Die häufigsten Vorurteile (Teil 1)

Das NC-Konzept sorgt für Mißverständisse

12.09.1997

Als IBM-Chef Lou Gerstner in seiner Rede auf der Comdex 95 das Konzept eines schlanken Clients vorstellte, schlug ihm der Vorwurf entgegen, er wolle das Rad der Geschichte zurückdrehen und PCs gegen dumme Terminals ersetzen. Diese falsche Gleichsetzung von NCs und Terminals hält sich seitdem hartnäckig.

Ein dummes Terminal definiert sich als ein System, das ausschließlich den Output eines Hostsystems präsentiert. Es findet keinerlei Client-seitige Programmausführung statt, die über die Darstellung von Text - beziehungsweise bei X-Terminals - von Grafik hinausgeht. Die gesamte Rechenleistung erbringt der Host. NCs hingegen verfügen über leistungsfähige Prozessoren und führen wie PCs Java-Programme lokal aus. Diese Arbeitsteilung kommt sowohl den Servern als auch dem Netzwerk zugute. Durch die lokale Programmausführung halten sich die Leistungsanforderungen an Server in Grenzen, außerdem produzieren sie weniger Netzlast als grafische Terminals. Im Unterschied zu PCs nutzen sie die Vorteile eines Netzwerks stärker. Anwendungen und Daten liegen auf einem oder mehreren Servern, die Administration der Desktops erfolgt zentral. NCs können daher als Versuch gesehen werden, die Vorteile der Großrechner-DV mit jenen von Client-Server- Konfigurationen zu kombinieren. Erstere steuert die kostengünstigere zentrale Verwaltung bei, die zweite sorgt für die Ausstattung der Clients mit lokaler Intelligenz.

Dies gilt übrigens nicht für Windows-Terminals, die Microsoft als Antwort auf NCs ankündigte: Sie machen ihrem Namen alle Ehre und beschränken sich auf die grafische Darstellung von Windows-Anwendungen. Die volle Arbeitslast - auch den Ablauf der Programme - übernehmen dabei NT-Server.

Da in der Öffentlichkeit der NC immer wieder als dummes Terminal apostrophiert wird, befürchten Anwender, daß sie ihre durch PCs gewonnene Freiheiten verlieren und wieder der Gängelei der DV-Abteilung ausgesetzt sind. PC-Befürworter kolportierten als NC-Horrorszenario, daß Anwender nicht mal mehr ein individuelles Hintergrundbild einstellen können.

Zu den weithin beanspruchten PC-Freiheiten gehört allerdings auch die Möglichkeit, auf dem "persönlichen Computer" Programme und Spiele nach eigenem Gutdünken installieren zu dürfen. Mit den Folgen dieser Aktivitäten ist der User-Support vieler Firmen regelmäßig beschäftigt.

Die Beschneidung dieser Freiheiten ist jedoch weniger eine technische Frage, als denn eine der Firmenphilosophie. Restriktive Maßnahmen kann das Management zukünftig nämlich auch über PC-User verhängen.

Als Reaktion auf eine mögliche NC-Offensive der Konkurrenz hat Microsoft das "Zero Administration Kit" (ZAK) auf den Markt gebracht, das Nutzer an die kurze Leine nehmen und die Verwaltungskosten reduzieren soll. Mit den darin enthaltenen Tools können Windows NT und demnächst auch 95 sogar für den sogenannten "Task Modus" konfiguriert werden (der sich von geübten Usern aber oft umgehen läßt). Anwender dürfen dann nur ein einziges, voreingestelltes Programm nutzen.

Umgekehrt bedeutet ein NC nicht unbedingt den Verlust einer persönlichen Arbeitsumgebung - im Gegenteil. Diese wird im Netz gespeichert und ist nicht an einen bestimmten Client-Rechner gebunden. Der individuelle Desktop folgt dem NC-Nutzer auf jeden Arbeitsplatz, ohne daß dafür igendein Konfigurationsaufwand nötig ist. Dies ist ein großer Vorteil bei firmeninternen Arbeitsplatzwechseln und kommt auch mobilen Anwendern entgegen. Der eigene Webtop steht nämlich potentiell weltweit zur Verfügung, das Eintippen einer bestimmten Web-Adresse reicht.

Neben der weitverbreiteten Fehleinschätzung von NCs als Terminals ist merkwürdigerweise auch eine gegenteilige Interpretation gängig: Network Computer gelten demnach als PCs ohne Festplatte und Diskettenlaufwerk. Abgesehen davon, daß die NC-Spezifikation (siehe Seite 38) lokale Massenspeicher durchaus zuläßt, sind diese Hardwarekriterien nicht wesentlich für das Network Computing. Dieses ist in erster Linie durch eine Software-Architektur charakterisiert, die auf offenen Internet-Standards beruht. Deshalb gibt es kaum Vorschriften für die notwendige Hardware-Ausstattung von NCs, beispielsweise für den erforderlichen Typ des Prozessors. Außerdem steht es jedem Hersteller frei, ein Betriebssystem seiner Wahl zu nutzen. Dies ist auch der Grund, warum höchst unterschiedliche Geräte als NCs durchgehen. Neben dem als PC-Konkurrent gehandelten Network Computer (den Oracle mittlerweile als Trademark regisitrieren ließ) fallen darunter auch intelligente Telefone, PDAs oder Set-Top-Boxen. Außerdem spricht nichts dagegen, auch PCs nach dem Muster von NCs zu nutzen: entweder durch den Einsatz eines eigenen Betriebssystems wie dem geplanten "Java OS" von Sun oder durch die Nutzung eines Java-fähigen Browsers als bevorzugte Arbeitsumgebung ("Webtop").

Das heißt freilich noch lange nicht, daß deswegen ein Net-PC auch ein Network Computer ist. Das Marktforschungsinstitut IDC bezeichnete letzteren als Marketing-Attacke von Microsoft und Intel, die Verwirrung im Markt stiften sollte. Beim Net-PC handelt es sich um einen Wintel-Rechner, dessen Spezifikation zum Großteil durch die Standardkonfiguration handelsüblicher PCs erfüllt wird. Vor allem nutzt er aber die gleiche Software-Architektur wie herkömmliche Windows-PCs: lokale Installation und Konfiguration von Betriebssystem und plattformspezifischen Anwendungen. Auch wenn die Programme statt dessen von einem File-Server geladen werden, wird daraus kein Network-Computing. Der Programmstart von Laufwerk L: anstatt von C: ändert prinzipiell nichts, der Net-PC bleibt ein fetter Client. Der Pferdefuß dieser Architektur ist die mangelhafte Trennung von System und Applikationen. Sie treibt die Kosten für die PC-Administration in die Höhe.

Im Zusammenhang mit Network Computern hat sich die Rede vom "schlanken Client" eingebürgert. Sie ist verantwortlich für das Vorurteil, NCs seien leistungsschwache Rechner. Die Charakterisierung als schlanke Endgeräte verdanken sie aber der im Internet üblichen Software-Architektur. Sie ist drei- oder mehrstufig und verlagert die Applikationslogik in das Netz. Nicht nur die geringen Bandbreiten des Internet sprechen dafür: Web-Angebote wären andernfalls nur zugänglich, wenn der Anwender ein bestimmtes Client-Programm auf seinem Rechner installiert hat. Statt dessen dient ein Browser als universelles Front-end, der über Standardprotokolle HTML-Seiten, Scripts, Multimedia-Daten und Java-Anwendungen herunterlädt. Der Cache-Mechanismus des Web-Front-ends sorgt dafür, daß bei Programm-Updates die neue Version eines Applets automatisch übertragen wird.

Aufgrund dieser Software-Architektur lassen sich Clients besser skalieren, auch für Geräte mit geringerer Leistungsfähigkeit als jener von Desktop-Rechnern gibt es Einsatzmöglichkeiten. Daß NCs bei Bedarf mit entsprechender Rechenleistung aufwarten können, belegt beispielsweise Digitals Prozessor "Strong ARM". In Tests übertrafen NCs mit dieser CPU Intels Pentium Pro bei der Ausführungsgeschwindigkeit von Java-Anwendungen.

Wintel-Advokaten, allen voran Bill Gates, werfen dem NC immer wieder vor, er sei nicht kompatibel. Der Microsoft-Boß meinte damit wohl "nicht kompatibel mit Windows". Leider vergaß er zu erwähnen, welche Version seines Betriebssystems er meinte. Denn das für Windows-Terminals vorgesehene Windows CE kann keine Programme ausführen, die für Windows 3.1, 95 oder NT entwickelt wurden. Vor allem aber beruht dieser Vorwurf auf einem Mißverständnis. Während man PCs plakativ als geschrumpfte Mainframes bezeichnen könnte, drängt sich bei NCs die Analogie zu Consumer-Geräten auf. Anwender von NCs können die Frage "Welchen Prozessor und welches Betriebssystem nutzt Ihr Rechner?" getrost mit "Das weiß ich nicht, und es ist mir auch egal" beantworten. Darin gleicht der NC beispielsweise einem Videorecoder. Niemand kauft einen solchen wegen des dort eingesetzten Betriebssystems oder eines bestimmten Netzteils - er muß nur gängige Video-Standards wie VHS beherrschen und die gewünschte Bildqualität bieten. Entsprechend muß ein NC sein natives Anwendungsformat, nämlich Java-Bytecode, ausführen können, und alle im "Reference Profile" definierten Protokolle unterstützen.

Trotzdem müssen NC-Anwender keineswegs ihre Windows-Applikationen wegwerfen. NCs können diese über Multiuser-Erweiterungen von Windows NT nutzen. Allerdings dienen sie dann als Windows-Terminals mit den damit verbundenen Nachteilen: hohe Anforderungen an den Applikations-Server und das Netzwerk. Bei der Umsetzung der Windows-Kompatibliltät beschreiten die NC-Hersteller unterschiedliche Wege. IBMs Netstation beispielsweise unterstützt das ICA-Protokoll von Citrix direkt, während andere mit Hilfe von "Insignia Ntrigue" oder "Tarantella" Zugriff auf Windows-Programme bieten. Die Widerlegung von NC-Mythen wird in der nächsten Ausgabe fortgesetzt.

NC-Mythen

- NCs sind dumme Terminals.- NCs rauben Benutzern ihre Autonomie.- NCs sind PCs mit versiegeltem Gehäuse und fehlender Festplatte.- Net-PCs sind auch NCs.- Schlanke Clients sind leistungsschwach.- NCs sind nicht kompatibel.- NC-Anwender müssen ihre Windows-Anwendungen wegwerfen.