozent sind in Microsoft C geschrieben. C und das Windows Development Toolkit kamen vor allem dort zum Einsatz, wo es auf hohe Geschwindigkeit ankam - bei Schnittstellen zum Beispiel.

Die relativ kurze Entwicklungszeit für diese komplexe Lösung täuscht ein wenig über die aufgetretenen Schwierigkeiten während der Entwicklung hinweg. Vor allem die Abstimmung zwischen Windows, Netzwerk, Datenbank und OS/2 bereitete immer wieder Probleme. Neben echten Programmfehlern, die oft nicht auf Anhieb zu lokalisieren waren, erwies sich auch das Zusammenspiel der Komponenten als problematisch. Die Netzwerkkarten von Western Digital, die als sehr zuverlässig gelten, verursachten aufgrund fehlerhafter Treiber sogar so große Probleme, daß sie gegen Karten von Siemens ausgetauscht werden mußten.

Auch scheinbare Kleinigkeiten erwiesen sich als große Hürde. So protokolliert SQL-Base zwar alle Vorgänge innerhalb der Datenbank in Log-Dateien, so daß sich bei Problemen die Ursachen anhand dieser Eintragungen herauskristallisieren. Da diese Eintragungen aber nicht dokumentiert sind, ist dieses Unterfangen sinnlos. Auch Mattes kapitulierte letztendlich vor etlichen MB undokumentierten Protokollen.

Dennoch lobt er die Zusammenarbeit mit Gupta: "Sie hatten für alle unsere Probleme ein offenes Ohr, und bei echten Schwierigkeiten bekamen wir schnell Hilfe." Ein ähnliches Lob zollt er SQL-Vision: "Das Programm besitzt zwar noch einige kleine Fehler, doch insgesamt hat es sich bewährt." Trotzdem warnt er davor, die Probleme bei der Erstellung eigener Lösungen zu unterschätzen: "Es genügt nicht, sich nur mit dem Programm auszukennen. Ausgezeichnete SQL-Kenntnisse sind genauso notwendig wie das Beherrschen von C."

Sukzessiver Umstieg auf die PC-Umgebung

Im Juli 1991 war die Lösung einsatzbereit. Die Umstellung erfolgte jedoch nicht sofort, sondern über einen Zeitraum von drei Monaten. Währenddessen wurden die Daten der Abonnenten vorn Großrechner übernommen und die Mitarbeiter auf das neue System geschult. Die Erfassung erfolgte parallel, und der und auftretende Fehler in der neuen Software wurden sofort behoben. Dabei handelte es sich aber meist nur um Kleinigkeiten. Seit September 1991 arbeitet der "AZ"-Verlag ausschließlich mit der eigenen Lösung.

"Wenn Mitarbeiter von einem Großrechner-Terminal auf einen PC-Arbeitsplatz wechseln und sich die gewohnten Tasten plötzlich nicht mehr an den gewohnten Plätzen auf der Tastatur befinden, dann gibt es schon Widerstände", schmunzelt Mattes über die Hauptschwierigkeiten bei der Umstellung, die jedoch dank der Lernbereitschaft der Mitarbeiter bald vergessen waren.

Die Kostenvorteile sind offensichtlich

Die Vorteile dagegen können sich sehen lassen. Neben der optimal angepaßten Lösung an die eigenen Bedürfnisse ergab sich eine Kosteneinsparung von über 60 Prozent, so daß sich die gesamte Investition bereits nach einem einzigen Jahr voll amortisiert hat.

Komfort und Schnelligkeit waren die beiden wichtigsten

Anforderungen bei der Entwicklung. Für den Komfort sorgt die grafische Benutzerfürung von Windows. Das gilt auch für die darunter laufen Textverarbeitungssoftware Word und für das Excel-Spreadsheet. Die Performance der Datenbank stellt den DV-Leiter zufrieden - SQL-Base läuft genauso schnell wie zuvor Adabas auf dem Mainframe. Windows bildet hinsichtlich der Performance noch eine nicht allzu gravierende Schwachstelle: "Windows 3.1 ist für uns derzeit kein Thema."

Bei dem engen Terminplan der täglich erscheinenden "AZ" ist das Funktionieren einer Lösung wichtiger als der permanente Einsatz neuester Technologien. Wird etwa der Bundeskanzler morgens mit faulen Eiern beworfen, kann die "AZ" Auflage kurzfristig erhöhen. Ab 18.30 Uhr beginnt die Auslieferung, und bis 23 Uhr sind Aktualisierungen möglich: Im Lauf des Abends werden drei verschiedene Varianten des Boulevardblattes aufgelegt.

Aufgrund der positiven Erfahrungen mit der Abonnementverwaltung Adam wurde schon bald Eva, die Lösung für den Handel, ins Leben gerufen. Sie ermöglicht es Grossisten, bis mittags um 12 Uhr die aktuelle Bezugsmenge festzulegen - in Abhängigkeit von der Schlagzeile und der dadurch erwarteten Absatzmenge.

Das Projekt dauert rund ein halbes Jahr

Neben der Verwaltung der Grossisten erfolgt auch die Verkaufssteuerung der Bahnhofsbuchhandlungen, der Zeitungskästen, der Abendverkauf und der Auslandsvertrieb nach Österreich, der Schweiz, Frankreich, Italien und Ungarn über Eva. Neben 1500 Stammsätze verwaltet Eva die Objektdaten der "AZ München", der "AZ" Nürnberg und des "Münchner Stadtmagazins", die Remissionserfassung sowie die Buchhaltung im gleichen Umfang wie Adam - allerdings mit wöchentlicher Abrechnung.

Die Umsetzung des Pflichtenheftes für das Programm Eva das im Herbst 1991 erstellt wurde, zu einem laufenden System dauerte bis März 1992. Zusammen mit Adam bildet es auch die Grundlage für den Versand. Aus Abo- und Händlerdaten lassen sich täglich die Versanddaten aufbereiten: Mehr als 4000 Lieferscheine für die Grossisten werden innerhalb von zweiten für die Abonnementauslieferung übermittelt das System derzeit noch an den Großrechner eines anderen Münchner Verlags, wo ein Tintenstrahldrucker die Zeitungen versandfertig adressiert.

Insgesamt ist Mattes mit derzeitigen Lösung zufrieden. "Wir haben im täglichen Betrieb keine Probleme." Trotzdem denkt der DV-Leiter bereits die Zukunft.

Obwohl Microsofts LAN Manager inzwischen reibungslos läuft, wurde das Konkurrenzprodukt Netware von Novell probeweise in Betrieb genommen. Damit, so hat Mattes festgestellt, läßt sich die Transaktionsrate von 24 auf 70 Transaktion je Sekunde erhöhen.