Die geheime Revolution

01.09.1995

Das Ende der Betriebssysteme im herkoemmlichen Sinne ist eingelaeutet - auch wenn es niemand mehr hoeren mag. Techniken wie Objektorientierung und das Microkernel-Konzept haben bewirkt, dass das Betriebssystem wieder auf seine urspruengliche Rolle reduziert wurde, naemlich die Verbindung zwischen Hardware und Anwendung herzustellen. Ueber dem Kernsystem befindet sich - saeuberlich davon abgetrennt - eine Sammlung von Objektgruppen, Frameworks genannt, die von der Dateiverwaltung ueber die Druckersteuerung bis zur Multimedia-Benutzeroberflaeche eine Vielzahl von Funktionen enthalten. Diese Frameworks sind beliebig zu konfigurieren. Der Benutzer kann sie veraendern und zu neuen Arbeitsumgebungen zusammensetzen. Das ist keine Zukunftsvision, sondern spaetestens seit IBMs Auslieferung von "Common Point fuer AIX" Realitaet. Aehnliche Produkte von Apple und HP sind in Vorbereitung. Auch haben die Pioniere von Next mit ihrer Version einer derartigen Umgebung bereits bewiesen, dass sich mit diesem Ansatz unternehmenskritische Anwendungen erstellen lassen.

Warum, so fragt sich der Beobachter, posaunen dann die Anbieter dieser Technik ihre Errungenschaften nicht in die Welt hinaus? Warum setzen sie ihre potentielle Kundschaft kampflos der Marketing-Maschinerie von Bill Gates aus? Offensichtlich haben sie erkannt, dass professionelle Anwender nichts mehr fuerchten als die Probleme, die ueblicherweise mit einen Betriebssystem-Wechsel verbunden sind. Deshalb schmuggeln sie Common Point unter dem Deckmantel der Betriebssysteme AIX, OS/2, HP-UX oder MacOS in die Unternehmen. Der Anwender, und auch das ist eine laengst ueberfaellige Revolution, soll nicht mehr wissen muessen, welche Technik seine Anwendungen am Laufen haelt.

Doch so klug die Bescheidenheit der Hersteller in bezug auf ihre Stammklientel sein mag, so fatal wirkt sie angesichts der Windows- 95-Inszenierung von Microsoft. Damit ist es Bill Gates gelungen, das Thema Betriebssysteme ueber Gebuehr ins Zentrum des Interesses selbst ueberregionaler Tageszeitungen zu ruecken. Es steht zu befuerchten, dass es ihm so gelingt, die - bei Home-Usern durchaus verstaendliche - Euphorie fuer die vergleichsweise konventionellen Microsoft-Betriebssysteme in den Markt fuer Server-Systeme zu tragen, wo eigentlich andere Gesetze gelten sollten.