Die Bruchlandung erfolgt allenfalls im Sandkasten Multimediales Lernen wird sich in den Unternehmen etablieren

10.03.1995

Von Winfried Gertz*

Multimedia ist gesellschaftsfaehig geworden. Laengst haben sich kollektive Aengste vor einem umfassenden Cyber-Wahn gelegt und sind einer sachorientierten Betrachtungsweise gewichen. Zwar nimmt die Zahl der Computer-Kids zu, die in Bussen und U-Bahnen mit piepsenden Gameboys auf den Knien in Richtung Pubertaet fahren. Ins virtuelle Xanadu der Segas und Nintendos muss die Reise aber nicht gehen.

Das ehemalige High-Tech-Spielzeug Multimedia durchkreuzt allmaehlich selbst die Vorbehalte der hartnaeckigsten Technologiefeinde und nistet sich sogar in den Top-Etagen ein.

Dank der weitverbreiteten Rechenknechte, die sich inzwischen munter auf den Konsumermaerkten tummeln, ist der Karriereweg des neuen Sinnenzaubers vorgezeichnet. Wie der Branchennovize Telekommunikation verspricht Multimedia, Hoffnungstraeger einer von Sinnkrisen geschuettelten Branche, noch in diesem Jahrzehnt Umsaetze in Milliardenhoehe.

Zweifellos ist die treibende Kraft die Unterhaltungselektronik, die mit "Bits and Fun" den professionellen Anwendungsbereichen in den Sattel hilft. Gleichzeitig erblicken neue Segmente wie Edutainment oder Infotainment das flimmernde Monitorlicht der Welt.

Dass dabei die Spieleerfinder aus Fernost an der Schaltstelle sitzen und laengst den technologischen Kurs vorgeben, ist den Spezialisten bewusst. Deutsche DV-Entscheider, die im Rahmen einer Novell-Studie darueber befragt wurden, welche Hersteller ihrer Meinung nach den Markt im Jahr 2000 dominieren werden, wiesen Nintendo bereits den dritten Platz zu.

Diese Einschaetzung wird zunehmend auch in den Top-Etagen geteilt. Denn nach all den Jahren der von den Spezialisten geforderten Investitionen in stets neue und schnellere Systeme, die die vom Management erwarteten Fortschritte nicht gebracht haben, wird die Datenverarbeitung zur Chefsache und Information zum strategischen Faktor Nummer eins erklaert. Multimedia am Arbeitsplatz werde - sofern zweckmaessig eingesetzt - endgueltig die Benutzerfreundlichkeit ermoeglichen, die von Anbietern seit den 80er Jahren versprochen wurde.

Multimedia als Buendel aus Text, Grafik, Audio, Video und digitalen Vorlagen soll, so die Hoffnung, die Buerowelt veraendern. In den Zukunftsentwuerfen nimmt es eine entscheidende Position ein. Noch versperrt allerdings eine zu technologisch gefuehrte Diskussion den Blick auf dessen gewaltige Nutzenpotentiale. Marktbeobachter wie Diebold oder Arthur D. Little rechnen fest damit, dass die technische Funktionalitaet von Multimedia zur Standardausstattung von objektorientierten Bedienoberflaechen gehoeren wird.

"Kuenftig braucht der Mitarbeiter nicht mehr darueber nachzudenken, ob er die Textverarbeitung oder die Tabellenkalkulation aufrufen muss, um bestimmte Arbeitsschritte zu erledigen. Diese werden ereignisgesteuert oder innerhalb eines Vorgangs aufgerufen", skizziert Lothar Leger, Groupware- und Multimedia-Experte bei Diebold, die kuenftige Entwicklung. Ebensowenig werde sich der Anwender den Kopf darueber zerbrechen, wie er einen oder mehrere Gespraechspartner erreichen oder einem Kollegen an einem anderen Ort zum Beispiel die neuesten Produkte zeigen kann: Die ersten Arbeitsplatz-Computer mit integrierter Kamera sind bereits auf dem Markt. Spezielle Kommunikationsmodule, bei denen man vorgibt, ob der Ansprechpartner per Telefon, Fax oder Electronic Mail angewaehlt werden soll, sind keine Seltenheit mehr.

Multimedia-Komponenten werden zu Servicefunktionen fuer Themenkomplexe wie Interactive Selling, Computer-based Conferencing oder Computer-based Training (CBT). Verstaendlich deshalb die Euphorie unter den Hardware- und Peripherieanbietern. In Zukunft wird man kaum noch von einem "Personal Computer" sprechen koennen, zumal die interpersonellen Aspekte deutlich ueberwiegen.

Noch ist dies alles Zukunftsmusik. Denn technische Machbarkeit und Verfuegbarkeit allein ueberzeugen in Unternehmen wenig. Multimedia muss sich seine Sporen erst verdienen, zumal es gemeinhin allenfalls auf Messen oder in Form einer auf CD-ROM gespeicherten Autodemo zu erleben ist. Erst die Integration in betriebliche Veraenderungsprozesse, in die Menschen nicht nur involviert sind, sondern diese selbstbestimmt unterstuetzen, kommt das Nutzen- und Innovationspotential von Multimedia zum Tragen.

Werner Knetsch, bei Arthur D. Little weltweit verantwortlich fuer Beratungsdienste in den Bereichen Informationstechnik und Telekommunikation, sieht goldene Zeiten fuer den Einsatz von Multimedia insbesondere im Tourismus, bei Banken und Versicherungen, in der Automobilindustrie sowie im oeffentlichen Sektor und der Medizin voraus. Auf dem Weg dorthin seien allerdings noch hohe Infrastrukturkosten zu bewaeltigen und der bislang fehlende Wettbewerb in den Netzen zu provozieren.

Der geniale Tutor an der Strippe

Nicht unwesentlich beteiligt am Siegeszug von Multimedia ist Computer-based Training. Das Konzept versucht alle Sinne des Lernenden anzusprechen. Wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge fuehrt die Kombination aus Hoeren, Sehen, Sprechen und Handeln dazu, dass etwa 90 Prozent der angebotenen Informationen im Gedaechtnis haften bleiben. Gerade ein Drittel bleibt haengen, wenn nur die Ohren gespitzt werden: Der PC mausert sich zum idealen Bildungsinstrument.

Ende der 70er Jahre musste das Ueben am Terminal mit Mainframe- Anbindung noch ohne grafische Moeglichkeiten auskommen. Der Tutor an der Strippe, der sich in heute verfuegbaren Programmen auf Knopfdruck einschaltet, war damals noch Utopie. Erst Anfang der 90er Jahre eroberten interaktive Lernprogramme den PC. Selbst die unmittelbare Lernkontrolle am Bildschirm ist heute moeglich.

Welche Bedeutung dem computergestuetzten Training zugemessen wird, zeigt der rapide wachsende Anteil entsprechender Anbieter auf einschlaegigen Bildungsmessen. Betriebliche Aus- und Weiterbildung sichere die Position im Wettbewerb, darin ist man sich einig. Qualifikation lautet das Zauberwort, das die Deutsche Messe AG bereits zu einem gleichnamigen Branchentreff - allerdings mit bescheidenem Erfolg - im Herbst 1994 ermutigte.

Qualifikation geht jedoch weit ueber die fraglos wichtige Weiterbildung von Mitarbeitern hinaus: Unternehmen muessen umdenken, ihre Geschaeftsprozesse korrigieren, Unternehmensziele und Informationstechnik aufeinander abstimmen. Neue Produkte auf alte Strukturen aufzusetzen und damit Unzulaenglichkeit zu digitalisieren kennzeichnet hingegen die gaengige Praxis.

Investieren in die Zukunft wird dagegen, wer sich Information und Wissen sowie die Qualifizierung zu ihrem effizienten Einsatz aufs Banner schreibt. Nicht zuletzt deshalb verschrieb der neue SNI-Boss Gerhard Schulmeyer allen Angestellten eine zum Teil CBT-gestuetzte Bildungsaktion, deren Kosten nicht von den Abteilungen, sondern vom Headquarter getragen werden.

Nach wie vor melden Controller bei traditionellen Weiterbildungsaktivitaeten ihre Bedenken an, zumal den Betrieben durch die mehrtaegige Abwesenheit von Mitarbeitern hohe Kosten entstehen. Die deutsche Wirtschaft investiert jaehrlich rund 80 Milliarden Mark in die betriebliche Aus- und Weiterbildung. CBT koennte hier zum grossen Gewinner werden. Die Basler Prognos ermittelte juengst, dass der betrieblichen Aus- und Weiterbildung im Jahr 2000 mehr als eine Million Multimedia-PCs zur Verfuegung stehen werden. Etwa 150 Millionen Mark Marktpotential entfallen nach Schaetzungen der Basler Experten allein auf CBT-Software.

Allerdings fehlt es noch an grundsaetzlichen Informationen und vor allem an Orientierung im CBT-Angebots-Dschungel. Beispielhaft ist deshalb die Initiative der Muenchner Industrie- und Handelskammer, die diesen Bedarf erkannt hat. Mit einer Anschubfinanzierung von knapp einer Million Mark aus eigenem Haushalt sowie Mitteln des Bayerischen Ministeriums fuer Wirtschaft und Verkehr hat man unlaengst mit dem Aufbau einer Informations- und Beratungsstelle begonnen.

Weiterbildungskonzepte fuer den Mittelstand

"Einiges liegt im argen", so Heidi Danzer, Projektleiterin des International Learning Technology Center Munich (ILTEC), wenn es um massgeschneiderte Weiterbildungskonzepte fuer den Mittelstand geht. Kommt noch Multimedia hinzu, seien viele Betriebe schlichtweg ueberfordert. Umfassende Beratung, Schulung sowie die Entwicklung von Lernkonzepten bieten die Muenchner ihrer Klientel an. Im Vordergrund steht die Bedarfsorientierung, die das bis dato praktizierte "Nice to have" abloesen soll.

"Das ILTEC ist eine neutrale Institution zwischen Anbieter und Anwender", beschreibt Danzer die Philosophie der Einrichtung, die sich vor allem auf die Vermittlungskluft im Markt konzentriert. Zielgruppenorientierte Kommunikation war noch nie die Staerke einer Branche, die sich bisher kaum um den Absatz ihrer Produkte kuemmern musste. Wo kleinere und mittlere Betriebe der Schuh drueckt, interessierte die Key-Player nur am Rande.

"Als man von unserem Projekt hoerte, liessen Offerten zur Kooperation nicht lange auf sich warten", resuemiert Danzer ihre Erfahrungen. IBM, SNI und Microsoft waren denn auch die ersten, die das imagefoerdernde Projekt mit Sachleistungen unterstuetzten. Mit der Einrichtung eines Test- und Diagnosezentrums konnte das ILTEC deshalb frueh beginnen.

Dass sich beratungssuchende Firmen auf einen hohen Qualitaetsstandard verlassen koennen, ist ebenso selbstverstaendlich wie die Unabhaengigkeit gegenueber Herstellern. "Sind wir der Ueberzeugung, dass ein Trainingsprogramm den anspruchsvollen Kriterienkatalog nicht erfuellt, hat es keine Chance, weiterempfohlen zu werden", umreisst die Multimedia-Expertin das kuenftige Prozedere. Helmut Paulik, Geschaeftsfuehrer des Bereichs Weiterbildung der IHK Muenchen und Oberbayern, legt den Finger in die Wunde:

"Kaum zu glauben, wie wenig Anbieter ueber ihre Klientel wissen."

Ueber Qualitaet und Fortgang des Muenchner Projekts wacht ein Beirat aus Anbietern, CBT-Anwendern und wissenschaftlichen Experten, zu denen beispielsweise auch der Muenchner Lerntheoretiker Heinz Mandl gehoert. Mehr schlecht als recht digitalisierte Buchinhalte, sogenannte Blaetterprogramme, haben keine Chance, die Huerde zu nehmen. Empfohlen werden Programme, in denen sich der Lernende frei bewegen, die Lernzeit sowie das Tempo selbst bestimmen und Kursabschnitte beliebig oft wiederholen kann.

Spielerisches Lernen ist sehr beliebt

Auf der Weiterbildungsmesse Ende Januar in Muenchen wurde dann Tacheles geredet. Nur qualitativ hochwertige CBT-Angebote konnten dem kritischen Blick der ILTEC-Pruefer standhalten.

Nicht durch das Sieb der Juroren fiel zum Beispiel ein Tastaturschreibkurs der Firma Tulpe aus Vierkirchen.

Weitere Pluspunkte konnten Programme zur Selbstorganisation am Arbeitsplatz (Allianz) sowie zur Kunden- und Investmentberatung (Bayerische Vereinsbank) verbuchen.

Absoluter Publikumsmagnet jedoch war das betriebswirtschaftliche Planungsspiel "Cabs" von Virtual Management, Duesseldorf. Spielerisch lassen sich dort Management-Probleme des Vorstandsvorsitzenden einer internationalen Automobil-AG nachstellen und Entscheidungen mit prompt folgenden Kennzahlen in immer neuen Konstellationen realitaetsnah durchexerzieren.

Auf Knopfdruck zeigt das Windows-Programm, das sowohl in Uni- Seminaren als auch in Top-Etagen fuer Furore sorgt, strategische Entwicklungen in Grafiken und Tabellen. Und falls der Chef einmal den lieben Gott einen guten Mann sein lassen will, uebernimmt das virtuelle Management das operative Tagesgeschaeft. Zur Bruchlandung im Sandkasten muss es nicht kommen - per Mausklick wird der Unternehmensberater ins Haus bestellt.