Die PC-Anwender brauchen mehr als ein besseres Betriebssystem

Die virtuelle Bildschirmwelt muß die reale Welt imitieren

26.06.1992

Für weltweit 300 Millionen Menschen dürfte der Bildschirm, immer häufiger ein PC-Monitor, das wichtigste Werkzeug für die tägliche Arbeit sein. Wie für jeden Handwerker sind die genaue Kenntnis und die Beherrschung des Werkzeugs äußerst wichtig für Qualität und Effizienz der Arbeit.

Was für den "Hand-Werker" ein Leichtes ist, nämlich sein Werkzeug zu greifen und seine Geschicklichkeit im Umgang mit ihm stetig zu verbessern, ist für den "Bildschirm-Werker" ungleich schwieriger. Die handwerklichen Eigenschaften eines Hammers oder eines Meißels sind zum Großteil über dessen Oberfläche erfaßbar. Die Benutzeroberfläche eines Softwareprodukts ist jedoch eine virtuelle, künstlich geschaffene Realität, in der sich ein am Bildschirm arbeitender Mensch zurechtfinden muß.

Der Umgang mit dieser virtuellen Realität bedeutet für viele Menschen eine Konfrontation mit einer aus dem täglichen Leben unbekannten Erfahrungswelt. Die Vorstellungen über die ideale Gestaltung dieser künstlichen Welt gehen weit auseinander - kein Wunder auch, wenn man bedenkt, welche unterschiedlichen Erfahrungen und Kenntnisse jeder Benutzer mitbringt. Vom EDV-Laien bis zum Profi ist alles vertreten.

Erste Forschungsprojekte schon in den 70er Jahren

Bereits lange vor dem Auftauchen der ersten Personal Computer versuchte man Anfang der 70er Jahre am Xerox-Forschungsinstitut PARC mit dem Produkt "Star", die künstliche Realität der Benutzeroberfläche einer Software so weit wie möglich der wirklichen Welt anzunähern. Die wirkliche Welt, das ist bis heute der Schreibtisch geblieben, auf dem man die Gegenstände des täglichen Umgangs - Notizblock, Taschenrechner, Karteikasten etc. - nach dem persönlichen Geschmack und Arbeitsstil anordnen und verwenden kann.

Die Gegenstände - am Bildschirm durch Sinnbilder, sogenannte Icons, dargestellt - können mittels einer Maus gegriffen und direktmanipulativ in Anspruch genommen werden. Man klickt einfach auf die Textstelle innerhalb des Wordprocessors, die verändert werden soll, oder verschiebt das Sinnbild einer Datei in den Papierkorb, um diese zu löschen. Zunehmend setzt sich hierfür auch der Begriff Graphical User Interface (GUI) durch. Cut & Paste ermöglicht die Integration von GUI-Anwendungen: Das Ergebnis einer Datenbankabfrage wird beispielsweise in den aktuellen Wordprocessor-Text kopiert.

Für die an die Realität angelehnte Gestaltung einer "Desktop"-Oberfläche ist man jedoch in dem für zeichenorientierte Terminals üblichen Raster von 80x24 Zeichen sehr schnell am Ende. VGA-Bildschirme mit Auflösungen von etwa 600x800 Bildpunkten oder adäquate Bildschirm-Terminals sind hier absolutes Muß. Mit ihnen konnten grafische Benutzeroberflächen Realität werden.

Der rasante Fortschritt bei der Entwicklung geeigneter Hardware, verbunden mit erschwinglichen Preisen, ebnen den Weg für den Einsatz von GUIs im großen Stil. GUI-Anwendungen unter Microsoft Windows haben im Bereich der PCs enorme Popularität gewonnen. Dieser Trend erfaßt auch größere und leistungsfähigere Rechnerumgebungen, insbesondere im Unix-Bereich.

Die Open Software Foundation (OSF) hat 1988 die grafische Benutzeroberfläche OSF/ Motif entwickelt, die heute im Unix-Segment eine bestimmende Größe bei der Entwicklung von GUI-Anwendungen - darstellt. Und deren Zahl ist beträchtlich: Das Marktforschungsunternehmen IDC schätzt, daß 1992 bis zu 70 Prozent aller neu entwickelten Software-Produkte mit einer grafischen Benutzeroberfläche ausgestattet sein werden. Nicht unerheblich beteiligt an der zum K.o.-Kriterium gewordenen Forderung nach einer grafischen Oberfläche auch unter Unix sind natürlich die PCs, allen voran Apples Macintosh-Computer.

Allerdings kommt bei Unix GUIs gegenüber MS-Windows ein entscheidender Vorteil des Betriebssystems Unix zum Tragen: das Multitasking. Unix erlaubt den gleichzeitigen Ablauf mehrerer Programme "an einem Bildschirm" in mehreren Fenstern. Erst durch diese Fähigkeit kann der Anwender die Möglichkeiten einer grafisch orientierten Benutzeroberfläche voll ausschöpfen. Doch soll zuerst die Funktionsweise eines GUI erklärt werden.

OSF/Motif ist eine Funktionsbibliothek, die zur Realisierung eines GUI in die Anwendung eingebunden wird. Grundlage von OSF/Motif ist das X-Window-System, welches eine logische Trennung zwischen der unter Unix ablaufenden GUI-Anwendung und der darstellenden Grafik-Hardware definiert. Zwischen beiden Instanzen wird mit dem X-Window-Protokoll eine Kommunikationsvereinbarung getroffen, auf deren Basis können einfache Grafikdienste, wie zum Beispiel das Zeichnen von Linien, in Anspruch genommen werden.

Oberflächen arbeiten nach Client-Server-Prinzip

Ein "Fenster" ist dabei die Grundlage und das Darstellungsziel jeder Grafik-Operation. Fenster werden unabhängig voneinander am Bildschirm dargestellt und haben eine bestimmte Ausdehnung und Position. Sie sind kleine Bildschirme im Bildschirm, die auch einander verdecken können, ohne daß dadurch Anwendungsfunktionen beeinflußt werden.

Was in einem Fenster dargestellt wird, ist vollständig der Anwendung überlassen. Beim Design von GUI-Anwendungen ist deshalb von großer Bedeutung, daß jedes Fenster einen klar definierten und für den Benutzer leicht erfaßbaren Charakter hat.

Hauptfunktionen der GUI-Anwendung werden auf diese Weise mit bestimmten Fenstern assoziiert. Deren Größe und Position kann der Benutzer jederzeit in beeinflussen, um seinen persönlichen GUI-Schreibtisch zu gestalten. OSF/Motif hat hier für einen OSF/Motif-Window-Manager, der unabhängig von der GUI-Anwendung eine Benutzeroberfläche für die direkte Manipulation von Fenstern mit der Maus bereitstellt.

Das X-Window-System und damit auch OSF/Motif basieren auf einer Client/Server-Architektur. Der X-Server stellt innerhalb dieser Architektur die Darstellungsdienste auf der jeweiligen Grafik-Hardware bereit. Er verkapselt die Hardware-spezifischen Eigenschaften und vermittelt diese dem Client, das ist die jeweilige OSF/Motif-Anwendung, über eine genau definierte Schnittstelle.

Über die Konsistenz dieser Schnittstele wacht ein Hersteller-übergreifender Verbund, das X-Konsortium. Dieses Gremium stellt insbesondere eine genaue Versionsführung sicher. Die aktuelle OSF/Motif Version 11 basiert auf der X Version 11 Release 4 (X11R4). Die OSF/Motif Version 1.2, die demnächst in Europa erhältlich ist, basiert auf X11R5.

Die Kommunikation zwischen X-Client und X-Server ist Netzwerk-transparent und verteilt, da Nachrichten im Rahmen des X-Window-Protokolls über ein TCP/IP- beziehungsweise DEC-Netz ausgetauscht werden können. Möchte ein X-Window-Client, beispielsweise eine OSF/Motif-Anwendung, einen Grafikdienst des X-Servers in Anspruch nehmen, verpackt er diesen Wunsch in eine nach dem X-Window-Protokoll definierte Protokoll-Dateneinheit. Der X-Server empfängt diese Protokoll-Dateneinheit über das Netz, analysiert deren Inhalt und führt den Grafikdienst, etwa das Zeichnen einer Linie, aus.

Dies eröffnet viele Möglichkeiten der Konfiguration. Sehr populär weil kostensparend, ist der Einsatz von PCs, die mit PC-NFS und Ethernet untereinander vernetzt werden. Eine andere Variante ist der Einsatz von X-Window-Terminals. Es handelt sich dabei um intelligente Terminals, auf deren jeweiliger Hardware ein X-Server auf das Eintreffen von X-Window-Protokoll-Dateneinheiten wartet und diese entsprechend interpretiert.

Die GUI-Anwendungen laufen beispielsweise auf einem zentralen Abteilungsrechner, etwa einem großzügig ausgebauten 486er PC. Entsprechend der für die jeweilige Anwendung notwendigen Grafikleistung oder auch geforderten lokalen Verarbeitungsleistung können

nun X-Window-Terminals oder PCs als Arbeitsplätze ausgewählt werden.

Selbstverständlich können X-Client und X-Server auch lokal auf derselben Maschine ablaufen. Der X-Server kapselt in diesem Fall die Hardware der lokal eingebauten Grafik-Karte hinter der Schnittstelle des X-Window-Protokolls, der Server ist ein gewöhnlicher Unix-Prozeß, mit dem über lokale Interprozeß-Kommunikation konferiert wird.

GUI-Anwendungen unter OSF/Motif leisten einen wesentlichen Beitrag für die Integration von heterogenen Rechnerwelten. Auf einem an ein TCP/IP- oder DEC-Netz gekoppelten DOS-PC unter Microsoft Windows kann als spezielle Windows-Anwendung ein X-Server laufen, der parallel zu den lokalen Windows-Anwendungen auch OSF/Motif-Anwendungen anzeigt. Eine Software-Emulation sorgt dabei für den fehlerfreien Ablauf.

Für den Benutzer ist die Rechnerwelt, in der die jeweilige GUI-Anwendung abläuft, nicht mehr sichtbar. Darüber hinaus ist "Cut & Paste" zwischen den GUI-Anwendungen weiterhin möglich. Vor diesem Hintergrund erwies sich die Entscheidung der OSF, die visuelle Gestaltung und Bedienbarkeit, das "Look & Feel", von OSF/Motif-Anwendungen kompatibel zu OS/2-Presentation-Manager und damit zu Windows 3 zu halten, als sehr weitsichtig.

OSF/Motif stellt für die Entwicklung von GUI-Anwendungen eine breite Palette vorgefertigter Interaktionselemente, so genannter Widgets, bereit. Der OSF/Motif-Anwendungsdesigner wählt zwischen Menüs, Druckknöpfen, Auswahllisten. Schiebereglern etc. Er kann diese innerhalb eines Fensters positionieren, wie es die Anwendung erfordert. Für die Anordnung gibt es spezielle Layoutelemente, die bei Größenveränderung des umgebenden Fensters die Fensterinhalte entsprechend vordefinierter Proportionen anpassen. Die GUI-Anwendung muß sich darum nicht mehr kümmern.

Das Erstellen von OSF/Motif-Programmen ist von der Konzeption her nicht besonders komplex. Die Schwierigkeit liegt jedoch im Design der Oberfläche. Der GUI-Anwendungsdesigner kann in mehreren Dimensionen variieren: in der Aufteilung der Applikation in Fenster, in der Auswahl von Interaktionselementen und in deren Anordnung zueinander.

Der Prozeß des GUI-Designs erfordert viel Erfahrung, denn durch die Verwendung von grafischen Benutzeroberflächen allein entstehen noch keine benutzerfreundlichen Programme. Der Prozeß erfordert insbesondere auch eine Methodik, die den notwendigen kreativen Freiraum läßt, ihm jedoch einen Rahmen gibt.

Die OSF hat zur Unterstützung des GUI-Design-Prozesses einen Style Guide definiert, der beschreibt, wie eine OSF/Motif-Anwendung aussehen soll. Er hilft bei der Auswahl und Anordnung von Interaktionselementen im jeweiligen Applikationskontext. Außerdem stellt er Maßgaben für die Aufteilung der Anwendung in Applikationsfenster auf. Leider kann der Style Guide die Erfahrung eines GUI Designers nicht ersetzen, sondern ihn nur bei seiner Entscheidungsfindung unterstützen.

Durch die Beachtung der Regeln des Style Guide wird ein wichtiges Ziel erreicht: die applikationsübergreifende Konsistenz grafischer Benutzeroberflächen. Der Benutzer kann die Erfahrungen, die er bei der Bedienung einer GUI-Anwendung gemacht hat, auf andere übertragen. Damit reduziert sich der Aufwand für die Einarbeitung in neue GUI-Anwendungen.

Fenster und Icons allein sind keine Verbesserung

Die Intuitivität der Bedienung einer GUI-Anwendung ist eine weitere wichtige Größe, die die Einarbeitung des Benutzers erleichtert. Diese Intuitivität - und damit kehren wir zu den einleitenden Gedanken zurück - steht und fällt mit der Anlehnung an die reale Welt. Aus diese realen Welt hat der Benutzer seine Erfahrungen gewonnen, und nur wenn es gelingt, aus diesem Erfahrungsschatz auch in der virtuellen Realität einer grafischen Benutzeroberfläche Nutzen zu ziehen, wird die Arbeit mit GUI-Anwendungen leichter und produktiver.

Für ein qualitativ hochwertiges GUI reicht das jedoch nicht aus. Es kann nicht das Ziel sein, das Drücken einer Funktionstaste in einer zeichenorientierten Benutzeroberfläche durch den Mausklick auf eine grafische Taste abzulösen, die mit 3D-Effekt der Realität angenähert ist. Hinter einer benutzerfreundlichen GUI-Anwendung steckt viel mehr.

Das Schlagwort lautet "Metapher". Es muß versucht werden, mittels bildhafter Vergleiche zur realen Welt Assoziationen beim Benutzer zu wecken. Dabei kann es nicht beim Einsatz von Icons bleiben. Scheren und Papierkörbe sind wirklich nett anzusehen, aber ob sie die Investition und den großen Aufwand bei der Implementierung von GUIs rechtfertigen, bleibt fraglich.

Vielmehr muß ein ganzheitliches Verständnis für die Funktionen einer Anwendung entwickelt werden. Betrachten wir beispielsweise ein Archivsystem auf Basis optischer Platten, mit der ganze Bibliotheken nur noch auf elektronischem Wege zugänglich sind. Für jedes Dokument werden Attribute wie Erscheinungsdatum, Autor, berührte Themengebiete etc. gespeichert.

Aufgrund relevanter Attribute werden von einem Sachbearbeiter Dokumente, die möglicherweise für den zu recherchierenden Themenbereich interessant sind, aus dem elektronischen Archiv geholt und angezeigt. Eine "ja-nein"-Entscheidung, ob ein Dokument interessant ist oder verworfen wird, kann in der Regel nicht sofort getroffen werden.

Hier beginnt die Anlehnung an die Realität: In einer Bibliothek stellt man sich einen Schreibtisch vor, auf dem man einen Stapel mit noch zu lesenden Dokumenten und Büchern hat. Man arbeitet den Stapel ab, er wird kleiner und kleiner. Dokumente, die möglicherweise interessant sind, kommen auf einem weiteren Stapel.

Auf diese Weise wird der Recherchierende in der Bibliothek seinen persönlichen Schreibtisch auf die ihm angenehme Weise ordnen. Er wird Stapel mit Dokumenten bilden, die jeweils einen für ihn interessanten Themenbereich repräsentieren. Er freut sich, wenn der Stapel mit zu lesenden Dokumenten kleiner wird und fühlt sich zur weiteren Arbeit motiviert.

Gelingt es, diesen Vorgang visuell auf einer grafischen Benutzeroberfläche abzubilden, wird deren leichte Bedienbarkeit und Intuitivität den Mehraufwand bei der Implementierung aufwiegen. Die Realisierung ist dabei nicht so schwierig und komplex, wenn die Basistechnologie stimmt.

Das Auflegen eines Dokuments auf einen Stapel wird beispielsweise durch "Drag-And-Drop"-Mechanismen implementiert, die in der OSF/Motif-Version 1.2 verwirklicht sind. Die Sinnbilder für Dokumente, um beim eingangs geschilderten Vergleich zu bleiben, sind das "Hand-Werkszeug", welches mit der Maus gegriffen, am Bildschirm verschoben und über dem entsprechenden Dokumentenstapel fallengelassen wird.

Die Kritiker von grafischen Benutzeroberflächen bemängeln oftmals, daß sich bei vielen Vorgängen solche Metaphern nur sehr schwer finden lassen. Im Bank- und Behördengeschäft

oder bei der Produktionsplanung seien die Abläufe zu schematisch, um vergleichende Bilder zur Realität zu finden.

Oftmals braucht es hierfür jedoch nur etwas Phantasie. Dies ist nun beileibe keine Kritik an den Entwicklern. Oftmals genügt es, mit den späteren Benutzern des Systems ein klärendes Gespräch zu führen, sich ihrer Wünsche anzunehmen und zu versuchen, diese zu verwirklichen beziehungsweise über geschickte DV-mäßige Umsetzungen nachzudenken.

Einbindung von Benutzern in den Entwicklungsprozeß, so lautet deshalb die Aufforderung an Entscheidungsträger und Entwickler.

Bei der Beurteilung, welche Anforderungen an ein Software-Produkt gestellt werden, ist der spätere Endanwender der eigentliche Experte.